Sie sind hier

Abo

Frauenstimmrecht

«Als Frau stach ich natürlich immer heraus»

Nach der Einführung des Stimmrechts für Frauen im Jahr 1971 hat es Marion Kretz-Lenz es als eine der ersten Bernerinnen ins Kantonsparlament geschafft. Doch zuerst musste ihr die Mutter die Leviten lesen, damit sie überhaupt kandidierte.

Bild: zvg

Fabian Christl

Es gibt Dinge, auf die wartet man so lange, dass man sich gar nicht mehr richtig freuen mag, wenn sie denn endlich da sind. Das Frauenstimmrecht ist so eine Sache. Die Schweiz hat es im Februar 1971 eingeführt – als eines der letzten Länder der Welt. Ein halbes Jahr später – vor genau 50 Jahren – hat dann auch der Kanton Bern den Frauen die ihnen angeblich so wesensfremde Bürde des Wahl- und Stimmrechts aufgebürdet. Ein Grund, um sich selber zu feiern? Kaum.

Der Kanton aber nutzt die Gelegenheit, um die «Pionierinnen» des Frauenstimmrechts zu würdigen. Dazu gehört auch Marion Kretz-Lenz. Sie wurde 1974, als Frauen zum ersten Mal zur Wahl zugelassen wurden, ins Kantonsparlament gewählt. Als eine von insgesamt zehn Frauen.

 

Die Früchte geerntet

Marion Kretz-Lenz hat sich zu einem Treffen bereit erklärt, um über die alten Zeiten zu sprechen. So richtig geheuer ist ihr die Aufmerksamkeit aber nicht. «Ich war keine Kämpferin fürs Frauenstimmrecht; ich gehörte zur ersten Generation, die vom Kampf die Früchte ernten konnte», sagt sie gleich zu Beginn des Gesprächs.

Tatsächlich war sie 1971 erst 25 Jahre alt und folglich zu jung, um in den jahrzehntelangen Kämpfen eine dominante Rolle eingenommen zu haben. Allerdings, bei den vorangegangenen Demonstrationen war sie sehr wohl anzutreffen. Ihr Erweckungserlebnis hatte sie bereits als Jugendliche in einem Schwimmbecken in Leukerbad. «Ich sah all die Männer mit ihren roten Köpfen und dachte, es kann doch nicht sein, dass die abstimmen dürfen und ich nicht.»

Trotzdem hat sie dann gezögert, als sie angefragt wurde, um auf einer Liste zu kandidieren. Sie habe damals zwar als Redaktorin beim Radio gearbeitet, aber über keine Erfahrung in der Tagespolitik verfügt. Doch dann hat ihr die Mutter, die sonst selten resolut wurde, die Leviten gelesen: «Jetzt haben wir 100 Jahre für das Frauenstimmrecht gekämpft, und du willst nicht kandidieren.»

 

Männer taten sich schwer

Die von der Mutter wohl so dahergesagten 100 Jahre trafen die Sache ganz gut. Bereits 1883 wurde das Frauenkomitee Bern gegründet, in dem sich Frauen aus der Oberschicht mit der politischen und rechtlichen Stellung der Frauen auseinandersetzten. Komiteemitglied Helene von Mülinen gründete später die Symphonische Gesellschaft in Bern, eine Vorgängerorganisation des Bernischen Vereins für Frauenstimmrecht, welcher 1908 geschaffen wurde. National wie kantonal wird danach regelmässig übers Frauenstimmrecht befunden – und dieses stets verworfen. Im Kanton Bern scheiterten etwa 1917 und 1956 entsprechende Vorlagen.

Aus heutiger Sicht lässt sich schwer nachvollziehen, wie man überhaupt gegen das Frauenstimmrecht argumentieren konnte. Der Blick in die archivierten Protokolle des Grossen Rats hilft da auf die Sprünge.

Bei der Debatte von 1955 brachte etwa Grossrat Grädel vor, die Frauen vor der zusätzlichen Belastung «zu ihren natürlichen Aufgaben als Mutter und Erzieherin» bewahren zu wollen. Er fürchtete zudem um den familiären Frieden: «Was würde der Mann sagen, wenn nicht gekocht ist zur Essenszeit, weil die Frau an einer Gemeinderatssitzung teilnehmen musste?»

Grossrat Neuenschwander begründete sein Nein mit einem für ihn schrecklichen Erlebnis in einem Wirtshaus in England, wo 20 bis 30 Frauen zugegen waren, aber nur zwei oder drei Männer: «Ich habe den Fotoapparat in die Hand genommen, um die Sache zu dokumentieren. Die Frauen suchten das zu verhindern. Es ist wahrscheinlich, dass sie den ­Alkohol etwas verspürten. Die Politik hatte diese Frauen in die Wirtschaft geführt. Ihr Verhalten berührte mich peinlich.»

Auch 1967, als es um die Ermöglichung des Frauenstimmrechts auf kommunaler Ebene ging, ertönten solche Voten noch vereinzelt. Insgesamt hatte die Stimmung aber gedreht. Und die Gegner brachten nun mehrheitlich praktische Argumente vor. So wurde etwa geltend gemacht, dass schlicht keine genug grossen Säle vorhanden seien, um auch Frauen an Gemeindeversammlungen zuzulassen.

Vier Jahre später, 1971, sind die Gegner vollends verstummt. Der Gesetzesvorschlag für die vollständige Einführung des Frauenstimmrechts auf kantonaler Ebene passierte den Rat einstimmig.

 

Nicht wie die heutige SVP

Auch im Umfeld der jungen Marion Kretz-Lenz war das Frauenstimmrecht unbestritten. Eltern wie Grosseltern waren Verfechter der Gleichberechtigung, und im Stadtberner Kirchenfeld-Gymnasium, das sie besuchte, seien sowieso alle Mädchen dafür gewesen und die Jungs zumindest nicht dagegen, sagt sie.

Kretz-Lenz zog nach dem Gymnasium weiter, zuerst nach Genf, dann – mit ihrem Mann – in ein Stöckli im emmentalischen Schlosswil. Für die Kandidatur angefragt wurde die im Dorf engagierte Zugezogene von der SVP. Ausgerechnet, könnte man sagen. Schliesslich gehörte die BGB, die Vorgängerpartei der SVP, lange zu den Gegnern des Frauenstimmrechts. Und selbst heute noch tut sich die SVP schwer mit Frauenanliegen und -förderung. Die Berner Stadtratsfraktion der Partei etwa ist seit mehreren Legislaturen rein männlich besetzt.

Wie Kretz-Lenz aber betont, hatte die damalige bernische SVP «nichts, aber auch gar nichts» mit der heutigen Partei zu tun. Als Blocher aufkam und sich der Zürcher Flügel auszubreiten begann, trat sie sofort aus der Partei aus. Heute steht sie der Grünen Freien Liste nahe.

Damals habe es aber etwa ­viele Bauern mit sozialer Ader in der Partei gehabt. «Ich habe mich wohlgefühlt.» Zudem hat sie als Frau nie schlechte Erfahrungen im Rat oder der Fraktion gemacht. Der ehemals freisinnigen Leni Robert, die 1986 zur ersten Regierungsrätin gewählt wurde, sei es parteiintern deutlich schwerer ergangen. Sie hingegen sei von der Partei stets gefördert worden. «Wahrscheinlich auch, weil ich frisch, jung und hübsch war.»

 

Besondere Aufmerksamkeit

Doch auch in der damaligen SVP gehörte Kretz-Lenz zum linken Flügel. Frauenanliegen etwa trug sie konsequent mit. Als der Rat darüber debattierte, ob man Kinderzulagen auch Bäuerinnen auszahlen sollte, wurde ihr Votum vom Radio übertragen. Der Rat – und ihre Fraktion – lehnte die Vorlage ab. Doch sie beantragte Rückkommen. Mit Erfolg. Tags darauf nahmen der Rat wie auch ihre Fraktion die Vorlage an. Offenbar hatten zahlreiche Bäuerinnen das Votum gehört und ihren politisierenden Männern die Hölle so heiss gemacht, dass diese sich anders besannen.

In der zwölfjährigen Amtszeit war das nur eine kleine Episode. Kretz-Lenz steckte extrem viel Zeit und Energie in das Amt. In der Freizeit führte sie unzählige Beratungen für Frauen durch und hielt Referate vor Frauenvereinen, um gerade die Frauen auf dem Land über ihre Rechte aufzuklären. Und während der ­Sommer war sie etwa jedes Wochenende als Parteivertreterin an einem Schwing-, Jodel- oder Älplerfest anzutreffen. «Als Frau stach ich natürlich immer heraus, so wäre mein Fehlen stets sofort bemerkt worden.»

Es ist ein Mechanismus, der nach wie vor existiert. Gerade Angehörige von Minderheiten stehen unter besonderer Beobachtung. Machen sie einen Fehler, wird er gleich der ganzen Gruppe angelastet, die sie repräsentieren. Doch Kretz-Lenz ist hart im Nehmen. «Mich hat das nicht sonderlich belastet», sagt sie. Auch als ein Leserbriefschreiber ihr in einer Zeitung die Vernachlässigung ihrer Familie vorwarf, nahm sie dies schulterzuckend zur Kenntnis. Sogar als sie eine Zeit lang von einer Person mit nächtlichen Telefonanrufen terrorisiert wurde, warf sie das nicht aus der Bahn. «Ich dachte, das hört dann schon wieder auf; und das tat es denn auch.»

 

«Frauen sind stark»

Nach ihrer Zeit im Kantonsparlament lebte sie ein paar Jahre in England. Zurück in der Schweiz, konzentrierte sie sich auf die Arbeit und beobachtete die Politik nunmehr eher aus der Distanz. Frauenanliegen sind aber nicht von der Bildfläche verschwunden. Gerade in den letzten Jahren entstand eine kraftvolle Frauenbewegung.

Kretz-Lenz, die sich als «Feministin, die Männer mag», bezeichnet, hegt grosse Sympathien für die heute kämpfenden Frauen. Auch wenn sie vielleicht nicht jede einzelne Forderung bis ins Letzte nachvollziehen könne, würde sie nie ein schlechtes Wort darüber verlieren, sagt sie. Und dass Handlungsbedarf da ist, findet sie selber. «Noch immer verdienen Frauen für gleichwertige Arbeit weniger, und noch immer ist die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ungenügend.»

Auch dass Frauen noch immer nur mitgemeint sind, etwa, wenn Medien auf die Nennung beider Geschlechter verzichten, findet sie störend. «Solche kleinen Dinge haben eine grosse Auswirkung.» Insgesamt ist sie aber optimistisch, dass die eingeschlagene Richtung stimmt. Vor einem Backlash fürchtet sie sich nicht. «Die Frauen sind stark; sie ­würden sich nie mehr bieten lassen, was wir uns früher bieten lassen mussten.»

Marion Kretz-Lenz

Nachrichten zu Kanton Bern »