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Sprachpolitik

Die verpasste Chance des Kantons

Die bernische Bildungsdirektion und Interessengruppen fahren eine regelrechte Kampagne für die Zweisprachigkeit. Sie ist zur obersten Regierungssache avanciert.
 Der Enthusiasmus gerade der jungen Bernerinnen und Berner für das Französisch ist aber klein.

Nur in der Stadt Biel wird die Zweisprachigkeit wirklich gelebt. Bild: Keystone

Stefan von Bergen

Es ist, als ob der Kanton Bern gerade seine Zweisprachigkeit entdecken würde. Kaum ein Monat vergeht ohne flammenden Aufruf, Studie oder Medienkonferenz zur Förderung des Bilinguisme. Heute debattiert der Grosse Rat in seiner Frühlingssession über Französischlehrmittel. Und am Freitag wollte die Alliance française de Berne an der Universität Bern eigentlich zur Tagung «Der Bilinguismus auf dem Prüfstand» laden. Wegen des Coronavirus fällt sie aber aus.

Die Tagung wäre die jüngste Spitze einer ganzen Reihe von Anlässen gewesen, die wie eine lang gezogene Kampagne für die Zweisprachigkeit aussieht.

Appelle, Labels
und neue Studien

So wurde zuletzt Ende Februar dem Oberingenieurkreis Biel des kantonalen Tiefbauamts das Label für Zweisprachigkeit vergeben. Schon zum dritten Mal. Was nicht weiter erstaunt, weil die Stadt Biel zweisprachig ist und das Amt auch einen Ableger im Berner Jura hat.

Kurz vor Weihnachten präsentierte die Vereinigung «Bern bilingue» eine Studie über Französischkompetenzen, die das Institut für Mehrsprachigkeit der Universität Freiburg erarbeitet hat. Schon im September hatte «Bern bilingue» ein Positionspapier vorgelegt, in dem die Organisation eine umfassende Förderung der Zweisprachigkeit von der kindlichen Frühförderung bis zur Erwachsenenbildung forderte. Sie plädierte gar für zweisprachige Strassenschilder in allen Berner Gemeinden. Und sie rief zu einem klaren Bekenntnis für den Bilinguisme auf.

Dieses hatte die bernische Kantonsregierung schon Ende Juni abgegeben. In einer Medienmitteilung tat sie kund, dass die Existenz von zwei Landessprachen für die ganze Berner Bevölkerung «eine Chance ist, die es zu ergreifen gilt, und für den Kanton ein Trumpf, den er ausspielen muss». Die Zweisprachigkeit ist zur obersten Regierungssache avanciert. In der Regierungsstrategie «Engagement 2030» ist ihre Aufwertung und die Stärkung Berns als Brücke zur welschen Schweiz eines von 25 strategischen Zielen.

Ein wenig Englisch können heute alle. Gute Französischkenntnisse aber sind eine im schweizerischen Arbeitsmarkt gefragte, besondere Qualifikation. Der zweisprachige Kanton Bern hätte dafür gute Voraussetzungen. Bloss: In all den Bilingue-Appellen werden vor allem hehre Absichtserklärungen geäussert. Die Kampagne aber wirkt hölzern, auf die Schule fixiert und von oben verordnet. Eine zentrale Frage wird selten beantwortet: Wie kann man die Zweisprachigkeit zu mehr machen als zu einem eher desinteressierten Nebeneinander von zwei Sprachgruppen? Wie kann man sie besser nutzen und innerhalb wie auch ausserhalb der Schule die Neugier für Französisch fördern?

In einem seltsamen Kontrast zu den Bilingue-Aufrufen steht derzeit der gewachsene Unmut über die im Kanton Bern obligatorischen Französischlehrmittel «Mille feuilles» auf der Unter- und «Clin d’œil» auf der Oberstufe. Im Grossen Rat werden dazu heute gleich zwei Motionen aus dem bürgerlichen Lager behandelt, die im Fach Französisch eine Lehrmittelfreiheit für Schulen und Französischlehrer fordern.

Das Obligatorium des Französischlehrmittels ist in der Kompetenz von Bildungsdirektorin Christine Häsler (Grüne). Sie hat auch schon ihre Bereitschaft für eine Lehrmittelfreiheit signalisiert und lässt eine Arbeitsgruppe dafür Abklärungen treffen. Dennoch würde ein zusätzliches Votum des Kantonsparlaments in der Sache zusätzlichen Druck aufbauen. Französischlehrer könnten einem Entscheid für die Lehrmittelfreiheit gar Positives abgewinnen. Sie könnte die Fixierung auf «Mille feuilles» und generell das Bashing des Französischunterrichts vermindern, hoffen sie.

Optimistische Bildungsdirektion

Die Debatte über die Französischlehrmittel in der Politik könnte allerdings auch zeigen, dass die andere Landessprache auf wenig Gegenliebe stösst. «Im Gegenteil», widerspricht Erwin Sommer, Vorsteher des Amtes für Kindergarten und Volksschule auf der Bildungs- und Kulturdirektion (BKD) des Kantons Bern: «Die Diskussionen um die Fremdsprachlehrmittel können eine positive Wirkung haben und die Schulen motivieren, Fremdsprachenkenntnisse zu vertiefen.»

«Die Bildungsdirektion unterstützt die Bestrebungen aller Partner, die das Interesse der Schülerinnen und Schüler an der Zweisprachigkeit und an Austauschprogrammen wecken», sagt Sommer. Er erwähnt einen Stand an der BEA, mit der die BKD die breite Öffentlichkeit für solche Programme gewinnen will. Austausch ist das Zauberwort. Sommer erwähnt Projekte und Klassenpartnerschaften, bei denen sich welsche den deutschsprachigen Schülern aus dem Kanton Bern begegnen. Gibt es einen messbaren Erfolg dieser Massnahmen? «Im Moment stellen wir eine Zunahme der Anfrage nach Austauschprojekten fest», sagt Sommer.

Die wenigen verfügbaren Zahlen über die effektiven Französischfähigkeiten im Kanton Bern bleiben allerdings ernüchternd. Die Studie des Freiburger Instituts für Zweisprachigkeit ergab für die Schüler in den Kantonen, die «Mille feuilles» und «Clin d’œil» einsetzen: Nur gerade 32,8 Prozent erreichen beim Leseverstehen die gesteckten Lernziele. Beim Hörverstehen waren es immerhin 57 Prozent, beim Sprechen bloss 10,8 Prozent.

Die Stunde der Wahrheit
ist die Matur 2021

Für Alexandre Schmidt, den früheren Stadtberner Gemeinderat und Präsidenten von «Bern bilingue», ist dieser Befund «prekär». Bei der Präsentation der Studie im Januar warnte er davor, dass eine ganze Generation von Kindern die Schule ohne genügende Französischkenntnisse verlassen könnte.

Auch die Fähigkeiten beim Übertritt ans Gymnasium sind nicht berauschend. Das weiss Roger Hiltbrunner, Französischlehrer am Gymnasium Biel-Seeland und Leiter der kantonalen Fachschaft Französisch. Nachdem der erste mit «Mille feuilles» geschulte Jahrgang die Quarta, das erste Gymnasiumsjahr, absolviert hatte, führte er im Herbst 2018 eine nicht wissenschaftliche Umfrage unter Lehrerkollegen durch. Sein Befund damals: «Die ans Gymnasium Übertretenden können schlecht bis mittelmässig schreiben, Verben konjugieren fällt vielen schwer, ihr Wortschatz ist allgemein dürftig, beim Sprechen gibt es grosse Unterschiede.»

Am Gymnasium herrsche indes keine Alarmstimmung, sagt Hiltbrunner. Die Lehrer seien zuversichtlich, dass sich die Französischkenntnisse noch verbesserten. Die Stunde der Wahrheit sei aber die Matura 2021. Die Frage sei, ob die 1900 Berner Maturanden dann die geforderten Ziele erreichen. Mehr Sorgen machen ihm aber die rund 80 Prozent der Schüler ausserhalb des Gymnasiums. «Wie gut Französisch können diese Jugendlichen am Ende der obligatorischen Schulzeit?» fragt er.

Die Zukunftsperspektive ist eher düster, denn von den Schulen tritt gerade eine jüngere Generation von Französischmuffeln in die Arbeitswelt über. Sie empfinden Französisch als uncool. Ihre Vorliebe gilt der globalen Internetsprache Englisch, die sie freiwillig und auf Youtube statt nur im Schulzimmer lernen. Aber auch die 30- bis 40-Jährigen sind nicht übertrieben frankophil. Müssen welsche und deutschsprachige Teams in der Arbeitswelt kooperieren, sprechen sie oft Englisch.

Die andere Landessprache gilt als lästige Pflicht

Das Französische hat im Kanton Bern ein Imageproblem. Umgekehrt auch das Deutsche im französischsprachigen Berner Jura: Die andere Landessprache gilt als lästige Pflicht und schwer erlernbar. Mit Aufrufen und ein paar befristeten Austauschprojekten entsteht noch keine gelebte Zweisprachigkeit. Dazu ist schon nur die gegenseitige Neugier der beiden Sprachgruppen im Kanton zu klein.

«Es genügt nicht, mit guten Absichten anzutreten», bestätigt der Bilingue-Experte Heinz Wismann. Es brauche auch vertieftes Wissen über die Mehrsprachigkeit. Der Sprachwissenschaftler und Philosoph ist in Berlin aufgewachsen, lebt seit Jahrzehnten in Paris und schreibt auf Französisch. An der geplanten, nun abgesagten Tagung an der Uni Bern hätte er referieren sollen. Man hätte von ihm erfahren können, dass die Mehrsprachigkeit ihre Tücken hat.

Am Telefon berichtet Wismann von einem Einschnitt in der Sprachentwicklung der Kinder. Sprechen ihre Eltern verschiedene Sprachen, können Kleinkinder switchen und Vater oder Mutter in deren jeweiliger Sprache ansprechen. Dann aber, mit drei oder vier Jahren, wenn sich das Kind als Subjekt zu verstehen beginne, entscheide es sich für eine Hauptsprache, in der es sich zu Hause fühle. «Man kann nicht in zwei Sprachen gleich spontan und kreativ sein», sagt Wismann.

Auch wenn man eine zweite Sprache sehr gut erlernt habe, müsse man sich darin immer Mühe geben. «In einer Fremdsprache fühlen wir uns ein Stück weit fremdbestimmt», erklärt Wismann. «Es ist sinnvoll, mehrere Sprachen zu lernen, aber wir brauchen immer eine Hauptsprache, in der wir uns sicher fühlen.» Die Berner Bilingue-Promoter sollten Wismanns Gedanken in ihre Förderprogramme einfliessen lassen.

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