Sie sind hier

Abo

Jungfraubahnen

Schweizer Touristen gesucht

Ohne asiatische Gäste sieht das Geschäft bei den Jungfraubahnen mau aus. Die Lücke sollen nun die Einheimischen schliessen. Man kommt ihnen sogar entgegen: mit Rösti statt mit Bollywood-Küche.

Hier ist die Coronadistanz derzeit kein Problem: Urs Kessler (Mitte), Chef der Jungfraubahnen. Bild: key

Quentin Schlapbach

Dunkle Wolken türmen sich auf. Sie schmiegen sich eng an die wohl berühmteste Bergkulisse der Welt – Eiger, Mönch und Jungfrau. Während das Wetter langsam umschlägt, verlässt der Zug ratternd den 2061 Meter über Meer gelegenen Bahnhof auf der Kleinen Scheidegg. Es ist einer der Letzten, der an diesem Donnerstag aufs Joch hochfährt.

Normalerweise herrscht um diese Jahres- und Tageszeit hier oben Hochbetrieb. Reisegruppen und Individualtouristen aus der ganzen Welt – vor allem aus Asien – wollen zum «Top of Europe». An diesem Junitag ist es im Zugwaggon aber fast schon gespenstisch still. Die meisten Abteile sind leer. Der einzige Geräuschpegel stammt von einer Gruppe Bauarbeiter, die bei der Station Eigergletscher bereits wieder aussteigt.

Seit dem 6. Juni fahren die Jungfraubahnen wieder aufs Joch hoch. Über zwei Monate musste der Betrieb zuvor wegen der Pandemie ruhen. Es war der längste Unterbruch des Bahnunternehmens seit dem Ersten Weltkrieg. Sogar zwischen 1939 und 1945, als sich halb Europa gegenseitig bekriegte, fuhren die Züge zuverlässig aufs Joch hoch.

Für die Jungfraubahnen kam die Zwangspause Mitte März quasi einer Vollbremsung bei voller Geschwindigkeit gleich. Das Geschäft lief in den letzten Jahren zuverlässig, wie eine gut geölte Maschine. Die wachsende Nachfrage aus Asien sorgte für immer neue Rekordergebnisse. Mit der V-Bahn, die Anfang Dezember 2020 fertiggestellt sein wird, schien die Grundlage für ein weiteres Wachstum bereits geschaffen. Zwölf Monate Hochsaison, lautet die Vision des Bahnunternehmens.

Wegen der Coronakrise mussten die Jungfraubahnen nun aber kurzfristig die Weichen neu stellen. Der zuverlässige Strom asiatischer Reisegruppen bleibt diesen Sommer definitiv aus. Eine Saison lang müssen sie sich auf ein Gästesegment konzentrieren, das zuletzt – zumindest was die Reise aufs Joch betrifft – nur noch einen kleinen Teil der Kundschaft ausmachte: die Einheimischen. Das Jungfraujoch werde diesen Sommer ganz den Schweizerinnen und Schweizer gehören, sagte Urs Kessler, Chef der Jungfraubahnen, als der Betrieb wieder aufgenommen wurde. An diesem verhangenen Donnerstagnachmittag ist dies der Fall. Von den wenigen Leuten, die im Wolkenmeer ausharren, sprechen fast alle Schweizerdeutsch.

Zwei ältere Paare aus dem Kanton St. Gallen teilen sich die Aussichtsplattform auf dem Sphinx-Observatorium mit einer Handvoll Bergdohlen. Eigentlich sollten sie jetzt irgendwo zwischen Österreich und Kroatien sein, erzählen sie. Von Wien mit dem Velo der Donau entlang und dann noch ein Ausflug in die kroatische Küstenstadt Split, so lautete der Plan für die Sommerferien. Aber eben, Corona. Jetzt stehen hier stattdessen Tagesausflüge an, wie heute aufs Jungfraujoch. Es gefalle ihnen gut hier oben, auch wenn sie sich besseres Wetter erhofft hätten.

Schweizer sind wählerisch

Der Wetterbericht wird dieses Jahr für die Jungfraubahnen so wichtig sein wie lange nicht mehr. Denn Reisegruppen aus Asien kommen aufs Joch, obs stürmt, windet oder schneit. Ihre Rundreisen durch Europa sind in der Regel so getaktet, dass es kein Warten auf besseres Wetter gibt. Luzern, Interlaken, Jungfraujoch – die Checkliste einer klassischen Schweizreise muss jeweils innert weniger Stunden abgehakt sein, bevor es ins nächste Land geht.

Schweizerinnen und Schweizer hingegen sind wählerisch. Wenn es «hudlet», will niemand aufs Joch. Die Jungfraubahnen machen deshalb ihren Personaleinsatz neu auch vom Wetter abhängig. An schönen Tagen werden jeweils mehr Leute und Züge aufgeboten als an garstigen.

An diesen Prachtstagen – wie Anfang letzte Woche – waren viele Züge aufs Joch schon wieder voll besetzt, sagt Kommunikationsleiterin Kathrin Naegeli. Die Jungfraubahnen – wie kaum ein zweites Unternehmen so sensibilisiert darauf, was eine zweite Coronawelle fürs Geschäft bedeuten könnte – verteilen mittlerweile sogar «proaktiv» Masken an die Gäste.  Zu Beginn der Krise war der Grossteil der über 1000 Mitarbeitenden noch in Kurzarbeit. Mittlerweile ist es noch rund die Hälfte.

Rösti statt Tikka Masala

Während das Hauptgeschäft langsam wieder etwas anzieht, haben es die Shops auf dem Joch  schwerer. Viele der Geschäfte haben ihr Sortiment voll auf die asiatische Kundschaft ausgerichtet. Nicht viele Schweizer fahren extra auf 3454 Meter über Meer, um sich eine Uhr kaufen.

Im Souvenirladen vor Ort sieht man die Situation dennoch positiv. Sie sei froh, dass es in den letzten Tagen immerhin wieder etwas mehr Leute hatte, sagt die Verkäuferin. Auch Schweizerinnen und Schweizer kaufen nämlich Souvenirs. Weniger Schneekugeln oder Uhren wie die Asiaten, dafür zum Beispiel Textilien wie T-Shirts oder Jacken.

Auch die Gastronomie hat sich der Schweizer Kundschaft angepasst. Die Speisekarte wurde extra um einige typische heimische Menüs erweitert. Rösti mit Bratwurst, Ghackets mit Hörnli, Schnitzel mit Pommes frites – die Klassiker der Berggastronomie stehen ab sofort täglich auf der Karte. Das indische Restaurant Bollywood hingegen hat bis auf weiteres geschlossen.

Corona-Pass solls richten

Frühere von den Jungfraubahnen durchgeführte Umfragen  haben gezeigt, dass etwa die Hälfte der Schweizer Bevölkerung schon auf dem Jungfraujoch war. Zuletzt machten nicht-asiatische Gäste allerdings nur noch 30 Prozent der Kundschaft aus – und da sind alle Deutschen, Franzosen und Amerikaner mitgezählt.

An der Verbesserung dieser Statistik wollen die Jungfraubahnen dieses Jahr arbeiten. Mit Unternehmen wie Coop oder der Raiffeisenbank wurden Sonderaktionen vereinbart. Zu mehr Schweizer Gästen soll aber insbesondere auch der Jungfrau-Corona-Pass beitragen. 299 kostet das Angebot mit Halbtax. Die nicht ganz unumstrittene Namensidee kam von Firmenchef Urs Kessler persönlich.

Bis im November kann man mit dem Pass so oft aufs Jungfraujoch hochfahren, wie man will. Auch für Ausflugsziele wie den Harder Kulm oder die Schynige Platte ist der Pass gültig. Das Angebot laufe gut, sagt Unternehmenssprecherin Kathrin Naegeli. Wie viele Pässe bereits verkauft wurden, dürfe man aber noch nicht kommunizieren – die Information sei börsenrelevant.

Dennoch wird das Jahr 2020 als Krisenjahr in die Firmengeschichte der Jungfraubahnen eingehen. Auch 2021 rechnet Urs Kessler noch mit einem «Übergangsjahr». Aber dann sollen sich die dunklen Wolken spätestens lichten.

Wie schnell das in der Natur gehen kann, zeigt sich kurz vor der Fahrt zurück auf die Kleine Scheidegg. Ein kräftiger Windstoss fegt plötzlich alle Wolken weg und legt für einige Minuten die Sicht auf den Aletschgletscher frei. Auf dem Schneefeld, wo sich sonst Dutzende Gäste tummeln, ist für einmal kein Mensch sichtbar. Nur die Bergdohlen kreisen am Himmel.

Nachrichten zu Kanton Bern »