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Mitholz

Experten halten die Räumung für machbar

Die Planung zur Räumung der verbleibenden Weltkriegsmunition in Mitholz schreitet voran. Der Projektleiter erkennt «ein Licht am Ende des Tunnels».

Munitionsexperte Kurt Barmettler zeigt, in welchem Zustand sich die "Mitholzer" Munition heute befindet. Bild: Bruno Petroni

Nik Sarbach

Tausende Fliegerbomben und Minen, Hunderttausende Granaten, mehrere Millionen Gewehr- und Pistolenpatronen; verrostet, verbeult, teils zersplittert, zugeschüttet und eingeklemmt zwischen Felsbrocken, an manchen Stellen verbacken zu einer meterdicken Masse aus Schutt und Asche: Dieser Nachlass aus einer anderen Zeit rostet bis heute in Mitholz vor sich hin. Nun soll das alles weg. 3500 Tonnen Munitionsrückstände aus den 1930er- und 40er-Jahren. Doch um alles in der Welt: Wie soll das gehen?

Diese Frage treibt seit Monaten ein ganzes Team von Spezialisten um, darunter auch Franz Bär. Er ist stellvertretender Kommandant der Spezialeinheit Kamir, des Kompetenzzentrums für Kampfmittelbeseitigung und Minenräumung der Schweizer Armee. Seine Mannen – beim Kamir arbeitet eine einzige Frau, als Sekretärin – werden die heikle Mission ausführen. «Als wir den Auftrag erhielten, musste ich erst mal tief durchatmen», sagt Bär. Das war Anfang letzten Jahres.

Laufend neue Erkenntnisse

Mittlerweile ist die anfängliche Ratlosigkeit spürbarem Tatendrang gewichen. Dank zusätzlicher Untersuchungen und aufwendiger Recherchen wissen Bär und seine Spezialisten heute schon viel besser, was sie in Mitholz genau erwartet. Doch das ist verglichen mit dem Wissensstand von 2018 nicht nur Gutes.

Als im Mai 2019 und im Januar dieses Jahres neue Kabel zur Anlage verlegt wurden, stiessen die Bauarbeiter zweimal auf Granaten, die 1948 offenbar zusammen mit Geröll und Schutt vor der Anlage deponiert worden waren. Verzeichnet war das freilich nirgends. «Das bedeutet, dass wir keine Bodeneingriffe mehr vornehmen, ohne vorher den Boden abzusuchen», sagt Franz Bär.

Nicht nur bei der Räumung 1948 wurde nach heutigem Ermessen teils fahrlässig gearbeitet: Beim Bau einer zweiten Ebene im Felsinnern kippten die Arbeiter in den 1960er-Jahren Ausbruchmaterial im grossen Stil auf die bestehenden Schuttkegel; auf jene Schuttkegel also, in denen das VBS allein rund 1000 Tonnen Munition vermutet. Was aus heutiger Sicht schauerlich klingt, verhilft Bär zu einer positiven Erkenntnis: «Offenbar ist die verschüttete Munition nicht hochexplosiv, sonst wäre damals etwas passiert», sagt er. Wird das Risiko einer neuerlichen Explosion also überschätzt?

Nein, sagt Jörg Mathieu, Spezialist für Explosivstoffe beim Bundesamt für Rüstung (Armasuisse): «Die Explosivstoffe sind noch da, und sie sind noch reaktionsfähig.» Und das, obwohl sie seit Jahrzehnten in spröden Hülsen bei hoher Luftfeuchtigkeit vor sich hin rosten. Mathieu stützt seine Aussage auf verschiedene Tests, die sein Team in den letzten Monaten durchgeführt hat. Dabei liessen die Spezialisten Munition aus Mitholz in verschiedenen Kombinationen und unter unterschiedlichen Bedingungen hochgehen. Die Erkenntnis: Eine detonierende Granate kann durchaus eine 50-Kilogramm-Fliegerbombe mit 21 Kilogramm TNT zur Explosion bringen. Und um eine Granate auszulösen, reicht unter Umständen ein Steinschlag – angesichts der instabilen «Flueh» in Mitholz keine rosigen Aussichten.

Doch nicht nur mechanische, sondern auch chemische Vorgänge stellen ein Risiko dar: In den Zündern bestimmter Granaten kann sich mit der Zeit sogenanntes Kupferazid bilden, wenn Feuchtigkeit eindringt. Ist der Prozess weit genug fortgeschritten, können sich Spannungsrisse bilden, welche im schlimmsten Fall zu einer spontanen Detonation führen. Dieses Szenario sei zwar «sehr unwahrscheinlich», sagt Mathieu, könnte aber die Ursache der Katastrophe von 1947 gewesen sein.

Gefahr durch «Nester»

Die Detonation einer Granate wäre insbesondere dann verheerend, wenn sie sich in einem «Munitionsnest» ereignen sollte, einer Anhäufung von Munition auf kleinem Raum. Bislang sei aber kein solches entdeckt worden, hält Mathieu fest, nicht einmal in den hintersten Winkeln des einstigen Eisenbahnstollens. Auch diesen Bereich haben Spezialisten mittlerweile erkunden können, teils auf allen vieren kriechend. Noch im Februar war das Ende des Stollens ein blinder Fleck gewesen.

Bei den Experimenten mit Mitholzer Munition handle es sich zwar um Einzelversuche, erklärt Mathieu. Sie seien dennoch aussagekräftig, denn sie lieferten genauere Eckwerte für die Berechnung möglicher Explosionen – im Jargon harmlos «Ereignisse» genannt. Und genau solche Simulationen sind die Basis für die genauere Beurteilung des Risikos, das vom einstigen Munitionslager heute noch ausgeht.

Nicht zuletzt bilden die Versuche – zusammen mit Geländevermessungen, historischen Recherchen und Begehungen – die Grundlage für die Räumung. Beginnen soll diese mit Felssicherungen, denn vor allem die Oberkante der «Flueh» ist sehr instabil. Sobald von Steinschlägen für die Arbeiter keine Gefahr mehr ausgeht, beginnt das Abtragen des «Dreispitzes», eines gewaltigen Brockens, der 1947 vom Fels abgesprengt wurde, aber aufrecht stehen blieb.

«In den obersten 20 Metern ist keine Munition zu erwarten, daher lässt es sich hier relativ gefahrlos arbeiten», erklärt Franz Bär. Erst auf Höhe des einstigen Eisenbahnstollens wird es heikler. Liegt dieser Bereich erst frei, wird der Schutt dem Tunnel entlang im Tagbau schrittweise abgetragen. Dabei kommt voraussichtlich dasselbe Gerät zum Einsatz wie beim Rückbau des AKW Mühleberg: ein Raupenfahrzeug mit unterschiedlichen Aufsätzen, das sich aus einer Entfernung von bis zu einem Kilometer millimetergenau steuern lässt. Wo nötig, wird der «Manipulator» die einzelnen Munitionsstücke aus der eingangs erwähnten Masse meisseln.

Dennoch ist Handarbeit unverzichtbar: Jede einzelne Granate, jede einzelne Mine, jede einzelne Bombe wird von einem Experten begutachtet und auf ihre Gefährlichkeit hin überprüft. Kein einfacher Job: Eine Fehleinschätzung kostet schlimmstenfalls Menschenleben. Die gefährlichsten Teile werden auf dem vorgesehenen Sprengplatz in sicherer Entfernung von der Anlage kontrolliert gesprengt.

Bomben sind am einfachsten

In der ebenfalls zu bauenden «Delaborierungsanlage» werden die empfindlichen Zünder von den weniger gefährlichen Sprengkörpern getrennt und vernichtet, bevor die übrigen Einzelteile gefahrlos abtransportiert werden können. Ausgerechnet die grössten Brocken stellen dabei das kleinste Problem dar: Die 50-Kilogramm-Fliegerbomben sind allesamt nicht mit Zünder versehen. «Wenn wir es in Mitholz nur mit Fliegerbomben zu tun hätten, könnten wir die alle einfach raustragen», sagt Franz Bär.

Zwar ist die Räumung von mehreren verwinkelten Zugängen her vorgesehen, dennoch wird pro Angriffspunkt aus Sicherheitsgründen nur eine einzelne Person arbeiten. Das erklärt, weshalb die Räumung der gewaltigen Menge an Munition voraussichtlich bis zu 10 Jahre dauern wird.

«Wenn man Vorsicht walten und die richtigen Leute arbeiten lässt», resümiert Franz Bär, «dann kann man Mitholz räumen.» Damit dürfte der Notfallplan einer Überdeckung des Geländes demnächst wohl vom Tisch sein, auch wenn das VBS die Planung sicherheitshalber noch fortführt.

Bundesrat entscheidet heuer

Noch dieses Jahr will das Team um den Thuner Oberst und Projektleiter Hanspeter Aellig dem Bundesrat eine konkrete Räumungsvariante unterbreiten. Bis dahin laufen weitere Untersuchungen und Tests, deren Ergebnisse in die Risikobeurteilung einfliessen. Auch die Berechnungen zur Wirkung der geplanten Vorausmassnahmen und Schutzbauten werden darin Niederschlag finden.

Hanspeter Aellig schliesst nicht aus, dass sich der Gefahrenperimeter dadurch verändern wird. Dieser legt unter anderem fest, welche Mitholzerinnen und Mitholzer während der Räumung evakuiert werden müssen. Sollten sich die bisherigen neuen Erkenntnisse bestätigen, kann die Mitholzer Bevölkerung davon ausgehen, dass der Perimeter zumindest nicht wächst – im Gegenteil.

Stichwörter: Mitholz, Munition, Armee

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