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Armut

«Auf dem Land ist die Bereitschaft kleiner, sich Hilfe zu holen»

In den Städten sind besonders Haushaltshilfen arm, auf dem Land Menschen im Rentenalter. Soziologe Oliver Hümbelin über die regionalen Unterschiede von Armut.

Saanen ist die ungleichste Gemeinde des Kantons Bern, hat Armutsforscher Oliver Hümbelin herausgefunden. Bild: Nicole Philipp

Interview: Lea Stuber

Oliver Hümbelin, wohin im Kanton Bern würden Sie auf keinen Fall ziehen, um nicht zu verarmen?

Oliver Hümbelin: So einfach ist es nicht, Armut kommt überall vor. Gerade in Städten gibt es zwar eine gewisse Segregation, aber «Orte» sind nicht per se mit einem klaren Verarmungsrisiko verbunden. Vielmehr ist es umgekehrt: Menschen wählen den Wohnort wegen ihrer finanziellen Lage.

Sind Sie einfach sehr reich und wollen mit Ihrer Forschung Ihr schlechtes Gewissen beruhigen?

Ich bin, glaube ich, nicht sehr reich. Mit einem Dozentenlohn vom Kanton ist man aber auch nicht arm. Mich treibt eher das Interesse für gesellschaftliche Zusammenhänge und Fragen zu sozialen Unterschieden um. Das hat wohl auch mit meinen Grosseltern zu tun. Sie waren in der Schweiz in der kommunistischen Bewegung aktiv und beeinflussten uns intellektuell.

Stellen wir uns eine Karte des Kantons Bern vor. Grün würde heissen: Hier leben besonders viele arme Menschen. Wo wäre die Karte grün?

Überdurchschnittlich oft wohnen armutsbetroffene Menschen in den ärmeren Quartieren in den Städten und auf dem Land. In den Städten sind 7 Prozent der Menschen arm, in den Agglomerationen weniger, nämlich 4,4 Prozent. Und auf dem Land wieder mehr, 5 Prozent. Bei den zehn Gemeinden mit den höchsten Armutsquoten findet sich eine Häufung im Berner Jura, etwa Corcelles, oder im Seeland mit Clavaleyres. Biel ist auch auf der Liste. Ebenso Horrenbach-Buchen, eine Region oberhalb des Thunersees. So prägnant sind die räumlichen Muster aber nicht. Dass beispielsweise die Bergregionen völlig abgehängt würden, können wir nicht feststellen.

In welchen Gemeinden leben die reichsten Menschen?

Die wohlhabenden Menschen sind tendenziell ausserhalb der Stadt, in der Agglo. Der Begriff «Speckgürtel» passt gut. Im Schnitt leben die reichsten Menschen des Kantons Bern in Muri und, direkt anschliessend, in Allmendingen bei Bern. Das hat verschiedene Gründe: Sie orientieren sich an der Stadt, entscheiden sich aber beispielsweise aus Steuergründen für einen Wohnort ausserhalb. Ein zweiter Hotspot liegt in Saanen. Gstaad, das zu dieser Gemeinde gehört, hat sich auf Luxustourismus eingestellt. Das ist mit einem gewissen Wohlstand für die Anwohnenden verbunden. Allerdings kommt dieser nicht allen zugute: Saanen ist auch die ungleichste Gemeinde des Kantons.

Wo viele Reiche leben, gibt es also auch viele schlecht bezahlte Jobs?

Wohlhabende bringen Geld und schaffen so auch Jobs für andere. Nicht alle sind aber gut bezahlt. Nehmen wir die Gastronomie. Dieses Tätigkeitsfeld, das haben wir in unserer Studie herausgefunden, ist mit einer überdurchschnittlich hohen Armutsquote verbunden.

Weshalb, wo wir doch so mobil sind, sagt der Wohnort etwas darüber aus, ob ich arm oder reich bin?

Die Aussagekraft der räumlichen Dimension von Armut ist begrenzt. Die Faktoren, die ein hohes Armutsrisiko darstellen, sind überall gleich wichtig: alleinerziehend sein, wenig Bildung haben, keinen Zugang zu einem Job. Und doch stellen wir fest, dass armutsbetroffene Menschen in der Stadt und auf dem Land unterschiedliche Profile haben. Wir haben gesehen, dass in den Städten häufiger Freelancer und Leute, die kleine Dienstleistungen anbieten, etwa Haushaltshilfen, arm sind. Auf dem Land sind es die Menschen, die in der Landwirtschaft tätig sind. Zudem ist die Altersarmut ausgeprägter.

Was sind die Gründe?

Ich sehe zwei Phänomene. Einerseits wirkt sich die Vergangenheit in der Landwirtschaft aus. Als Selbstständige müssen Landwirtinnen und Landwirte ihre Altersvorsorge selber organisieren. Viele tun das. Für andere ist das herausfordernd. Gerade wenn ihre Situation schon während des Erwerbslebens schwierig war.

Und das zweite Phänomen?

Die Akzeptanz, sich Hilfe zu holen – zur Sozialhilfe zu gehen –, ist auf dem Land kleiner. Offenbar ist dies im städtischen Milieu einfacher, etwa wegen der Anonymität. Auf dem Land kennt man die Person, die bei der Gemeinde arbeitet, möglicherweise persönlich. Hinzu kommt die Einstellung. Auf dem Land sind die liberalen, individualisierten Werte stärker verankert als in den Städten. Das Selbstverständnis, sich selber durchzuschlagen, ist gerade in den landwirtschaftlichen Milieus stark ausgeprägt.

Werden arme Menschen auch aus den Städten vertrieben, weil sie sich das Leben dort nicht mehr leisten können, Stichwort Gentrifizierung?

Die Städte sind noch immer von den «A» geprägt, wie man sie in den 90er-Jahren diskutierte. Von den Armen, Arbeitslosen, Ausländerinnen. Nur das «A» der Alten verschiebt sich auf das Land. In der Schweiz ist Armut versteckt. Bei vielen geht es nicht ums Verhungern, aber man versucht, sich mit sehr wenig durchzuschlagen. Gerade mit der Corona-Pandemie wurde die städtische Armut sichtbar. Ein deutlich erhöhtes Armutsrisiko in der Stadt hat die ausländische Bevölkerung. Manche arbeiten schwarz, häufig als Haushaltshilfe bei wohlhabenden Menschen, manche sind Sans-Papiers. Für diese Gruppe ist es besonders schwierig. Die Menschen müssen befürchten, ausgewiesen zu werden, wenn sie staatliche Hilfe suchen.

Neben Haushaltshilfen, sagen Sie, sind in den Städten vor allem Freischaffende und Kulturschaffende arm. Warum würde sich ihre Situation auch dann nicht verbessern, wenn sie auf das Land zögen?

Weil es eine Milieufrage ist. In den Städten bildet sich ein Milieu von Menschen, die in einem dynamischen, innovativen Umfeld im Freelance-Bereich arbeiten. In den neuen Tech-Industrien, in Start-ups. Hier passiert viel, hier kann man unabhängig sein, ortsungebunden am Wirtschaftsleben teilhaben. Diese Arbeit kann aber prekär sein. Die Menschen haben keine Anstellungen, sondern projektorientierte Arbeitsverhältnisse. Die finanzielle Absicherung ist teilweise nicht geklärt.

Entsteht hier ein Wirtschaftszweig von gut ausgebildeten Menschen, die unter prekären Bedingungen arbeiten?

Manche funktionieren wunderbar in dem – man kann ja zu beträchtlichem Wohlstand kommen. Aber, ja, es ist ein Tätigkeitsfeld, das mit hohen Risiken verbunden ist. Eine unstete Auftragslage, plötzlich verliert man den Tritt. In Zürich etabliert sich das, auch in Bern sehen wir es in den Daten. Obwohl sie Anrecht auf Sozialhilfe hätten, beziehen viele Selbstständige sie nicht. Das hat wohl mit den Perspektiven zu tun. Man denkt: Eines Tages geht es vielleicht wieder besser, eines Tages kann ich mich vielleicht etablieren.

Stadt und Land seien zahlenmässig ähnlich arm, sagen Sie. Verbindet sie das?

Ein Theoriestrang der internationalen Ungleichheitsliteratur beschreibt, als Begleiterscheinung des technologischen Wandels, das Auseinanderdriften von Stadt und Land. In der Schweiz ist das nicht so dramatisch, auch wenn es Unterschiede gibt und diese zuweilen als Graben beschworen werden. Es gibt aber in beide Richtungen Instrumente des Ausgleichs – den Finanzausgleich, Subventionen für Landwirtinnen. In meinen Augen bemüht man sich in der Schweiz, dass Stadt und Land nicht auseinanderfallen.

Zum Schluss: Was müsste ich tun, um reich zu werden?

Wieso wollen Sie denn reich werden? Ist das das Ziel?

Sie reden lieber über Armut. Was müsste ich tun, um nicht zu verarmen?

Sie stellen die Frage individuell, für mich ist das eine gesellschaftliche Frage. Es ist nicht im Interesse einer Gesellschaft, dass viele Leute abgehängt werden. Das ist schwierig für die Betroffenen, schafft aber auch für die Gesellschaft Probleme. Wichtig ist, dass alle eine solide Bildung bekommen. Und möglichst zu vermeiden, dass Menschen in Armut aufwachsen. Die Weichen werden früh gestellt.

Stichwörter: Armut, Kanton Bern, Forschung

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