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Geburt

Bei Platznot werden die Babys ohne Mutter im Inselspital untergebracht

Wegen mangelnden Sauerstoffgehalts im Blut wurde ein Neugeborenes direkt nach der Geburt im Spital Frutigen ins Berner Inselspital verlegt. Die Mutter musste mit dem Auto hinterherreisen – kein Einzelfall.

Allein im Spital: Das kann Neugeborenen bei einer Verlegung ins Inselspital passieren. Ein Vorfall im Spital Frutigen gibt zu reden. Bild: Nicole Philipp

Sibylle Hartmann

Spital Frutigen, 30. Dezember, 16.01 Uhr: Die kleine Leylani wird geboren. 3230 Gramm schwer, 50 Zentimeter lang und kerngesund. Mama Rahel Brunner, die 48 Stunden in den Wehen lag, ist überglücklich, ihre Tochter endlich in den Armen zu halten. Fünf Stunden nach der Geburt sinkt jedoch der Sauerstoffgehalt in Leylanis Blut, sie muss noch am selben Abend auf die Neonatologie im Frauenspital der Insel nach Bern verlegt werden.

Für die Mutter steht sofort fest, dass sie so kurz nach der Geburt auf keinen Fall von ihrem Kind getrennt werden will. Eine Verlegung ihrerseits ins Frauenspital der Insel sei eventuell erst am nächsten Tag gegen Mittag möglich, teilt man ihr im Spital Frutigen mit. Weil es zu dem Zeitpunkt im Frauenspital keinen Platz mehr hat.

Um nicht von ihrer Tochter getrennt zu werden, tritt Rahel Brunner noch am selben Abend auf eigenes Risiko aus dem Spital Frutigen aus – im Wissen darum, dass sie danach weder vom Inselspital noch von einem anderen Spital wieder aufgenommen werden kann. Acht Stunden nach der Geburt fährt sie mit ihrem Mann im Auto nach Bern. Im Krankenwagen, mit dem Leylani transportiert wird, durfte sie nicht mitfahren. Noch vom Spital aus hatte sie für ihren Mann und sich einen Schlafplatz auf dem Sofa bei einer Freundin in Bern organisiert.

Zwei Geburten, 
zwei Verlegungen
Die betroffene Frau heisst im richtigen Leben anders. Sie wolle nicht als «Jammeri» dastehen, sagt sie, also nennen wir sie hier Rahel Brunner. Jammern könnte man der frischgebackenen Zweifachmutter jedoch nicht verübeln. Bereits kurz nach ihrer ersten Geburt im Spital Interlaken wurde sie von Tochter Raya getrennt. Diese musste wegen eines Verdachts auf einen Infekt in die Insel geflogen werden – ebenfalls ohne ihre Mutter, die auch damals mit dem Auto nach Bern fahren musste. Der Kaiserschnitt war zu diesem Zeitpunkt knapp 36 Stunden her.

Dass ein neugeborenes Kind mit Anpassungsschwierigkeiten oder schwerwiegenden Problemen allein in das Inselspital verlegt werden müsse, sei keine Seltenheit, sagt Gundekar Giebel von der Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern. So müssen pro Jahr rund 120 bis 150 Kinder nach der Entbindung in den kantonalen Geburtsspitälern Interlaken, Frutigen, Zweisimmen, Thun, Münsingen, Burgdorf, Langenthal und Biel, in der Privatklinik Linde in Biel, im Geburtshaus Luna in Ostermundigen und in den Geburtskliniken Salem, Lindenhof und Engeried in der Stadt Bern direkt in die Insel gebracht werden. Auf 8297 Geburten im ganzen Kanton Bern ausserhalb des Inselspitals waren dies im Jahr 2017 1,6 Prozent.

In solchen Fällen sei man seitens der Insel stets um eine baldige Aufnahme der Mutter im Frauenspital bemüht, heisst es offiziell. Dass dies nicht immer reibungslos verläuft und die Mutter dabei schon mal «vergessen» geht, mussten auch zwei weitere Frauen aus dem Kanton Bern erfahren. Der Sohn der einen Mutter musste 3 Stunden nach der Geburt vor 3 Jahren im Spital Thun wegen akuter Atemprobleme in die Insel verlegt werden. Wie er nach Bern kam, wissen die Eltern bis heute nicht. Um den eigenen Transport musste auch sie sich selber kümmern, für die Unterbringung in Bern sorgte ihre Hebamme, auch in diesem Fall war das Frauenspital voll. Die Frau erhielt schliesslich einen Platz im Bettenhochhaus, wo sie jedoch nicht nachgeburtlich betreut wurde.

Ähnlich erging es einer weiteren Mutter, als ihr Sohn 2014 kurz nach der Geburt im Salemspital in die lnsel verlegt werden musste, weil er verunreinigtes Fruchtwasser in der Lunge hatte. Die Mutter selber blieb im Salem, weil ihr wegen Platzproblemen im Frauenspital nicht zugesichert werden konnte, dass sie das Zimmer nicht mit einer anderen Wöchnerin mit Kind hätte teilen müssen. «Das hätte ich nicht ertragen», sagt sie. Und ob sie vom Frauenspital via die ganzen unterirdischen Gänge oder vom Salem im Auto mit ihrem Mann oder mit Verwandten zu ihrem Sohn ins Kinderspital pendele, habe vom Aufwand her keine Rolle gespielt.

Platzproblem wegen steigender Geburtenrate
«Dass Mutter und Kind nach der Geburt beisammenbleiben können, hat Priorität», sagt Lidije Berisha, Beleghebamme am 
Spital Frutigen. Auch wenn es einem schon von aussen das Herz zerreisse, «der Gesundheitszustand des Kindes hat klar eine noch höhere Priorität». Und wenn es in der Insel weder im Frauenspital noch im Ronald-McDonald-Haus, wo Angehörige von Kindern in der Kinderklinik untergebracht werden können, Platz habe, könne man schlicht nichts machen, sagt Berisha. In solchen Fällen empfehle sie den Frauen, bei Freunden oder Bekannten in Insel-Nähe unterzukommen.

Das Inselspital erklärt das offensichtliche Platzproblem mit den steigenden Geburtenzahlen. So kamen letztes Jahr mit 2004 Kindern 160 mehr als 2017 zur Welt. Das ist die höchste Geburtenzahl seit 41 Jahren. Deshalb könne es vorkommen, dass eine Frau nach einer Geburt von auswärts nicht sofort aufgenommen werden könne, sondern erst am nächsten Tag.

Ambulanz wird nicht in jedem Fall bezahlt
Ob und wie die Mutter nach Bern verlegt wird, liegt in den Händen des Spitals, wo die Frau entbunden hat. Laut Johann Anderl, Chefarzt der Gynäkologie am Spital Frutigen, ist es nach einer spontanen Geburt üblich, dass sich die Frauen – beziehungsweise die Eltern – selber um ihre Verlegung kümmern. Ansonsten könne es passieren, dass Betroffene die Kosten für die Ambulanz selber übernehmen müssten. Der Krankenkassenverband Santésuisse bestätigt, dass für die Übernahme der Kosten des Transports bei einer Verlegung eine medizinische Notwendigkeit vorliegen muss. Diese wiederum liege bei einem Kaiserschnitt eigentlich immer vor, sagt Anderl. Im gleichen Transportmittel wie das Kind verlegt zu werden, sei jedoch generell nicht erlaubt.

Eigenständige Verlegung oder Krankentransport, das Problem bleibt das gleiche: Wenn das Frauenspital in Bern voll ist, sind allen Beteiligten die Hände gebunden. Entweder treten die Frauen auf eigenes Risiko aus, oder sie bleiben so lange im Geburtsspital, bis in Bern ein Platz frei ist. «Die längste Wartezeit, die ich hier am Spital Frutigen erlebt habe, waren 36 Stunden», erzählt Johann Anderl.

Die Eltern haben Glück 
im Unglück
Inselspital Bern, 31. Dezember, 
3 Uhr: Rahel Brunner und ihr Mann sehen ihre kleine Tochter auf der Neonatologie im Frauenspital nach drei Stunden wieder. Leylani ist so weit stabil. Die Eltern haben Glück im Unglück. Auf demselben Stock, wie ihre Tochter liegt, ist eines der beiden Elternzimmer frei. Die Eltern können so jederzeit zu ihrem Kind. Nach fünf Tagen ist der ganze Spuk vorbei. Die Familie Brunner ist vereint. Raya ist glücklich und hat nun eine kleine Schwester.

Und dabei wird es auch bleiben. Nach den beiden Geburtsdramen ist die Familienplanung bei den Brunners definitiv abgeschlossen.

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