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Biel

«Taucht die Gröhler in den Brunnentrog»

Die Berichterstattung im «Bieler Tagblatt» vom August 1918 war geprägt von Nachrichten aus dem Stadtalltag. Viele davon sind in einem für heute ungewohnt erzieherischen Tonfall formuliert – und rufen teils gar zu Gewalt auf.

Autor «m.» fordert die Bürger in seinem Bericht vom August 1918 dazu auf, Lausbuben «recht vaterländisch» durchzuprügeln. BT Archiv
  • Dossier

von Jana Tálos

Es ist ein bewegter Sommer 1918 in Biel. Während in den Nachbarländern noch der Erste Weltkrieg tobt und laufend Meldungen von Kampfschauplätzen eintreffen, machen sich in der Stadt die ersten Anzeichen des Landesstreiks bemerkbar. Die Arbeiterschaft fordert und droht, im Juli kommt es im Rahmen des sogenannten Jungburschenkrawalls auf dem Burgplatz zu blutigen Ausschreitungen. Gleichzeitig häufen sich im August die Grippefälle. Die Epidemie, die sich später als Spanische Grippe entpuppt, legt Poststellen und ganze Betriebe lahm.

Nebst solcher Berichterstattung ist die Zeitung gefüllt mit Nachrichten über den lokalen Alltag. Unter dem Kürzel «m.» – ob es sich dabei um einen Autor oder eine andere Abkürzung für «mitgeteilt», heute «mt», handelt, geht daraus nicht hervor – werden die Bürger der Stadt Biel und Umgebung über alles Mögliche informiert, was in der Stadt vor sich geht: Unfälle, kranke Bäume, Spendensammlungen, Neubauten, Strassensperrungen, aber auch über kriminelle Machenschaften. Nicht selten verfällt der Autor der Nachricht dabei in einen schulmeisterlichen Ton und gibt Anweisungen, wie man sich als rechter Bürger zu verhalten habe.

Das Argument ist dabei immer dasselbe: Recht und Verordnung geben vor, wie man zu leben hat. Dass er sich mit seinen Tipps manchmal selbst über diese hinwegsetzt, scheint er dabei jedoch grosszügig auszublenden.

 

Aufruf zu Gewalt
So etwa in einer Meldung vom 7. August 1918. Darin ist zu lesen, dass es immer wieder zu Klagen über Vandalen komme, «besonders von der Bergseite her». Dass Vandalismus verwerflich ist, dem dürften die meisten Menschen zustimmen. «m.» aber lässt seiner Wut darüber etwas gar freien Lauf: «Neben zahlreichen Bespielen von Feldfrevel (...) kommen Müsterchen von einer so hirnlosen Zerstörungssucht vor, dass man eigentlich nicht begreifen kann, wie so etwas möglich ist.»

Zuletzt ruft «m.» in der Meldung die Bürger auch noch zu Gewalt auf: «Es ist richtige Lausbubenarbeit, die den entsprechenden Lohn verdient. Dieser besteht darin, dass handfeste Bürger die Urheber kurzerhand recht vaterländisch durchprügeln. Dies wird die Rohlinge am ehesten zur Vernunft und zur Einsicht bringen, dass sie nicht alles tun dürfen, was ihnen einfällt.»

Für die zeitgleich beklagten Lärmbelästigungen am Zentralplatz empfiehlt er Anwohnern ein ähnliches Vorgehen: «Auch hier dürfte das gleiche Verfahren, allenfalls mit Ergänzung durch ein Eintauchen der Gröhler in den Brunnentrog rasch Abhülfe schaffen.»

Nebst diesen Aufrufen schreckt er auch nicht davor zurück, die Bevölkerung zurechtzuweisen. So etwa, als bekannt wird, dass in manchen Teilen der Stadt trotz Notstand wieder weisses Brot verkauft wird: «Es ruft diese Botschaft sofort dem Wunsche, auch von diesem längst schon entbehrten Brote zu essen und man sucht sich solches zu verschaffen und meint dann wunder, was man Apartes habe, schimpft dabei aber zugleich auf unser Kriegsbrot. Wie töricht!» Man solle froh sein, ein solches Brot zu haben, dass von den Russlandschweizern hergebracht worden sei. «Dass weisses Brot in Verkauf kommt, rührt ganz einfach davon her, dass amerikanisches Mehl verbacken wird. Es ist als zu irgendwelcher Aufregung nicht der mindeste Anlass vorhanden.»

 

Ethisch fragwürdig
Vandalenakte, die Aufregung wegen Weissbrot – «m.» tut zu allem und jedem seine Meinung kund. Selbst bei Meldungen über Unfälle im Strassenverkehr ärgert er sich ungehemmt über Fahrer von Pferdegespannen, die «mit einer Sorglosigkeit durch belebte Strassen kutschieren, als verstände es sich ganz von selbst, dass ihnen jedermann ausweicht» oder über Velofahrer, die «absolut links statt rechts fahren», und mit anderen kollidieren, obwohl doch jedem klar sei, dass man rechts ausweiche und links vorfahre.

Aus heutiger Sicht wäre eine solch kommentierende Berichterstattung kaum mehr vorstellbar. Nicht nur, dass sich die Leserschaft eine solche Zurechtweisung wohl nicht mehr gefallen lassen würde – auch medienethisch ist diese heute nicht mehr vertretbar. Sie widerspricht den Richtlinien der 1972 verabschiedeten Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten, deren Einhaltung vom fünf Jahre später ins Leben gerufenen Schweizer Presserat überwacht wird (siehe Zweittext). Dort wird den Journalisten nahegelegt, Fakten und Kommentar strikt von einander zu trennen und als solche der Leserschaft kenntlich zu machen. In der Berichterstattung von «m.» 1918 verschmelzen Kommentar und Sachlage jedoch.

Was das vaterländliche Durchprügeln und das Tauchen in den Brunnentrog angeht, könnte «m.»  sogar rechtlich belangt werden. «Bei der betreffenden Berichterstattung könnte Artikel 259 des Strafgesetzbuches  tangiert sein», sagt Manuel Bertschi, Medienjurist beim Bundesamt für Kommunikation. In diesem steht: «Wer öffentlich zu einem Vergehen mit Gewalttätigkeit gegen Menschen oder Sachen auffordert, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.» Zur Erfüllung des Tatbestands muss die Äusserung allerdings eine gewisse Eindringlichkeit aufweisen. «Ob dies vorliegend der Fall ist, scheint zumindest fraglich», so Bertschi.

So oder so: Den Autor von 1918 dürfte dies wenig gekümmert haben. Das Strafgesetzbuch wurde erst 1938 eingeführt. Bis dahin war den Medien abgesehen von der Zensur in der Kriegsberichterstattung fast alles erlaubt. Und «m.» konnte das voll auskosten.

 

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Schweizer Journalistenkodex
1972 hat der Verband der Schweizer Journalisten (VSJ) den Schweizer Journalistenkodex (auch Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten) verabschiedet.  «Journalistinnen und Journalisten, welche dieser Bezeichnung würdig sind, halten es für ihre Pflicht, die Grundsätze dieser Erklärung getreulich zu befolgen», steht in der Präambel.

Die Erklärung enthält 11 Pflichten sowie sieben Rechte, an die sich Schweizer Journalisten zu halten haben. Die Einhaltung des Kodexes wird durch den 1977 ins Leben gerufenen Presserat überwacht. Er dient sowohl Publikum als auch Medienschaffenden als Beschwerdeinstanz. Der Presserat nimmt auf Beschwerde hin oder von sich aus Stellung. Wird der Kodex verletzt, kann der Rat zwar keine rechtlich gültigenSanktionen aussprechen. Die betroffenen Medien sind jedoch dazu angehalten, zumindest eine Zusammenfassung der Stellungnahme des Presserats zu veröffentlichen. Auf diese Weise soll sich die Branche selbst regulieren. jat

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