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Mitholz

«Ich war in allen zugänglichen Teilen der Anlage»

Es ist ein Jahrhundertprojekt: die Räumung des ehemaligen Munitionslagers von Mitholz. 3500 Tonnen Munition warten auf Beseitigung und Entsorgung.
Verantwortlich für die Variantenevaluation ist Hanspeter Aellig.

Hanspeter Aellig, Leiter Variantenevaluation Mitholz: «Ich bin überzeugt, dass die Gefahr in Mitholz nicht akut ist.» Bild: Christoph Gerber

Interview: Stefan Geissbühler

Hanspeter Aellig, Sie haben den explosivsten Job der Schweiz gefasst – können Sie noch schlafen?

Hanspeter Aellig: Offen und ehrlich gesagt schlafe ich derzeit mehrheitlich schlecht. Ich nehme meine Arbeit sehr ernst und bin mir der Tragweite meiner Aufgabe bewusst. Die Situation ist definitiv nicht einfach. Vor allem für die Bewohnerinnen und Bewohner von Mitholz nicht.

Es handelt sich um eine gigantische Zeitbombe, die im Berg schlummert und entfernt werden muss. Was qualifiziert Sie für diese Herkulesaufgabe?

Ich bin ursprünglich Metallbautechniker und habe dann als Berufsoffizier mehrere grosse Projekte im Bereich Bereitschaft der Armee geleitet. 2018 wurde ich unter Bundesrat Guy Parmelin als Projektleiter Variantenevaluation Mitholz eingesetzt.

Beim Fall Mitholz handelt es sich aber um ein Jahrhundertprojekt mit beispiellosen Dimensionen.

Ich bin Projektleiter und kann auf ein Team von 50 Mitarbeitenden, intern und extern, zählen. Ich muss die diversen Teilbereiche orchestrieren. Die Zusammenarbeit ist interdisziplinär, es sind unter anderem Ingenieurbüros und Risikoanalysten beteiligt. Grundsätzlich habe ich den Auftrag, bis im Sommer mögliche Varianten aufzuzeigen, um das Risiko, welches vom ehemaligen Munitionslager ausgeht, zu senken. Und eine Variante, die die Räumung des ehemaligen Munitionslagers Mitholz umfasst. Wir befinden uns in der Phase der Variantenevaluation respektive im Stadium der Machbarkeitsstudien.

Also Schreibtischarbeit und nicht Arbeit im Stollen.

Nein, wir sind beinahe täglich vor Ort. Im ehemaligen Munitionslager selber war ich bereits über 15-mal.

Sind Sie bis zum «blinden Fleck» im hintersten Teil des Bahnstollens vorgedrungen?

Ich war in allen zugänglichen Teilen der Anlage, zum Teil auf allen Vieren.

Mit welchen Gefühlen?

Berufsbedingt bin ich es gewohnt, mit Sprengstoff umzugehen. Zudem sind jeweils Spezialisten aus der Armee dabei. Klar, habe ich Respekt, mache mir aber keine Sorgen.

Das ist Tiefstapelei, nicht einmal die Spezialisten wissen, in welchem Zustand die Munition wirklich ist.

Das ist teilweise so, aber genau diese Arbeit müssen wir jetzt zuerst erledigen. Wir konnten bisher einige Teile bergen und analysieren, uns fehlt aber noch das wissenschaftlich abgestützte Gesamtbild. Wir wissen, dass sich etwa 3500 Bruttotonnen Munition in der Anlage befinden. Aber den effektiven Zustand der Munition müssen wir noch weiter untersuchen, ja.

Von welcher Art Munition sprechen wir?

In der Anlage befindet sich schweizerische Munition aus der Weltkriegszeit, von der 50 Kilogramm schweren Fliegerbombe über Artillerie- und Panzermunition bis hin zu Handgranaten und Gewehrpatronen – das ganze Sortiment also.

Wann wissen Sie mehr über den Zustand dieses Sortiments?

Unser Ziel ist es, die technischen Untersuchungen bis spätestens im Jahr 2024 abgeschlossen zu haben. Damit wir ganz klar und verbindlich sagen können, wie sich das Resultat auf die Risikoanalyse auswirkt. Im Moment gehen wir davon aus, dass die Munition überträgt. Will heissen, dass es bei der Explosion einer Granate zu einer Kettenreaktion kommen könnte. Aber auch das ist nach aktuellem Kenntnisstand nur eine Annahme. Wir müssen jetzt genau untersuchen, wo und wie die Munition liegt und welches die auslösenden Momente sind.

Garantieren, dass es in den nächsten Jahren nicht wieder zu einer folgenschweren Kettenreaktion wie im Jahr 1947 kommt, können Sie nicht.

Hier stützen wir uns auf die sehr klare Risikobeurteilung aus dem Jahr 2018. Die Experten beurteilen ein kleineres Ereignis, also die Explosion von einer Tonne Sprengstoff, als plausibelstes Ereignis. Mit einer Ergebnishäufigkeit von einmal pro rund 300 Jahre. Mit einer Explosion von 10 Tonnen Sprengstoff ist laut Experten alle 3000 Jahre zu rechnen. Zum Vergleich: 1947 sind über 30 Tonnen explodiert.

Hand aufs Herz: Auch Sie fahren mit einem mulmigen Gefühl durch Mitholz.

Nein, überhaupt nicht. Ich bin überzeugt, dass wir und die Experten gute Arbeit abgeliefert haben und dass die Gefahr in Mitholz nicht akut ist.

Das ist Zweckoptimismus.

Nochmals: nein. Ich habe mich persönlich mit der sehr guten Arbeit der Experten auseinandergesetzt.

Zur Bevölkerung von Mitholz: Sie waren dabei, als den Bewohnerinnen und Bewohnern die Schreckensnachricht überbracht wurde. Ihre Gefühle beim Blick in die konsternierten Gesichter?

Das war ein sehr schwieriger Augenblick. Als ich die Auswirkungen während der langen Vorbereitungsphase und der eigentlichen Zeit der Räumung präsentierte, habe ich den Betroffenen in die Augen geschaut und mir vorgestellt, wie ich reagieren würde.

Und wie hätten Sie reagiert?

Wie die Betroffenen mit Konsternation oder Ratlosigkeit. Aber: Unser erklärtes Ziel ist es, dass in Mitholz nach der Räumung wieder risikolos gelebt werden kann. Es gab an den Informationsveranstaltungen auch Menschen, die das auch als Chance sehen.

Es ist doch illusorisch, zu glauben, dass die Bevölkerung nach zehn Jahren Evakuation nach Mitholz zurückkehren wird.

Das ist Ihre Einschätzung. Ich bin viel in Mitholz unterwegs und spreche oft mit den Leuten. Viele Mitholzer stellen sich auf den Standpunkt, dass die Munition geräumt werden muss. Und dass man deshalb mit den Konsequenzen leben und ein grosses Opfer bringen muss. Damit man wieder gefahrlos in Mitholz leben kann. Das ist unser Ziel, und deshalb sind wir mit Hochdruck daran, unsere Pläne voranzutreiben.

Was sagen Sie einem heute 70-jährigen Ehepaar, das in zehn Jahren Mitholz verlassen muss?

Ich habe grosses Verständnis für solch schwierige Konstellationen. Im Sommer starten wir, neben dem Teilprojekt Variantenevaluation, unter anderem das Teilprojekt Unterstützung der Bevölkerung. Hier werden wir jeden Fall, von Familie zu Familie, von Einzelperson zu Einzelperson, genau abklären und mit den Betroffenen besprechen.

In der Mitwirkung sollen sich Laien zu sehr komplexen Fragestellungen äussern. Diese Mitwirkung ist doch nichts als ein Feigenblatt.

Widerspruch! Wir stellen in der Mitwirkung genau jene Fragen, welche die Bevölkerung beschäftigt. Wie kann mir der Bund konkret helfen? Soll er mein Grundstück kaufen? Einen alternativen Wohnort suchen und anbieten? Schutzbauten für meine Liegenschaft erstellen? Die Meinung der Bevölkerung ist uns äusserst wichtig. Sie wird ein wichtiger Teil des Berichts zuhanden des Bundesrats sein, den ich im Sommer abliefern muss.

Nicht weniger als zehn Jahre sollen die Vorarbeiten für die Räumung des ehemaligen Munitionslagers dauern – warum dauert das so lange?

Das ist aus verschiedenen Gründen so: Wir müssen komplexe Bauvorhaben planen, zum Beispiel für den Schutz von Schiene und Strasse. Ein weiterer baulicher Aspekt: Hinter dem Dreispitz, der markanten Felsformation an der Flueh, vermuten wir besonders viel Munition. Deshalb müssen wir zuerst den Dreispitz abtragen oder sichern – das allein wird bis zu acht Jahre dauern.

Nochmals: In dieser langen Zeit kann etwas passieren. Drängen sich nicht Sofortmassnahmen per Notrecht auf?

Wir haben bereits Sofortmassnahmen umgesetzt. Die gesamte Anlage wird mit insgesamt 60 Kameras und Sensoren überwacht. Damit können Veränderungen der Temperatur, Gasentwicklungen oder Felsbewegungen gemessen werden. Werden definierte Grenzwerte überschritten, werden sofort Alarmierungsmechanismen ausgelöst. Es besteht eine Notfallplanung, der Bevölkerung wurde ein Merkblatt für das richtige Verhalten im Notfall abgegeben. Jetzt sind wir daran, die sogenannten Vorausmassnahmen umzusetzen. Im Fokus stehen erste Schutzmassnahmen gegen den vermuteten Trümmerwurf im Falle einer Explosion. Raschmöglichst wollen wir bei den Eingängen der Anlage zum Beispiel Stahlbetonverbauungen, Hochdrucktore und Netze in stallieren.

Was heisst raschmöglichst?

Mit diesen Arbeiten wollen wir nächstes Jahr beginnen. Ganz aktuell führen wir übrigens Kernbohrungen durch, um die Wasserqualität zu testen. Bisher ist dort alles im grünen Bereich.

Apropos Wasser: Nach der Katastrophe von 1947 wurde Munition aus Mitholz in den Oberländer Seen versenkt. Eine weitere Baustelle.

Sehen Sie: Nach heutigem Wissenstand würde man ein Munitionslager niemals so nahe bei Bevölkerung, Schiene und Strasse bauen. Und die Entsorgung von Munition in den Seen wäre heute schlicht undenkbar. Detaillierte Untersuchungen vor einigen Jahren haben gezeigt, dass die Munition unter dem Seegrund in Schlick verpackt und versiegelt ist. Nach unseren Einschätzungen ist dies sicherer als eine allfällige Bergung der Munition.

Konkret nochmals zur Räumung ab circa dem Jahr 2031: Wie sieht der Plan aus?

Bei Räumungsbeginn wird der Dreispitz abgetragen sein, damit wir von oben nach unten arbeiten können. Aufgrund des heterogenen Zustands der Anlage haben wir ein flexibles Räumungskonzept erstellt. Wir werden Schritt für Schritt vorangehen. Und dabei voraussichtlich auch ferngesteuerte Baumaschinen einsetzen. Aber es werden auch die weltweit anerkannten Experten des Kommandos Kamir aus Spiez (Kamir ist die Fachstelle der Schweizer Armee im Bereich Kampfmittelbeseitigung und Minenräumung, Anmerkung der Red.) zum Einsatz kommen, die unproblematische Munition «von Hand» entfernen werden. Das Kommando Kamir verfügt über eine ganze Palette von Räummethoden.

Das erklärte Ziel ist die Räumung der Munition. Sie halten sich aber mit der Überdeckung des ehemaligen Munitionslagers mit Gestein eine Hintertür offen. Das ist Taktik.

Wenn dieser Eindruck entstanden ist, haben wir das zu wenig genau erklärt. Wir haben absolut klar gesagt, dass das Ziel die Räumung ist. Bis alle 
Munition entfernt und entsorgt ist. Punkt. Aber: Sollte sich bei der Räumung herausstellen, dass diese schlicht zu gefährlich wird, müssten wir wohl oder übel die Option Überdeckung prüfen. Wir werden aber auf jedem Fall mit der Räumung beginnen, wie gesagt Schritt für Schritt vorangehen – und die Sicherheitslage jederzeit überprüfen.

Freuen Sie sich darauf, dass Sie in vier Jahren pensioniert werden? Das ist lange vor der heissen Phase.

Ich arbeite sehr gern und erachte es als Privileg, mit der Leitung der Variantenevaluation Mitholz beauftragt worden zu sein. Ich setze persönlich alles daran, dass unsere Pläne in die Tat umgesetzt werden können.

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Zur Person

  • Der 1964 geborene Adelbodner Hanspeter Aellig ist Metallbautechniker und arbeitete als Berufsoffizier der Panzertruppen in verschiedenen Funktionen auf dem Waffenplatz Thun, zuletzt als Kommandant der Panzerschulen.
  • Seit 1993 arbeitet der Oberst im Generalstab beim Eidgenössischen Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport, aktuell als Leiter des Projekts Variantenevaluation Mitholz.
  • Er sitzt für die FDP im Thuner Stadtrat, ist verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Söhnen. sgt
Stichwörter: Mitholz, Armee, Munitionslager

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