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Biel

Wehe, wenn der Knacks zur Unzeit kommt

Die rund 30 Psychiater in Biel weigern sich, Notfalldienst zu leisten und kaufen sich frei. Dies, obwohl der Regierungsrat das Fehlen einer Notfallorganisation seit mehr als zwei Jahren bemängelt. Jetzt nimmt der Druck zu.

Max Spring

Philippe Müller

Eva Meier * steigen die Tränen in die Augen, wenn sie daran zurückdenkt, was sie und ihr Mann Hans * in den letzten Monaten erlebt haben. «Das wünsche ich keiner Familie», sagt sie. Sie legt die Hände in den Schoss, bevor sie eine Geschichte zu erzählen beginnt, die in Biel spielt, von Psychiatern handelt, die lieber eine teure Ersatzabgabe bezahlen, anstatt Notfalldienst zu leisten, von überfordertem Krankenhauspersonal und von Polizisten, denen die Hände gebunden sind.

Angefangen hat alles damit, dass die Tochter des Ehepaars Meier eines Abends einen Rückfall hatte. «Sie ist seit längerem psychisch krank. Wir wollten, dass an jenem Abend ein Psychiater bei ihr zu Hause vorbeigeht und nach ihr schaut. Das war leider nicht möglich.» Für Eva Meier hat das einen direkten Zusammenhang damit, dass in der Stadt Biel, wo ihre Tochter wohnt, keiner der rund dreissig Psychiater Notfalldienst leistet. Um 17.30 Uhr am Abend schliessen die Praxen, auch am Wochenende existiert keine psychiatrische Notfallversorgung. Die Psychiater bezahlen jeweils 5500 Franken pro Jahr, um sich von der Notfallpflicht entbinden zu lassen. Das ist gemäss kantonalem Gesundheitsgesetz zwar legal, es muss für die Entbindung von der Notfalldienstpflicht jedoch ein wichtiger Grund vorliegen. Eva Meier fragt sich: «Wo bleibt da die Berufsethik?»

Von Pontius  zu Pilatus
Am Beispiel ihrer Tochter schildert die ältere Frau, auf welche Odyssee man sich begibt, wenn sich in Biel ausserhalb der Bürozeiten ein psychiatrischer Notfall ereignet: Weil kein Psychiater erreichbar war, hat das Ehepaar Meier am Abend die normale Notfallstation des Spitalzentrums Biel angerufen, obwohl es dort kein psychiatrisches Angebot gibt. Weil die Tochter nicht vorbeigehen wollte, konnte das Spital nicht helfen. Das diensthabende Personal riet den Meiers, die Polizei zu rufen. Gesagt, getan. Die Polizei traf kurz darauf in der Wohnung der Tochter ein, musste jedoch unverrichteter Dinge wieder abziehen, da sich die Frau nicht in eine psychiatrische Klinik begleiten lassen wollte und auch nicht aggressiv war.

Dieser Ablauf hat sich laut Eva Meier in den darauf folgenden Wochen noch mehrmals wiederholt. Dass ihre Tochter über längere Zeit nicht psychiatrisch behandelt werden konnte, liegt jedoch nur zu einem Teil an der fehlen Notfallversorgung in Biel. Denn die Tochter weigerte sich auch tagsüber, sich in eine der zahlreichen Praxen zu begeben.

Kesb als letztes  Mittel
Als sich der Zustand der Tochter auch nach vier Monaten noch nicht gebessert hatte, griffen Eva und Hans Meier in ihrer Verzweiflung zur letzten Möglichkeit: Sie riefen die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) an und machten eine Gefährdungsmeldung für ihre Tochter. Die Kesb erkannte den Handlungsbedarf rasch und erteilte der Polizei den Auftrag, die Tochter abzuholen und mangels stationären psychiatrischen Angebots in Biel in die UPD in Bern zu bringen. «Dort wurde ihr endlich geholfen», sagt Eva Meier.

Das Negative: Eine solche fürsorgerische Unterbringung gegen den Willen einer erwachsenen Person kann die Familienidylle massiv trüben. Das war auch bei Meiers der Fall, ins Detail gehen möchten sie jedoch nicht.

Was macht die  Politik?
Das Notfallvakuum in der Psychiatrie in der Stadt Biel ist bereits seit mehr als zwei Jahren ein Politikum. Im Januar 2015 hat Grossrat Hasim Sancar (Grüne, Bern) in einem Vorstoss auf die Problematik aufmerksam gemacht und den Regierungsrat gefragt, was er dagegen zu tun gedenke. Die Antwort fiel sehr deutlich aus: «Das Kantonsarztamt hat den für die Notfalldienste in der Region Biel zuständigen ärztlichen Bezirksverein aufgefordert, den psychiatrischen Notfalldienst zu organisieren.» Andernfalls werde das Kantonsarztamt auf Basis des Gesundheitsgesetzes die Einrichtung von Notfalldiensten übernehmen.

Wie das aktuelle Beispiel zeigt, ist das Versprechen des Regierungsrates auch zweieinhalb Jahre später nicht eingelöst. Deshalb hat Hasim Sancar letzte Woche mit einem weiteren Vorstoss im Grossen Rat nachgedoppelt.

Was macht der  Kantonsarzt?
Jan von Overbeck ist Kantonsarzt. Er hätte seit langem die Möglichkeit, die Verantwortlichen in Biel gegen ihren Willen dazu zu bringen, eine psychiatrische Notfallorganisation auf die Beine zu stellen. «Es ist richtig, ich hätte eine Verfügung anordnen und den ärztlichen Bezirksverein Biel-Seeland dadurch zwingen können, eine Notfallorganisation aufzubauen.» Nur habe ihn die Erfahrung gelehrt, dass ein Diktat von oben selten zielführend sei. «Das erzeugt Widerstand und kann gerichtliche Streitereien provozieren. Deshalb haben wir es mit Überzeugungsarbeit versucht.» Mit der Frage konfrontiert, ob er angesichts solcher Beispiele, wie es die Familie Meier schildert, früher und stärker hätte Druck ausüben müssen, gibt von Overbeck die Verantwortung weiter: «Es handelt sich um einen Fehler im System.» Zudem sei es ein «ethisches Problem» und eine «moralische Verantwortung der Ärzteschaft».

Es habe bislang drei Treffen gegeben. Und siehe da: «Mittlerweile ist der Verein selber davon überzeugt, dass es ein Notfallmodell braucht.» Darüber ist von Overbeck froh. «Wir sind der Meinung, dass grundsätzlich jeder Arzt Notfalldienst leisten muss.» Wie genau die psychiatrische Notfallversorgung in Biel aussehen soll, sei noch Gegenstand von Verhandlungen.

Nicht klar ist für von Overbeck, wo die 5500 Franken, die jeder Psychiater mit einem Pensum von 100 Prozent jährlich für die Entbindung von der Notfallpflicht geleistet hat, gelandet sind. «Eigentlich muss dieses Geld zurück in die Notfallversorgung fliessen. Ich versuche seit zwei Jahren, Genaueres herauszufinden, bisher ohne Erfolg.» Er habe die Buchhaltungsunterlagen angefordert, sie jedoch nicht zur Ansicht erhalten.

Was machen die  Psychiater?
Wie sich die Psychiater in Biel das Notfallmodell vorstellen und weshalb sie nun offenbar ihre anfängliche Abwehrhaltung abgelegt haben, muss an dieser Stelle unbeantwortet bleiben. Der Präsident des ärztlichen Bezirksvereins Biel-Seeland liess eine Anfrage dieser Zeitung unbeachtet.

Eva und Hans Meier wären froh, wenn das Notfallvakuum in Biel doch noch behoben würde. Nicht für sich, aber für andere Menschen, die in ihre Situation geraten.

* Name geändert

Stichwörter: Biel, Psychiater, Notfalldienst

Kommentare

Boezinger

Immerhin bleiben uns zum Ausgleich die BT Blogs...


Espresso

Den Eid des Hippokrates bzw. das Genfer Gelöbnis kennen diese "Seelsorger der Psychopharmaka-Industrie" wenn überhaupt, wohl nur vom Hörensagen. Nur noch Kohle scheffeln, im 9-2-5 Modus. 30 (dreissig!) Neurologen oder Psychiater die zu faul sind, einen eigenen Pikett-Dienst zu führen und dafür lieber eine Gebühr zahlen um sich freizukaufen... schämt euch.


Biennensis

Die rund 30 "Seelenklempner" in Biel-Bienne scheinen am Wochenende wohl zu sehr mit sich selbst beschäftigt zu sein, oder therapieren sie am Wochenende etwa das eigene Umfeld?


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