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Justiz

Das lange Warten in der Gefängniszelle

Die Strafvollzugsanstalten im Land sind voll. Verurteilte warten deshalb oft in Regionalgefängnissen auf ihren Platz im Vollzug – und damit unter deutlich strengeren Bedingungen. Straftäterinnen trifft das besonders hart. Eine von ihnen ist Daniela B.

Blick in eine Zelle des Regionalgefängnisses Thun. Ein Ort, der eigentlich für die Untersuchungshaft konzipiert ist, an dem aber auch immer wieder Menschen Teile ihrer Freiheitsstrafe verbringen. Bild: Christian Pfander

Cedric Fröhlich

 

«Ich bin auch ein Opfer. Ein Opfer meiner Idee, meines Starrsinns.»

Daniela B.* hat Menschen in den Ruin getrieben.

«Ich zähle die Minuten, und die gehen nicht rum.»

Sie wurde zu fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt.

«Ich laufe auf und ab wie ein Tier im Käfig.»

Bis heute hat sie in einer Zelle gewartet. In der falschen.

 

Im Gefängnis

Die schwere Tür fällt mit einem dumpfen «Klock» ins Schloss. Daniela B.* trägt einen Stapel Papier, sie wird ihn das ganze Gespräch wie einen Schild vor sich halten. Die Frau sitzt auf einem Stuhl, hinter der dicken Glasscheibe, Holzwände zu ihrer Rechten und ihrer Linken. Die Enge, sie folgt ihr überallhin, bis in die Besucherkabine des Regionalgefängnisses Thun.

«Hier bin ich also.» Sie beginnt leise. «Wieder da.» Sie wirkt müde. «Dieses Leben ist menschenunwürdig.» Sie ist wütend.

Daniela B. ist eine Straftäterin, verurteilt zu mehreren Jahren hinter Gittern. Und doch sollte sie nicht hier sein, nicht in diesem Gefängnis sitzen. Um dies zu verstehen, muss man die Natur des schweizerischen Strafvollzugs verstehen. Und seine Platzprobleme kennen.

Wer in der Schweiz eine unbedingte Freiheitsstrafe absitzen muss, der kommt nicht ins Gefängnis, sondern in eine Justizvollzugsanstalt. So wäre dies eigentlich vorgesehen. Nur: Dieser Justizvollzug ist überfüllt. Das gilt für die Schweiz generell und den Kanton Bern im Speziellen. Die Konsequenz: Wer zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wird, muss oft in den Regionalgefängnissen des Landes auf seinen Platz warten. Unter knüppelharten Bedingungen. Das Leben spielt sich auf wenigen Quadratmetern ab. Inhaftierte verbringen im Extremfall bis zu 23 Stunden am Tag in ihren Zellen. Hier essen sie, lesen sie, liegen sie auf ihren Betten, starren sie in den Fernseher. Arbeit ist nur sehr beschränkt oder gar nicht verfügbar. Besuche werden strikt reguliert. Der Kontakt zur Aussenwelt findet vor allem via Telefon statt.

Der Unterschied zwischen dem eintönigen Gefängnisalltag und dem Leben in einer Vollzugsanstalt ist gewaltig. Ersterer ist primär für die Untersuchungshaft konzipiert. Oberstes Gebot ist es, zu verhindern, dass Tatverdächtige den Ausgang von Strafuntersuchungen beeinflussen oder abtauchen. Deshalb das strenge Regime. In den Anstalten geniessen Insassen demgegenüber Resozialisierung, das Etablieren von Strukturen, kurz: Die Besserung von Täterinnen und Tätern hat Priorität.

B. ist eine Wartende. Obwohl ihre Schuld juristisch längst geklärt ist, lebt sie unter U-Haft-Bedingungen.

Wie vielen Menschen es genauso ergeht, ist nicht ganz klar. Die Zahlen schwanken, und Langzeitanalysen gibt es keine. Bislang verlassen sich die Kantone und ihre Vollzugsbehörden auf punktuelle Erhebungen. Die letzte nationale ergab, dass sich landesweit 804 Männer und 24 Frauen auf Wartelisten für einen geeigneten Platz befinden (siehe Zweittext).

Betrug

Daniela B. hat ziemlich viele Menschen um sehr viel Geld gebracht. Sie hatte für ein Immobilienprojekt Millionen bei Investoren aufgenommen. Das Projekt scheiterte, und das Geld war weg. Sie wurde festgenommen und landete in U-Haft. Der Alltag damals war der gleiche wie der heutige: 23 Stunden in der Zelle, irgendwann waren es 24. «Ich habe den Hof nicht mehr ausgehalten. Dieses ständige Auf-und-ab-Gehen.» Über ein Jahr lang wurde sie zwischen den Regionalgefängnissen Bern, Biel und Thun verschoben. Dorthin, wo es gerade Platz hatte. Die Fahrten, das Gitter, die Handschellen. Für sie: «Der Horror.»

Nach 384 Tagen wurde sie entlassen. «Ausgespuckt», wie sie sagt. Das ist nun fast zehn Jahre her. Die U-Haft war nicht das Ende, sie war der Auftakt. Es folgte die Zeit der Prozesse, der Verfahren. B. hat sich derweil draussen wieder zurechtgefunden – so gut das eben ging. Sie hat gearbeitet, Steuern bezahlt. Den Pass musste sie abgeben, das Land hat sie seither nie mehr verlassen. Rückblickend war es nur ein Herauszögern. Ende 2018 bestätigte das Bundesgericht das Urteil der Vorinstanzen: Betrug. Veruntreuung. Mehrfach. Eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten.

Hindelbank

Drei Monate nach dem bundesgerichtlichen Urteil traf das Schreiben mit dem Datum ihres Haftantritts ein. Eine Gewissheit schwarz auf weiss. Der 3. Juni. Einrücken im Regionalgefängnis Bern. Einen Monat nach Eintritt hat man sie nach Thun verlegt. Vom einen Gefängnis ins nächste – schon wieder.

An der Freisprechanlage leuchtet ein rotes Lämpchen. Daniela B. erzählt von ihrem Mann. «Er erträgt die Glasscheibe nicht.» Und sie halte es kaum aus, wenn er weine. Darum sehen sie sich nur selten. In Hindelbank, das habe sie gehört, da gebe es einen Garten, in dem man zusammen spazieren könne.

Die Schweizer Anti-Folter-Kommission hat die Hatfbedingungen in den Schweizer Regionalgefängnissen mehrfach kritisiert. Als zu hart und vielerorts als nicht konform mit den verfassungsmässigen Grundrechten. Namentlich die langen Einschlusszeiten und die eingeschränkten Besuchsrechte. Umso erstaunlicher ist das Schicksal von Menschen wie Daniela B. Es ist ein Schicksal, das Frauen überdies besonders hart trifft.

Grund ist das strikte Trennungsgebot. Männlichen und weiblichen Insassen ist jeglicher Kontakt untersagt. Weil nur wenige Frauen in den Regionalgefängnissen einsitzen, sind sie dort stark isoliert. So sagt es Annette Keller, die Leiterin der grössten Schweizer Strafvollzugsanstalt für Frauen: in Hindelbank. «Manchmal haben sie gar keine Mitinsassinnen», so Keller. Die menschliche Interaktion sei dann auf das Personal beschränkt.

Der Kontrast zum Leben in Hindelbank könnte kaum grösser sein. Die Frauen haben hier Möglichkeiten. Können sich ihre Freizeit gestalten, Sport treiben. Sie haben Zugang zu Bildungsangeboten und nicht zuletzt: zu Arbeit. Der Alltag soll Vorbereitung sein auf das Leben in Freiheit.

In Hindelbank sitzen verurteilte Mörderinnen, Frauen, die mit dem Betäubungsmittelgesetz in Konflikt geraten sind – aber auch Betrügerinnen. 107 Frauen aus 25 Nationen verbüssen hier ihre Strafen. Und: Hindelbank ist voll.

Keller hat darauf schon öffentlich hingewiesen, etwa gegenüber den Zeitungen von CH Media. Heute sagt sie: «Das Problem ist seit drei, vier Jahren akut.» Aktuell befinden sich 23 Frauen auf der Warteliste für Hindelbank. Im Schnitt müssen sie sich drei bis fünf Monate in den Regionalgefängnissen gedulden.

Masterplan

Das Platzproblem ist auch ein Berner Problem. Seit Jahren sind die Gefängnisse und Anstalten im Kanton voll oder gar überbelegt, hinzu kommt eine überalterte, teils marode Infrastruktur. Im Mai präsentierte der Berner Regierungsrat ein Massnahmenpaket, wie die Situation in den nächsten Jahren entschärft werden soll. Der neue «Masterplan» sieht unter anderem einen Neubau für 250 Häftlinge vor. Aber auch die Schliessung von Einrichtungen.

Das Angebot soll um 147 Plätze ausgebaut werden, auf insgesamt 1099. Darüber hinaus will der Kanton in die bestehende Infrastruktur investieren. Geplant sind Ausgaben in dreistelliger Millionenhöhe. Das Geschäft wird voraussichtlich in der Herbstsession ein erstes Mal im Grossen Rat behandelt.

Daniela B. wird das nichts nützen. Zwei Monate ihrer Strafe hat sie abgesessen, als Nummer auf einer Warteliste, an einem Ort, an dem sie nicht sein sollte.

Tagebuch und Manifest

Sie hat sich mit ihrem Urteil abgefunden. «Abgeschlossen, bin gescheitert, das ist vorbei. Ich musste das abhaken, sonst wäre ich zerbrochen.» Nicht aber mit ihrer Situation. «Auslöser ist meine Lage, nicht meine Person.» Sie will ihre Rechte wahrnehmen. Arbeiten, vielleicht eine Ausbildung machen, etwas Sinnvolles tun mit ihrer Zeit hinter Gittern. Sie wolle kein Mitleid, sagt sie einmal. «Aber hier läuft etwas schief. Hier!»

Sie meint nicht die Wärterinnen und Wärter. «Sie tun ihr Menschenmöglichstes, haben immer ein gutes Wort parat.» Sie meint den ganzen Rest, die Berner Justiz. «Man hält mich hier drin, damit ich die Decke anstarre – oder in den schwachsinnigen TV.» Wenn sie wieder draussen ist, wird sie fast im Pensionsalter sein. Sie wolle sich nicht abhängen lassen, wieder zurückfinden.

In all der Zeit hat sich viel Papier angestaut. Urteile, Beschwerden, Gesuche. Einiges davon trägt Daniela B. bei sich – ihr Schild. Auf 55 Seiten hat sie ihre Geschichte aufgearbeitet, die ganze Enttäuschung – auch jene über sich selbst. Es ist teils Tagebuch, teils Manifest. Da steht unter anderem:

 

«Heute weiss ich, dass ich den Schaden niemals wieder werde gutmachen können.»

Daniela B. hat Menschen in den Ruin getrieben.

«Das zu akzeptieren, ist das Schlimmste.»

Sie wurde zu fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt.

«Mit dieser Schuld muss ich leben.»

Heute wird sie nach Hindelbank gebracht. Zwei Monate zu spät.

* Name geändert.

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