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Kontroverse

Berner Polizisten werden kaum verurteilt

Anzeigen wegen Amtsmissbrauchs führen in Bern nur in 11 Prozent zu einer Verurteilung. Es würden viele Bagatellfälle zur Anzeige gebracht, findet die Polizeigewerkschaft. Ein Staatsrechtsprofessor sieht es anders.

"Physische Kraftanwendung" sei bei einer Festnahme manchmal nötig, heisst es bei der Polizeigewerkschaft. Szene der umstrittenen Festnahme Mitte Juni beim Bahnhofplatz Bern. Bild: Raphael Moser

Michael Bucher

Die gewaltsame Festnahme eines Mannes beim Berner Bahnhof vor rund einem Monat hat ein grosses Echo ausgelöst. Zufällig anwesende Journalistinnen und Journalisten der Zeitungen «Bund» und «Berner Zeitung» hatten die Szene beobachtet. Für Empörung sorgte insbesondere ein Foto, das zeigt, wie einer der Polizisten sein Knie auf den Hals des am Boden liegenden Mannes legt. Das Thema Polizeigewalt wurde in den Sozialen Medien umgehend Gesprächsthema Nummer 1 (das BT berichtete).

Mittlerweile hat die Staatsanwaltschaft für besondere Aufgaben ein Strafverfahren eröffnet. Eine solche Untersuchung würde es wohl kaum geben, wären nicht zufällig Medienschaffende Zeugen der Festnahme geworden. Auch wird der Festgenommene wohl keine Anzeige einreichen. Weil er sich illegal in der Schweiz aufhält, sitzt der Mann bereits in Ausschaffungshaft.

Auffällig tiefe Quote

Der Vorfall rückt eine diffuse Vermutung in den Fokus, die immer mal wieder aufkeimt und die da lautet: Die Polizei muss sich kaum je für ihr Handeln verantworten. Stimmt das? Nun, die nackten Zahlen zeigen: Reicht jemand Anzeige gegen eine Polizistin oder einen Polizisten ein, so führt es nur in seltenen Fällen zu einer Verurteilung.

Der «Tages-Anzeiger» veranschaulichte dies letztes Jahr am Beispiel des Amtsmissbrauchs – diesem Vorwurf sehen sich Polizisten oft ausgesetzt: Von 2010 bis 2019 wurden in der Schweiz insgesamt 945 Personen beschuldigt, diese Straftat begangen zu haben. Es kam aber nur gerade zu 132 Verurteilungen. Das entspricht einer Quote von 14 Prozent.

Im Kanton Bern ist die Verurteilungsquote mit 11,4 Prozent gar noch tiefer, wie Zahlen des Bundesamtes für Statistik zeigen. Im selben Zeitraum wurden hier 70 Personen des Amtsmissbrauchs beschuldigt, nur bei 8 kam es zu einer Verurteilung. Das ist laut Strafrechtsexperten sehr auffällig. Denn im Schnitt gibt es bei knapp 50 Prozent aller Anzeigen auch ein Urteil. Beim Delikt Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte, einer Art Gegenstück zum Amtsmissbrauch, beträgt diese Quote gar 88 Prozent, wie der «Tages-Anzeiger» in seiner Recherche aufzeigte.

Für den Berner Strafrechtsprofessor Jonas Weber ist die tiefe Verurteilungsquote bei Amtsmissbrauch «ein Indiz dafür, dass sich der Polizeiapparat selber schützt». Er spricht von einem starken Korpsgeist, der dazu führe, dass man sich nicht gegenseitig anschwärze. Hinzu komme, dass bei einer allfälligen Untersuchung durch die Staatsanwaltschaft den Polizeirapporten viel Gewicht beigemessen werde. Diese Rapporte würden vor einer Einvernahme von den beteiligten Polizisten gelesen und «so etwas wie die offizielle Version der Geschehnisse» bilden, sagt er.

«Den Aussagen von Polizisten wird de facto mehr Glaubwürdigkeit geschenkt als Privaten», hält Weber weiter fest. Diese mutmassliche Voreingenommenheit könne nur durchbrochen werden, wenn von einem Fehlverhalten objektive Beweise – etwa Foto- oder Videoaufnahmen – vorliegen würden. Oder aber es findet sich eine über alle Zweifel erhabene Zeugin in den eigenen Reihen der Polizei.

Einen solch seltenen Fall gab es 2014 in Bern. Ein polizeilich bekannter Mann, der unter Drogen stand, urinierte auf der Polizeiwache in den Warteraum, nachdem er dort eingesperrt worden war. Zwei Polizisten verlangten von ihm, den Boden zu reinigen. Weil der Mann sich weigerte, drückte ihm einer der Polizisten den Kopf in den Urin. Schliesslich schleifte ihn der andere Polizist auch noch an den Beinen durch die Urin-Pfütze. Der Fall landete vor Obergericht, wo der Schuldspruch der ersten Instanz im Wesentlichen bestätigt wurde. Daraufhin wurden die beiden Polizisten freigestellt.

Die zentrale Rolle bei der Verurteilung kam damals einer Polizeiaspirantin zu, die gegen ihre Kollegen ausgesagt hatte. Die damalige Gerichtspräsidentin betonte, dass es wohl nie zu einer Verurteilung gekommen wäre, wären die Aussagen des verhafteten Mannes nicht durch jene der Praktikantin bestätigt worden.

Strafrechtsprofessor Jonas Weber übt eine Art Grundsatzkritik am System. Die Problematik sei, dass Betroffene bei derjenigen Instanz eine Strafanzeige einreichen müssten, gegen die sich die Anzeige richte. Und dass es die Staatsanwaltschaft sei, welche entscheide, ob eine Untersuchung gegen einen Polizisten eingeleitet werde oder nicht, sei auch nicht ideal. Zu eng verbandelt sei diese mit der Polizei.

«Die Staatsanwaltschaft ist bei Ermittlungen auf die Polizei angewiesen», sagt Weber. Was ihn zur Vermutung führt, dass diese den Polizisten nicht zu nahe treten wolle. Aus diesem Grund plädiert Weber für eine unabhängige Instanz, die Fälle von Amtsmissbrauch untersucht. Der Kanton Bern betont regelmässig die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft. So sei es die 2015 geschaffene Staatsanwaltschaft für besondere Aufgaben, welche für Ermittlungen gegen Polizisten zuständig sei. Diese abgekoppelte Abteilung sei bei ihrer Arbeit weniger direkt auf die Mithilfe von Polizisten angewiesen.

Für Jonas Weber ist das Berner Modell zwar «ein Schritt in die richtige Richtung», so ganz überzeugt ist er jedoch nicht. Noch besser fände er die Auslagerung an eine ausserkantonale Staatsanwaltschaft, wie das bei einigen Kantonen bereits der Fall ist. Oder die Schaffung einer gänzlich unabhängigen Instanz.

Eine «fatale Entwicklung»

Ganz anders sieht es Max Hofmann, der Generalsekretär des Verbands Schweizerischer Polizei-Beamter. Die Staatsanwaltschaft mache einen «guten Job», deren Unabhängigkeit sei gewährleistet. Generell stört er sich am in gewissen Kreisen stark ausgeprägten Hang, die Arbeit der Polizei stets zu hinterfragen.

Die Polizei begebe sich oft in Gefahr. Deshalb sei es wichtig, aufeinander zählen zu können. Da komme automatisch ein gewisser Korpsgeist auf, meint Hofmann. Dass dieser so weit geht, dass Polizisten systematisch lügen und einander decken, weist er vehement zurück. Der Vorwurf von «mafiösen Strukturen» sei happig und haltlos zugleich. Die Tatsache, dass nur die wenigsten des Amtsmissbrauchs beschuldigten Polizisten tatsächlich verurteilt werden, sieht er ganz anders begründet als vom Strafrechtsprofessor. Mit Anzeigen gegen Polizisten würden einige Leute ein «perverses Spiel» treiben, um die tägliche Polizeiarbeit zu verzögern. Dass Polizisten bei jedem Einsatz damit rechnen müssten, angezeigt zu werden, empfindet er als eine «fatale Entwicklung».

Die Leute hätten oft ein falsches Bild von der Polizeiarbeit, sagt Hofmann weiter. Manchmal gehöre bei einer Festnahme «physische Kraftanwendung» eben dazu – «das ist aber noch lange kein Amtsmissbrauch». Er weist umgekehrt darauf hin, dass auch Polizistinnen und Polizisten bei ihrer Arbeit zum Teil heftig angegangen werden. Dies zeigen auch diverse Strafbefehle, welche der «Berner Zeitung» vorliegen. Da werden Polizisten von Personen in Gewahrsam mit nicht druckreifen Schimpfwörtern eingedeckt. Sie werden geschubst, mit einem Schuh beworfen oder gar angespuckt. Auch kommt es vor, dass auf den Boden uriniert wird.

Ist es verständlich, wenn ein Polizist in einer solchen Situation beim Anlegen der Handfesseln etwas rabiater vorgeht, als es angezeigt wäre? Max Hofmann meint dazu nur: «Die Polizisten sind auch nur Menschen.»

Stichwörter: Polizei, Bern, Justiz

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