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Personalmangel

Der Pflegenotstand erreicht eine neue Stufe

Noch nie waren im Kanton Bern so viele Pflegejobs unbesetzt wie heute. Das bekommen jetzt auch die Patientinnen und Patienten zu spüren.

Walk of Care: Pflegepersonal demonstriert in Bern und wirbt für ein Ja zur Pflegeinitiative. Bild: Christian Pfander
Marius Aschwanden und Brigitte Walser
 
Während in der Asino-Bar Bernerinnen und Berner den Feierabend bei Negroni und Aperol Spritz geniessen, marschieren wenige Meter entfernt 400 bis 500 Frauen und Männer in weissen und blauen OP-Mänteln vorbei. Mit Trillerpfeifen und Sirenen machen sie auf ihre Anliegen aufmerksam, auf Transparenten stehen Parolen.
 
«Pflegenotstand ist heilbar. Geld statt Profit.»
 
«Wer pflegt dich morgen?»
 
«Wir schaffen das so nicht mehr.»
 
Walk of Care nannten die Organisatorinnen die Demonstration vergangene Woche: Marsch der Pflege. Wer sich unter die Teilnehmenden mischte, bekam immer wieder ähnliche Geschichten zu hören. Es sind Geschichten von übermüdetem Personal, von krankheitsbedingten Ausfällen, von grenzwertigen Situationen mit Bewohnerinnen oder Patienten.
 
«Bei uns im Altersheim haben wir jeden Tag zu wenig Personal. Wir versuchen, das auszugleichen, streichen unsere Pausen, verzichten auf den Kaffee», erzählt beispielsweise eine Frau. Immer häufiger reichten diese Bemühungen aber nicht aus. «Weil wir zu wenig Zeit haben, duschen wir die Bewohnenden weniger häufig. Das ist schlimm, aber sie sterben wenigstens nicht daran.»
 
Sie sterben nicht daran
Es sind solche Erlebnisse, welche die Frau und ihre Berufskolleginnen und -kollegen auf die Strasse treiben. Morgen findet in Bern bereits die nächste Demo statt. Denn inzwischen geht es auch um das Werben für eine Ja-Parole: Am 28. November stimmt die Schweiz über die Pflegeinitiative ab. Bundesrat und Parlament wollen die Pflege auch stärken, empfehlen die Initiative aber zur Ablehnung. Sie bevorzugen den indirekten Gegenvorschlag.
 
Die Forderungen des Pflegepersonals sind spätestens mit der Coronapandemie der breiten Öffentlichkeit bekannt geworden. Wie akut der Mangel an ­geeignetem Gesundheitspersonal im Kanton Bern mittlerweile tatsächlich ist, zeigte sich in den letzten Monaten besonders in den psychiatrischen Kliniken.
 
Weil Pflegepersonal fehlte, mussten das Psychiatriezentrum Münsingen (PZM) und die Universitären Psychiatrischen Dienste (UPD) zwei Akutabteilungen mit insgesamt 60 Betten schliessen. «Man sieht ein Bild eines Systems kurz vor dem Kollaps», sagte Thomas Reisch, ärztlicher Direktor PZM, im September gegenüber Radio SRF.
 
Zwar hat sich die Situation wieder ein klein wenig verbessert. Zurzeit werden die Abteilungen wieder schrittweise geöffnet. Trotzdem verzeichnen die Psychiatrien nach wie vor zwei Dutzend offene Stellen. Reisch will denn auch nicht von einer nachhaltigen Entspannung sprechen – im Gegenteil: «Es ist sehr wahrscheinlich, dass es künftig Personalengpässe geben wird, die die Patientenversorgung gefährden.»
 
Die psychiatrischen Kliniken sind derweil kein Einzelfall. Auch in Spitälern können wichtige Pflegestellen nicht besetzt werden. Auf der Intensivstation des Inselspitals mussten bereits die Kapazitäten angepasst werden. Und die Geburtenabteilung im Spital Münsingen musste Mitte August aufgrund akuten Personalmangels gar geschlossen werden.
 
Die Beispiele zeigen: Erstmals ist der Pflegenotstand im Kanton Bern derart gross, dass die Patientinnen und Patienten dies  konkret zu spüren bekommen.
 
1000 Stellen im Kanton
Die Situation hat sich in den ­letzten zwei Jahren schweizweit zugespitzt. Denn die Dauerüberlastung des Pflegepersonals hat sich durch die Coronapandemie noch einmal massiv verstärkt und ist zum Normalfall geworden. Viele Angestellte nehmen eine Auszeit oder wechseln den Job gleich ganz. Offene Stellen können nur mit grösster Mühe wieder besetzt werden. Oder auch gar nicht.
 
So gibt es in keiner anderen Branche so viele offene Stellen wie im Gesundheitswesen. Schweizweit sind es rund 5800 Jobs. Allein im Kanton Bern waren in diesem Oktober 1000 Pflegestellen ausgeschrieben. Vor einem Jahr waren es noch 890, im Januar 2019 sogar erst 670. Das zeigen Zahlen der Firma x28. Deren Suchmaschine findet praktisch alle offenen Jobs, die auf den Websites der Arbeitgeber ausgeschrieben sind.
 
Die Antworten bleiben vage
Wer allerdings versucht, herauszufinden, wie es in den Berner Spitälern, den psychiatrischen Kliniken, den Alters- und Pflegeheimen und den Spitex-Organisationen konkret aussieht, hat es schwer. Die Antworten der Kommunikationsabteilungen bleiben vielfach vage, Zahlen zu offenen Pflegestellen geben nur wenige Institutionen heraus.
 
Ein Spitaldirektor sagt hinter vorgehaltener Hand auch, weshalb er dies nicht tut. Er habe schlicht Angst vor der Reaktion des übrigen Personals, wenn das Ausmass des Pflegemangels in seinem Haus bekannt würde.
 
Von den Spitalchefinnen und -chefs deutlich wird Kristian Schneider vom Spitalzentrum Biel. Er sagt: «Die Situation hat sich stark verschlimmert und ist insbesondere bei spezialisierten Pflegenden dramatisch. Wir haben speziell in den 24-Stunden-Bereichen offene Stellen. Es braucht nicht mehr viel, und wir müssen uns intern reorganisieren.»
 
Immerhin habe der Pflegemangel in Biel bisher nicht dazu geführt, dass das Angebot reduziert werden musste. «Das heisst aber nicht, dass das immer so bleiben wird», so Schneider. Zahlen will auch er nicht herausgeben. Er sagt aber: «Im laufenden Jahr ist die Fluktuation um 25 Prozent höher als 2020. Gleichzeitig gibt es fast keine Pflegenden, die auf Stellensuche sind.»
 
Teure Rekrutierung
Besonders problematisch ist die Situation vielerorts auf dem Notfall oder den Intensivstationen. So ist bei der Insel-Gruppe die Fluktuation 2020 zwar generell gesunken, auf der Intensivstation sei es aber zu mehr Austritten gekommen, so Mediensprecherin Petra Ming. Und weiter: «Jede Kündigung ist eine zu viel und führt dazu, dass die Belastung für das Personal zunimmt, falls es nicht zeitnah zu einer Nachrekrutierung kommt.»
 
Bei den Berner Hirslanden-Kliniken zeigte der Pflegemangel bereits konkrete Auswirkungen. «Je nach Personalsituation muss eine Bettenreduktion oder ein temporärer Aufnahmestopp durchgeführt werden», so Sprecherin Anna-Lea Enzler.
Fast alle Berner Spitäler arbeiten für die Rekrutierung von Pflegepersonal mittlerweile mit Vermittlungsfirmen zusammen. «Ohne solche geht es nicht mehr», sagt Kristian Schneider vom Spitalzentrum Biel. Finanziell sei dies für die Kliniken eine Mehrbelastung. «Die Firmen verlangen zwischen 25 und 40 Prozent mehr für einen normalen Monatslohn.»
 
Verlagerung zur Spitex
Wenn Spitäler oder Psychiatrien Betten reduzieren müssen, bekommt dies der ambulante Bereich zu spüren. Bei der Spitex etwa komme diese Verlagerung zur generellen Zunahme des Pflegebedarfs hinzu, hält Ursula Zybach, Präsidentin des Spitexverbands Kanton Bern, fest. Einen sich stark verschärfenden Personalmangel stelle die Spitex im Bereich der spezialisierten Pflege fest, «besonders im Bereich Psychiatrie und Palliative Care», so Zybach. Bei der Spitex Bern heisst es, das passende Personal zu finden, sei anspruchsvoll, im Betrieb sei die Personalsituation aber sehr stabil.
 
An der Demonstration letzte Woche nahmen auch Mitarbeitende von Alters- und Pflegeheimen teil. Bei Domicil habe sich die Personalfluktuation in den letzten Monaten leicht erhöht und die Suche nach Fachkräften benötige Ausdauer, teilt die Betreiberin von Alterszentren mit. Dank ihrer Grösse und Struktur als Gruppe könne Domicil die fehlenden Personalressourcen aber mit internen Massnahmen auffangen.
 
Schwierige Stellenbesetzung
Die schweizweit tätige Senevita-Gruppe vermeldet eine tiefe Fluktuation, doch wenn eine Stelle frei werde, sei es sehr schwierig, diese wieder zu besetzen: «Auf Stelleninserate erhalten wir auf Tertiärstufe keine und auf Sekundärstufe deutlich weniger Dossiers.» Einzig im Bereich Pflegehilfspersonal meldeten sich sehr viele Personen, die aber oft nicht über die nötigen Qualifikationen verfügten.
 
Dass es nicht fünf vor, sondern fünf nach zwölf ist, haben die Teppichetagen der Spitäler und Heime erkannt. Einen Tag nach der Demonstration des Pflegepersonals in der Berner Innenstadt trafen sich mehr als 100 Führungskräfte aus dem ganzen Kanton Bern auf dem Gelände der UPD zu einer Tagung zum Thema Fachkräftemangel im Gesundheitswesen.
 
Alexandre Schmidt, Vorsitzender der UPD-Geschäftsleitung, machte gleich zu Beginn klar: «Wir haben die Ampel von Orange auf Rot gestellt. Der Tag, an dem ich eine Vielzahl unserer Leistungen stoppen muss, ist weniger weit weg, als man meinen könnte.»
 
«Lohnsysteme überdenken»
Ein Patentrezept hatten aber weder die Referentinnen und ­Referenten, die teilweise aus anderen Branchen stammten, noch die Teilnehmenden zu bieten. Deutlich wurde jedoch, dass nicht nur die Politik gefordert ist, um bessere Rahmenbedingungen zu schaffen, sondern auch die Unternehmensleitungen. So sagte etwa Markus Jordi, Leiter Human Resources bei den SBB, in seinem Vortrag: «Wir müssen auch unsere Lohnsysteme überdenken. Jene Personen, die an der Front arbeiten, werden im Vergleich zu anderen Positionen zu schlecht bezahlt.»
 
Dieser Appell dürfte beim Pflegepersonal gut ankommen.

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