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Sozialhilfe

«Das ist unsinnig»

Der Grosse Rat entscheidet heute, ob die Gemeinden bei der Sozialhilfe stärker zur Kasse gebeten werden sollen. Daniel Bock vom Verband der Sozialdienste hält davon nichts.

Daniel Bock ist genervt über die Idee des Selbstbehalts. Bild: Nicole Philipp

Interview: Marius Aschwanden

Daniel Bock, es ist drei Monate her, dass die Sozialhilfekürzungen an der Urne eine Abfuhr erlitten haben. Jetzt kommt schon ein neuer Sparvorschlag. Nervt Sie das langsam?

Daniel Bock: Ja, es nervt. Und zwar deshalb, weil auch der neue Vorschlag unqualifiziert und nicht faktenbasiert ist. Grundsätzlich wäre es auch das Anliegen der Berner Konferenz für Sozialhilfe (BKSE), dass man sich mit den steigenden Kosten auseinandersetzt. Aber nicht auf diese Art und Weise.

Vorgesehen ist, dass die Gemeinden künftig einen Teil ihrer Sozialhilfekosten selber tragen müssen. So etwas wurde auch schon vom BKSE und von den Städten gefordert.

Es stimmt zwar, dass wir Massnahmen auf der Strukturebene vorgeschlagen haben. Die nun vorliegende Idee eines Selbstbehalts geht aber von einer falschen Grundannahme aus. Es wird vorausgesetzt, dass die Sozialdienste die Kosten massgeblich beeinflussen können, etwa wenn sie ihren Integrationsauftrag ein bisschen konsequenter verfolgen würden. Das ist aber schlicht nicht korrekt.

Weshalb nicht?

Die Statistik über die wirtschaftliche Hilfe der Gesundheits- und Fürsorgedirektion zeigt, dass die Sozialdienste von den gesamten Kosten maximal 16 Prozent steuern können. Alles andere ist rechtlich genau vorgegeben. 10,5 Prozent sind Kosten im freiwilligen Kindesschutz und lediglich 5,5 Prozent situationsbedingte Leistungen. Unter dem Strich ist somit nur ein Zwanzigstel der Sozialhilfekosten durch uns direkt beeinflussbar. Das zeigt, wie widersinnig der Vorschlag ist.

Tatsache ist aber auch, dass in manchen Gemeinden die Durchschnittskosten für einen Sozialhilfebezüger 8000 Franken betragen, in anderen 12 000. Weshalb?

Es gibt regional grosse Unterschiede betreffend Mietzinse, Krankenkassenprämien oder die Fahrkosten, um zu den Integrationsprogrammen zu gelangen. Wenn jemand von Innertkirchen in Thun ein solches Angebot besucht, dann generiert dies viel höhere Verkehrskosten, als wenn es in der eigenen Gemeinde angesiedelt ist.

Es gibt aber auch Kostenunterschiede zwischen benachbarten Gemeinden.

Da spielt möglicherweise die Zusammensetzung der Sozialhilfebezüger eine Rolle. Je bildungsferner die Personen sind oder je höher die Migrationsquote ist, desto mehr Geld muss auch in Sprachkurse oder andere Grundkompetenzen investiert werden.

Diese unterschiedlichen Rahmenbedingungen würden im Selbstbehaltsystem durch einen Zuschuss an besonders belastete Gemeinden ausgeglichen.

Das ist unsinnig. Man will zuerst bestrafen und anschliessend das System abfedern. Administrativ ist das ein völliger Blödsinn.

Bürgerliche Politiker schliessen aus den Unterschieden, dass manche Sozialdienste ineffizient arbeiten.

Dieser Schluss ist grundfalsch. Nehmen wir als Beispiel die Integrationsquote, die unter den Gemeinden ebenfalls variiert. Sie hängt massgeblich davon ab, wie viele Integrationsangebote es in der näheren Umgebung gibt. Im Jura und im Oberland existieren weniger Programme als in den Städten. Wenn die Anbieter zudem gut arbeiten, finden mehr Sozialhilfebezüger den Weg zurück in den ersten Arbeitsmarkt. Und was ist nun die Aufgabe der Sozialdienste? Sie melden ihre Klienten lediglich in die Programme an. Für die Integration in die Wirtschaft sind dann die Anbieter verantwortlich.

Sie schliessen also a priori aus, dass einige Sozialdienste effizienter arbeiten als andere?

Nein, das tue ich nicht. Das hat auch das gescheiterte Bonus-Malus-System gezeigt. Es war betreffend den Malus zwar untauglich, hat aber dazu geführt, dass die angeprangerten Sozialdienste ihre Strukturen angepasst haben. Insofern gebe ich den bürgerlichen Politikern recht: Man kann die Strukturen verbessern, aber nicht über einen Selbstbehalt, sondern beispielsweise über ein gemeinsames Revisorat.

Das Revisorat wird ja ebenfalls geschaffen. Die Frage ist nur: Reicht das, oder braucht es auch einen gewissen Kostendruck für die Gemeinden?

Nein, das braucht es bestimmt nicht. Mich beelendet diese unsägliche Unterstellung an die Adresse der Sozialdienste, dass sie ihren gesetzlichen Auftrag nicht genügend wahrnehmen. Ich bin jetzt 30 Jahre in diesem Bereich als Leiter tätig, und ich habe noch nie einen Sozialdienstleitenden gesehen, der nicht alles dafür getan hat, die Klienten so rasch wie möglich zu integrieren. Der Anreiz ist zudem ja bereits da. Je mehr Klienten es gibt, desto belasteter ist der Sozialdienst. Die Leitenden arbeiten somit intensiv darauf hin, die Fallbelastung durch eine hohe Integrationsquote möglichst tief zu halten.

Sie kritisierten in der Vergangenheit immer wieder, dass Sie von der Gesundheits- und Fürsorgedirektion nicht einbezogen werden. Ist das nun besser?

Nein, überhaupt nicht. Wir müssen die Anpassungen am Schluss umsetzen, dürfen aber nicht daran mitarbeiten. Das macht uns wütend.

Haben Sie einen Anlauf unternommen, um das Gespräch zu suchen?

Wir haben vierteljährliche Gespräche mit dem kantonalen Sozialamt und sitzen halbjährlich mit der Führungsspitze rund um Regierungsrat Pierre Alain Schnegg zusammen. Aber wir kommen mit unseren Anliegen einfach nicht durch und werden nicht gehört.

Glauben Sie, dass Ihre Kritik am Selbstbehaltsystem wenigstens im Grossen Rat gehört wird?

Ja, diesen Eindruck habe ich. Insbesondere, weil es noch eine weitere Motion gibt, in welcher eine Reform angestrebt wird, die in die richtige Richtung geht. Auch dort wird ein Selbstbehalt gefordert, jedoch nur auf den freiwilligen situationsbedingten Leistungen. Mit einem solchen System und unserer Beteiligung bei der Ausgestaltung könnten wir uns einverstanden erklären.

Daniel Bock ist Co-Präsident der Berner Konferenz für Sozialhilfe, die alle Sozialdienste unter einem Dach vereint.

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