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Bern

Das teure Warten in den Spitälern geht weiter

Über die Hälfte der Spitalbetten im Kanton Bern ist leer, weil die Coronawelle noch nicht angekommen ist. Nicht dringliche Operationen bleiben trotzdem verboten.

Symbolbild Keystone
  • Dossier

Vor 20 Tagen schlug Gesundheitsdirektor Pierre Alain Schnegg (SVP) Alarm. In wenigen Tagen werde eine Welle von Corona-Patienten den Kanton Bern treffen, kündigte er damals in einem Interview mit der Zeitung «Der Bund» an. Die Spitäler würden schnell alle Kapazitäten im Gesundheitssystem benötigen, womöglich würden die Kliniken an ihre Grenzen kommen.

Glücklicherweise ist es bislang nicht so weit gekommen. Mittlerweile besteht sogar die Hoffnung, dass die vom Bundesrat beschlossenen Massnahmen zur Eindämmung des Virus für viele Kantone gerade noch früh genug gekommen sind und der grosse Ansturm auf die Spitäler vorerst ausbleiben könnte.

Stand gestern Mittag waren in Bern denn auch «nur» 122 Personen wegen Covid-19 hospitalisiert, 34 von ihnen befanden sich in Intensivpflege. Die Zahl der wegen der Lungenkrankheit in die Spitäler eingewiesenen Personen nimmt ebenfalls nicht derart stark zu wie befürchtet. Dasselbe gilt für die täglich bestätigten Neuinfizierungen im Kanton Bern. Die Zahlen variieren zwar stark. Seit mehreren Tagen bleiben sie aber in etwa im selben Rahmen.

1800 leere Betten

Vorbereitet wären die Berner Klinken auf das Schlimmste. Sie haben zusätzliche Kapazitäten geschaffen, Abteilungen zusammengelegt, Freiwillige rekrutiert. Mittlerweile stehen im Kanton 370 Plätze für schwere Corona-Fälle bereit. Nur 9 Prozent dieser Betten werden derzeit von Covid-19-Patienten belegt, wie die aktuelle Übersicht des Kantons zeigt, welche dieser Zeitung vorliegt. Weitere 17 Prozent sind von weiteren Intensivpatienten besetzt.

Auch bei den übrigen Betten ist die Lage nicht viel anders. Weil der Bundesrat den Spitälern alle nicht dringlichen Eingriffe verboten hat, sind die Berner Kliniken im wahrsten Sinne der Worte halb leer. Von den momentan 3400 Betten sind nur 46 Prozent belegt, in einzelnen Spitälern sind es sogar unter 30 Prozent.

Dies führt zu einer bizarren Situation: Die Spitäler warten einerseits auf die grosse Coronawelle, andererseits haben sie zu wenig zu tun. Ärzte, Pflegefachfrauen oder Physiotherapeuten müssen Überzeit abbauen, Ferien nehmen oder sind auf Pikett zuhause. Die Unternehmen verlieren zudem aufgrund der abgesagten und verschobenen Behandlungen Millionen. Angesichts der finanziell angespannten Situation und der vergleichsweise niedrigen Hospitalisationszahlen mehren sich die Stimmen, die eine Aufhebung des flächendeckenden Verbots für Wahleingriffe fordern. Dorit Djelid, Sprecherin des Spitalverbands H+, sagte gegenüber der «SonntagsZeitung», man spreche mit dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) über eine Lockerung.

Gerade für Kantone wie Bern, die nicht derart stark vom Coronavirus betroffen sind wie einst befürchtet, wäre das durchaus sinnvoll, findet auch Gesundheitsökonom Tilman Slembeck von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Je nach Verbreitung des Virus in den einzelnen Kantonen könnte man beginnen, die «teilweise massiven Überkapazitäten» in den Spitälern aufzulösen. «Es sind Milliardenverluste, die da eingefahren werden», sagt Slembeck. In einer ersten Phase, als man noch nicht gewusst habe, wo sich das Virus überall ausbreiten werde, sei es richtig gewesen, so viele Betten bereitzustellen. «Jetzt muss die Reserve aber nicht mehr so gross sein.»

Slembeck warnt jedoch gleichzeitig davor, dass bald jeder Kanton für sich schaue. «Wir benötigen schweizweit eine gewisse Anzahl leerer Betten, sodass sich Kantone auch gegenseitig aushelfen können.»

Biel will nicht lockern

Die Berner Spitäler ihrerseits wagen keine Einschätzung, ob und wann die Welle doch noch kommt. Auch in der Frage, ob Wahleingriffe wieder zugelassen werden sollten, geben sie sich zurückhaltend. Einige, darunter etwa die Spitäler in Biel, Frutigen und Interlaken, fänden es schliesslich falsch, das Verbot zu lockern. Zu schnell könne sich die Situation ändern.

Eine differenzierte Sicht hat der Chefarzt Chirurgie des Spitals Emmental, Stephan Vorburger. «Tatsächlich hat man durch die Analyse der Patientenzahlen den Eindruck, dass die ursprünglich angedachte Bereitstellung von sehr vielen zusätzlichen Spitalbetten revidiert werden könnte», sagt er. Gleichzeitig warnt er: Werden die Massnahmen des Bundes aufgehoben, könnte dies dannzumal einen gegenteiligen Effekt auslösen.

Er gibt zudem zu bedenken, dass viele Narkoseärzte in der Bereitstellung von Beatmungsplätzen involviert seien und deshalb für grössere Eingriffe sowieso nicht zur Verfügung stehen würden. Zudem ergebe eine selektive Lockerung einzelner Massnahmen keinen Sinn. Wenn Risikopersonen nach wie vor zuhause bleiben sollten, dann könne man sie auch nicht für Operationen oder Sprechstunden ins Spital kommen lassen.

Dezidiert anderer Meinung ist im Kanton Bern einzig die Privatklinik Hohmad in Thun. Deren Geschäftsführer Dietmar Krämer würde es sehr begrüssen, wenn die Regelung gelockert würde. Man habe dem Kanton auch einige entsprechende Vorschläge unterbreitet.

Die Zurückhaltung der Spitäler erstaunt nur auf den ersten Blick. Anders als in anderen Kantonen ist hier bereits klar, dass nicht die Unternehmen selbst für die entgangenen Einnahmen werden aufkommen müssen. Der Regierungsrat hat vor zwei Wochen angekündigt, dass der Kanton den Kliniken das Coronadefizit ausgleichen werde. Deshalb haben auch keine Berner Spitäler Kurzarbeit angemeldet, wie es andernorts der Fall ist.

Höhe der Kosten unbekannt

Wie hoch die Kosten sein werden, die auf die klamme Kantonskasse zukommen, lässt sich heute nicht beziffern. Sowohl Spitäler als auch die Gesundheitsdirektion reden von «Millionen». Realistischer dürften vermutlich Dutzende oder Hunderte Millionen sein, wie eine einfache Rechnung zeigt. So nahm die Insel-Gruppe im letzten Jahr 1,5 Milliarden Franken mit stationären und ambulanten Behandlungen ein. Pro Tag ergibt dies durchschnittlich 4 Millionen Franken. Wenn die Kliniken nur zur Hälfte belegt sind, verliert alleine die Insel-Gruppe pro Tag 2 Millionen Franken.

Der Kanton Bern müsse sich diese Kosten aber schlicht auch leisten können, schreibt Gundekar Giebel. Anders als H+ oder Gesundheitsökonom Tilman Slembeck ist die Direktion von Pierre Alain Schnegg nach wie vor in höchster Alarmbereitschaft.

Insbesondere die Anzahl Patienten, die auf der Intensivstation sind und beatmet werden müssen, steige weiter an, so Kommunikationschef Giebel. Der Peak sei noch nicht erreicht, sagt Giebel und mahnt: «Es ist absolut notwendig, so hohe Kapazitäten wie möglich frei zu halten.» Die Hochrechnungen des Kantons basierten auf den Erfahrungen aus dem Tessin, anderen Kantonen sowie aus Italien.

Auf die Frage, ob die Regierung keine Angst habe, Millionen für leere Betten auszugeben, antwortet Giebel: «An oberster Stelle steht die Gesundheit der Bevölkerung.» Beim BAG will man sich momentan aber nicht dazu äussern. Stattdessen verweist man auf die am 16. April geplante Sitzung des Bundesrates. Aus Sicht des Kantons Bern ist es dann noch zu früh. Wann der richtige Zeitpunkt wäre, um einen Teil des nicht dringlichen OP-Betriebs wieder aufzunehmen, kann Giebel nicht sagen. Deshalb hält der Kanton momentan auch an seinem Plan fest, auf den Waffenplätzen 300 zusätzliche Spitalbetten bereitzustellen.

So rasch wird Schnegg also seinen Kurs nicht ändern. Sowieso werde er nach der Coronakrise lieber dafür kritisiert, zu viele Betten bereitgestellt zu haben, als dass nicht alle Patienten richtig behandelt werden konnten, sagte er kürzlich. Marius Aschwanden

Stichwörter: Coronakrise, Spitäler, Pflege

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