Sie sind hier

Abo

Wileroltigen

Erneut setzen urbane Zentren durch, was im Kanton gilt

In der umstrittenen Abstimmung über einen Transitplatz der Fahrenden haben die urbanen Agglomerationen wieder einmal besser mobilisiert und die Landregionen überstimmt. Sogar auf dem Land stimmten diverse Gemeinden überraschend Ja.

Symbolbild: Keystone

Stefan von Bergen

Für die bernische SVP ist es ein Déjà-vu: Wie schon bei den nationalen Wahlen oder der kantonalen Sozialhilfeabstimmung von 2019 blieben nun auch bei der Abstimmung über den Transitplatz Wileroltigen viele Stimmberechtigte auf dem Land der Urne fern. Zwar gab es in den sieben ländlichen, von der SVP dominierten Wahlbezirken Nein-Mehrheiten. Weil in den urbanen, eher rot-grün tickenden Wahlkreisen Bern-Mittelland und Biel sowie im Berner Jura der Aufmarsch der Stimmenden und die Zahl der Befürworter überdurchschnittlich hoch waren, wurde die Vorlage mit einem Ja-Stimmen-Anteil von 53,5 Prozent dennoch angenommen.

Landbewohner meiden Urne

Man könnte annehmen, dass ein Standplatz für Fahrende auf dem konservativen Land kritisch gesehen wird und breiten Widerstand weckt. Aufgrund der demografischen Stärkeverhältnisse könnte die Berner Landbevölkerung die Städte eigentlich auch überstimmen. Allerdings nur dann, wenn die Stimmbeteiligung auf dem Land hoch genug ist. Genau das aber war am Abstimmungssonntag nicht der Fall.

«Wir haben auf dem Land ein alarmierendes Mobilisierungsproblem», räumt Nils Fiechter ein. Er ist Co-Präsident der Jungen SVP des Kantons, die gegen den Kredit für den Transitplatz Wileroltigen das Referendum ergriffen hatte. Es ist nicht das erste Mal, dass der Aufmarsch an der Urne auf dem Land zu schwach war, um den Städten Paroli zu bieten.

Stadt Bern mobilisiert stark

Im ganzen Kanton betrug die Stimmbeteiligung im Schnitt 40,2 Prozent. In den Landregionen lag sie bloss zwischen 33 und 40 Prozent. Der einwohnerstärkste, städtisch und rot-grün geprägte Wahlbezirk Bern-Mittelland aber schwang mit 45,2 Prozent deutlich obenaus.

Zur Annahme der Transitplatzvorlage trugen vor allem auch die grossen Städte Bern und Biel mit hohen Ja-Anteilen bei. 49,8 Prozent der Stadtbernerinnen und Stadtberner gingen an die Urne, zwei Drittel von ihnen stimmten für die Vorlage. In Köniz stimmten 45,3 Prozent ab, mit deutlicher Mehrheit für den Transitplatz. Selbst in der bürgerlichen Stadt Thun resultierte bei einer Stimmbeteiligung von 41,3 Prozent eine knappe Ja-Mehrheit. Auch die Landstädte und grossen Dörfer Burgdorf, Langenthal, Herzogenbuchsee, Steffisburg, Spiez und Interlaken nahmen die Vorlage an.

«Das bringt ja eh nichts»

In den Städten haben die beiden nationalen Vorlagen – die Wohnungsinitiative und die Ausdehnung der Antirassismusstrafnorm auf Homosexuelle – die weltoffenen Stimmberechtigten noch zusätzlich mobilisiert. Auf dem Land führen solch gesellschaftsliberale Vorlagen offenbar nicht zwingend zur Ablehnung, sondern bisweilen auch zu Desinteresse.

«Viele Leute haben die Einstellung, dass es ja eh nichts bringt abzustimmen», deutet Co-Parteipräsident Nils Fiechter von der Jungen SVP des Kantons Bern die ländliche Politverdrossenheit. Er führt diese zurück auf die 2014 angenommene SVP-Initiative «Gegen Masseneinwanderung», die in seinen Augen «von den Linken gezielt nicht umgesetzt» worden sei. Allerdings verfügten die Linken gar nie über eine Mehrheit, mit der sie die Missachtung der Initiative allein hätten durchsetzen können. Schon gar nicht im Kanton Bern.

Überraschende Ja-Sager

Auch der Co-Präsident der Jungen SVP ist überrascht, dass am Sonntag nicht einmal die Landregionen geschlossen Nein sagten zum Transitplatz Wileroltigen. In allen Kantonsgegenden gab es im Nein-Lager überraschende Ja-Ausreisser. Im Oberaargau hat etwa die dünn besiedelte Gemeinde Rohrbachgraben mit 73 Ja gegen 56 Nein dem Transitplatz zugestimmt. «Das hat mich schon überrascht und uns veranlasst, noch einmal nachzuzählen», sagt Gemeindeschreiber Christian Iseli. Er habe keine Erklärung dafür, sagt er, man müsste schon bei den Stimmenden einzeln nachfragen.

Auch die Gemeinde Amsoldingen bei Thun, die normalerweise nicht mit fortschrittlichen Entscheiden auffällt, hat den Transitplatz überraschend deutlich mit 160 gegen 84 Stimmen angenommen. «Ich bin sehr erstaunt, ich habe das so nicht erwartet», sagt Amsoldingens SVP-Gemeindepräsident Stefan Gyger auf Anfrage. Er könnte sich vorstellen, dass durch die Einrichtung eines Standplatzes für einheimische Fahrende im nahen Allmendingen der Eindruck entstanden sei, die Sache lasse sich ja sauber regeln.

Weltoffenes Schwanden

Anders als alle Nachbargemeinden haben auch Schwanden bei Brienz und Brienzwiler im östlichen Berner Oberland dem Transitplatz zugestimmt. Schwandens parteilosen Gemeindepräsidenten Heinz Egli erstaunt das allerdings nicht. Die Einwohnerschaft seiner Gemeinde habe seit der starken Zuwanderung zwischen 1975 und 1995 eine besondere Zusammensetzung, schon 2014 habe Schwanden die Initiative «Gegen Masseneinwanderung» als «einzige Gemeinde weit und breit abgelehnt». Knapp gutgeheissen mit 44 gegen 39 Stimmen wurde der Standplatz der Fahrenden auch im peripheren Guttannen an der Grimselpassstrasse. Gemeindeschreiberin Magdalena Gasser kann das Ergebnis nicht erklären. Sie könnte sich aber vorstellen, dass es leichter sei, zu einer Sache Ja zu sagen, wenn man davon so weit weg sei wie Guttannen.

Haben vielleicht einige Landbewohner gar so überlegt: Wir sagen besser Ja zum Transitplatz im fernen Wileroltigen, damit niemand auf die Idee kommt, bei uns einen einzurichten? «Nein, auf keinen Fall, ländliche Regionen wie das Seeland oder das Obersimmental haben den Kredit mit Nein-Anteilen von fast 60 Prozent wuchtig abgelehnt», widerspricht Nils Fiechter von der Jungen SVP. Seine Partei habe jedenfalls das Möglichste getan, diesen Eindruck zu vermeiden. Auf dem Abstimmungsplakat habe man ja dargestellt, wie das ganze Kantonsgebiet mit Wohnwagen zugestellt werde, sodass der Berner Bär die Flucht ergreifen müsse.

Neue regionale Gewichtung?

Eines ist für Nils Fiechter nach der Referendumsniederlage seiner Jungpartei klar: «Wir müssen unbedingt Mittel finden, dass der Stadt-Land-Graben an der Urne nicht grösser wird.» Der Co-Chef der Jungen SVP will mit seiner Parteileitung und der kantonalen SVP-Spitze mehrere Varianten besprechen. Im Fokus stehe die stärkere Gewichtung einzelner Regionen. Das dürfte unter Berner Politikerinnen und Verfassungsjuristen allerdings zu reden geben.

Vorerst muss die SVP auf dem Land also die Politbegeisterung ihrer Anhänger wieder wecken.

*****************

Lauperswil verwechselt Ja und Nein

Selbst die Einwohner im emmentalischen Lauperswil staunten gestern Morgen, als ihr Wohnort auf der Abstimmungskarte zum Transitplatz Wileroltigen als grüne Ja-Insel im roten Meer der Nein-Sager aufleuchtete. Konnte das wirklich sein, dass 410 Stimmberechtigte der konservativ tickenden Gemeinde für den auf dem Land umstrittenen Standplatz der Fahrenden gestimmt hatten – und nur 206 dagegen? So hatte es der Lauperswiler Stimmausschuss am Abstimmungsabend an die Zentrale in der Kantonshauptstadt Bern durchgegeben.

Nun zeigt sich: Die Lauperswilerinnen und Lauperswiler, die heute fanden, das könne nicht sein, waren zu Recht misstrauisch. Wie Gemeindeschreiber Jürg Sterchi dieser Zeitung bestätigt, wurden in der Hitze des Gefechts am Wahlabend die Ja- und die Nein-Stimmen vertauscht. Korrekt sei, dass es in Lauperswil 410 Nein-Stimmen gegen und 206 Ja-Stimmen für den Transitplatz gegeben habe. «Dem Stimmausschuss ist bei der Übermittlung des Resultats ein Flüchtigkeitsfehler unterlaufen», räumt Sterchi ein.

Man habe nun die Korrektur über das Regierungsstatthalteramt nachgemeldet. Von der Staatskanzlei in Bern habe man gestern Nachmittag den Bescheid erhalten, dass der Fehler kein juristisches Nachspiel erfordere, sagt Sterchi. Denn erstens wirke sich der irrtümliche Zahlentausch vom Abstimmungssonntag nicht auf das Gesamtresultat aus. Und zweitens würden die definitiven Abstimmungsresultate erst im kantonalen Amtsblatt vom übernächsten Mittwoch publiziert. Bis dann gibt es laut Jürg Sterchi noch Spielraum für Korrekturen.

Laut Sterchi hat auch niemand eine Nachzählung verlangt. Lauperswil hat also noch einmal Glück gehabt. Abstimmungszahlen vertauscht hätten auch schon andere Gemeinden, tröstet sich Sterchi. svb

*****************

Die Behörden in Kerzers geben sich betont ruhig

«Wir haben das Resultat zur Kenntnis genommen.» Nicole Schwab reagiert betont ruhig auf das Ja der Bernerinnen und Berner zum Transitplatz bei der Autobahn bei Wileroltigen. Auch wenn das Dorf, dem die SVP-Politikerin als Gemeindepräsidentin vorsteht, weit stärker betroffen sein wird als die Standortgemeinde selber: Sobald der neue Halteort offen und belegt ist, werden in Kerzers Abend für Abend ausländische Fahrende auftauchen. 

Denn der Transitplatz wird gegen Wileroltigen hin abgezäunt. So wird er einzig von der Autobahn her zu erreichen sein, und die nächste Auffahrt liegt nun mal in Kerzers.

Konflikt in der Badi

Dumm nur, dass Kerzers jenseits der Kantonsgrenze im Freiburgischen liegt und damit weder seine Behörden noch seine Bevölkerung beim 3,3-Millionen-Projekt mitreden können. Bei den Gegnern sorgt das auch nach der verlorenen Abstimmung noch für Emotionen: Man könne doch nicht ein Problem derart an die Peripherie verlegen und die Folgen den zum Stillschweigen verdammten Nachbarn aufbürden, hiess es Sonntagabend.

«Das darf uns nicht ärgern», nimmt Schwab den Faden wieder auf. «Wir kennen unser politisches System, wissen um unsere besondere Situation direkt an der Grenze.» Das scheinen auch die Kolleginnen und Kollegen so zu sehen: In der letzten Zeit sei der Transitplatz in ihrem Gemeinderat jedenfalls kein Thema mehr gewesen, erklärt sie. Genauso wenig mag sie auch bei diesem Punkt in den Chor der Kritiker einstimmen. Diese beschwörten ebenfalls am Sonntagabend das Bild von Roma-Gruppen herauf, die in Scharen im Schwimmbad, in den Läden oder an den Tankstellen auftauchen.

In der Badi sei es in der Tat mal zu einem Konflikt gekommen, als die Fahrenden in Kleidern das Bassin gestürmt hätten, sagt Schwab dazu. Inwieweit ihre Anwesenheit auch den Läden oder Tankstellen schade, könne sie dagegen nicht abschätzen. Den einen oder anderen Zwischenfall möge es geben, von einem schwerwiegenden Problem könne aber nicht die Rede sein. «Sonst hätten wir als Behörden davon gehört.»

Wunsch nach Mitsprache

 

Einen Wunsch in Richtung Bern hat Schwab trotzdem. Sie möchte, dass Kerzers in der geplanten Begleitgruppe mitmachen kann. So, wie dies für Wileroltigen geplant ist: «Wir werden als Gemeinderat dem Regierungsrat einen Brief schreiben und ihm unsere Mitarbeit anbieten.» Stephan Künzi

Nachrichten zu Kanton Bern »