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Zivilschutz

Tauglich in Zeiten der Krise

Seit den Anfängen im Kalten Krieg führt der Zivilschutz ein Schattendasein. In diesen sonderbaren Tagen zeigt sich, wie wertvoll 
die Arbeit der Männer in Orange und Grün tatsächlich ist.

Die Stadtberner Zivilschützer sind seit Wochen im Nahkampf mit dem Virus. Bild: Zivilschutz und Rettung Bern
  • Dossier

Cedric Fröhlich

Da standen wir also, in unseren orange-grünen Uniformen, an der gefühlt meistbefahrenen Kreuzung im Berner Oberland und sollten den Verkehr regeln, der doch eigentlich flüssig lief. Es war der Frühsommer 2008 und wir, das waren rund 15 junge Männer, vom Militär für untauglich befunden, darum angehende Zivilschützer. Eine Kreuzung im Griff zu haben, gehörte zu unserer Grundausbildung.

Die Sache ging eigentlich gut los. Der Erste stellte sich auf die Kreuzung, mit weissen Handschuhen an den Händen und dem kleinen Mutz auf dem Kopf. Und er regelte. Der Zweite kam, dann der Dritte, keine Probleme.

Alles, was es zur Eskalation letztlich brauchte, war ein verunsicherter Zivilschutz-Anwärter und ein ungeduldiger Autolenker. Als der Instruktor wutentbrannt auf die Kreuzung stapfte, die Wagentür aufriss und dem Lenker die Meinung geigte, herrschte auf der Kreuzung schon das nackte Chaos. Die Folge war ein wütendes Hupkonzert. Ich erinnere mich an mindestens einen ausgestreckten Mittelfinger, an einen peinlich berührten Kameraden, ans abrupte Ende der Übung.

Das ist der Zivilschutz

Eine Truppe, die Verkehr regelt, wo es nichts zu regeln gibt, die Arbeit verrichtet, die sie besser anderen überlässt: der Polizei, der Feuerwehr, den Profis. Seit seinen Anfängen im Kalten Krieg nie ganz ernst genommen, haften dem Zivilschutz Klischees an, führt er eine Art Schattendasein. Teilweise zu Recht.

In diesen surrealen Tagen wird das Schweizer Milizsystem – und damit auch der Zivilschutz – einem Stresstest unterzogen, wie es ihn seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt hat. Die Armee hat darauf mit 5000 Soldaten und der grössten Mobilisierung seit dem Zweiten Weltkrieg geantwortet, am Dienstag aber bereits wieder den geordneten Rückzug angetreten. Derweil liefen die Einsätze des Zivilschutzes fast unter dem Radar an. Sie wurden zwar ebenfalls effektvoll angekündigt (850 000 bewilligte Diensttage), gehen seither aber unspektakulär und reibungslos über die Bühne.

Im Nahkampf mit dem Virus

Aleksandar Mikovcic hat die letzten zehn Tage damit verbracht, in Fahrzeuge zu steigen, in denen das Virus mitfuhr. Zehn Tage am Stück reinigte er Sanitätsautos, die Corona-Patienten ins Spital brachten, Verdachtsfälle einlieferten. Mikovcic ist 33 Jahre alt, kein Virologe, aber YB-Fan. In normalen Zeiten arbeitet er als Gebäudetechniker.

Es hat mit einem Alarm angefangen, einer SMS seines Kommandanten und der Frage, ob er bereit wäre, Dienst zu leisten. Mikovcic hat sich daraufhin freiwillig gemeldet. Als er zum ersten Mal mit dem Virus ins Fahrzeug stieg, sei das schon speziell gewesen. «Aber wir hatten unsere Instruktionen», sagt er im Videochat, zurück von der Corona-Front, wieder zu Hause. Mikovcics Job war es, die Wagen nach den Transporten virenfrei zu machen. Mit Mundschutz, Brille und Pelerine ausgerüstet, reinigte er Oberflächen. Dann kam der Nebel zum Einsatz, ein biologisches Desinfektionsmittel, das ins Fahrzeuginnere geblasen wird und die Viren bis in die hinterste Ritze abtötet.

Den Beitrag geleistet

Im Zivilschutz landet, wer vom Militär für untauglich befunden wird. Die Gründe dafür sind meist gesundheitlicher Natur: Diabetes, Rücken, Psyche. Bei Mikovcic war es das Knie. Aus ihm wurde deshalb kein Soldat, sondern ein Zivilschützer, einer von denen, die bei Grossanlässen im Einsatz stehen, Wanderwege warten, Waldarbeiten erledigen und im örtlichen Pflegeheim aushelfen.

Es gehört zu den Eigenheiten des Schweizer Milizsystems, dass sich im Ernstfall Hunderte Leute wie Aleksandar Mikovcic in aussergewöhnlichen Situationen wiederfinden. Anders als die meisten von uns ging er da raus, um etwas beizutragen. «Ich konnte etwas Sinnvolles tun und die Sanitäter entlasten – das war Grund genug.»

Am 16. März löste Reto Ledermann den Alarm aus, der auch auf Mikovcics Smartphone aufploppte. Covid-19 war in der Schweiz, in Bern angekommen. Der Bundesrat hatte die Schrauben angezogen, und grosse Teile der Bevölkerung verabschiedeten sich ins Homeoffice und in die Isolation. Der ranghöchste Stadtberner Zivilschützer funktionierte längst im Pandemiemodus.

Anders als die Armee verschickte Ledermann keine Aufgebote. 750 Angehörige der Zivilschutzorganisation Bern plus erreichte ein Bereitschaftscheck. «Die Rückmeldungen waren überwältigend», so Ledermann. Reto Ledermann ist 41 Jahre alt und Kommandant der Zivilschutzorganisation der Hauptstadt, an die sieben Vorortsgemeinden angeschlossen sind. Im Kanton Bern gibt es 30 solche Organisationen, 21 davon haben oder hatten in den letzten Wochen Füsse am Boden, also Männer im Einsatz.

Bevor er Kommandant wurde, war Ledermann 18 Jahre lang Instruktor bei der Armee. Über seine Truppe sagt er: «Die Männer sind nicht einfach eine Nummer.» Wenn sie einrücken, ist auch er da und, wenn es ein Problem ausserhalb der Arbeitszeiten gibt, innerhalb von 25 Minuten «auf Platz».

Kein roter Knopf

Nur Tage nach dem Alarm hatte der Kommandant von all seinen Leuten eine Antwort. Wie viele Zivilschutzorganisationen setzen sie auch in Bern aktuell auf die Freiwilligkeit der Truppe. Wer helfen kann, soll kommen. Für wen es gerade schwierig ist, für den springen andere ein.

«Ich bin der Meinung, dass es nicht zweckmässig gewesen wäre, einfach auf den roten Knopf zu drücken und allen zu sagen: Daher!», so Ledermann. Einerseits gebe es unter den Angehörigen des Zivilschutzes Ärzte oder Leute aus Pflegeberufen. Die wollte er «sicher nicht einfach einziehen». Und andererseits sei die Situation für alle Berufstätigen fordernd genug. Bislang funktioniert das.

Auch weil die Lage überschaubar ist. Im März leistete Ledermanns Truppe 148 Diensttage, deutlich weniger als erwartet: Zehn Stadtberner Zivilschützer waren beim Aufbau des Testzentrums im Wankdorf beteiligt.

Vier leisten in wechselnder Besetzung an sieben Tagen die Woche Führungsunterstützung im Krisenstab des Inselspitals, zwei weitere tun dasselbe beim Kernstab des Regionalen Führungsorgans (RFO) Bern plus, also in der Schaltzentrale des Stadtberner Zivilschutzes. Zwei weitere stehen bei der Reinigung der Fahrzeuge der Sanitätspolizei im Einsatz. Und seit Dienstag unterstützen drei Zivilschützer zudem Alters- und Pflegeheime in der Hauptstadtregion.

Die grosse Welle, sie ist bislang ausgeblieben. «Ein gutes Zeichen», so Ledermann. Weil es bedeute, dass die zivilen Institutionen nicht am Anschlag sind. Sollte es doch noch ärger kommen, wäre er bereit. «Wenn es hart auf hart kommt, sind innerhalb von zwei Tagen bis zu 140 Mann auf freiwilliger Basis einsatzbereit.» Und wenn das nicht reicht, würde man auf das klassische Alarmaufgebot setzen und könnte durchgehend aufbieten.

Das schlanke Aufgebot hat den Vorteil, dass dem Zivilschutz keine grosse Demobilisierung, wie sie der Armee bevorsteht, durchführen muss. Wie lange Ledermann und seine Leute im Einsatz bleiben, lässt sich nur schwer sagen. Zu viele Faktoren sind unklar: Ist der Peak erreicht oder nicht? Folgen weitere Wellen?

«In Krisen Köpfe kennen»

Der Zivilschutz erfüllt eine Sonderrolle in der föderalen Schweiz. Er ist grundsätzlich bei den Gemeinden angesiedelt, der Kanton koordiniert, der Bund legt die grossen Linien fest – etwa die 850 000 Zivilschutz-Diensttage.

Wenn eine Gemeinde und namentlich die ortsansässigen Institutionen wie Spitäler und Heime Unterstützung benötigen, beantragen sie diese bei der Gemeinde und ihrem Zivilschutz. Diese Nähe ist in Krisen ein Vorteil, sagen Verantwortliche. Weil die Leute die örtlichen Gegebenheiten kennen, die Gefahren, die Szenarien für Hochwasser und Erdbeben. «In Krisen Köpfe kennen», nennt es Reto Ledermann.

Er weiss um den zuweilen schwierigen Ruf des Zivilschutzes. Die Frage der Daseinsberechtigung sei nicht immer einfach zu beantworten. «Uns haftet der Staub vergangener Zeiten an.»

Die Aufbauphase des Zivilschutzes fiel in die heisseste Phase des Kalten Krieges. Die Schweizer Antwort darauf wird in einem historischen Rückblick auf den Seiten des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz als «visionär und weltweit einzigartig» beschrieben: der Luftschutzkeller.

Die Schweiz wurde zum Land mit der weltweit höchsten Bunkerdichte pro Kopf. Der Zivilschutz spielte eine zentrale Rolle – bis heute verwaltet er die grössten von ihnen, die Zivilschutzanlagen. Wahrgenommen wurde er lange, wenn die Kontrolle der privaten Betonkeller anstand.

Die einstige Kernaufgabe, sie ist längst aus dem Fokus gerückt und der Zivilschutz versierter geworden. In der öffentlichen Wahrnehmung ist das nur bedingt angekommen. Reto Ledermann hat es sich zum Ziel gemacht, das zu ändern. «Weil dieses Bild längst nicht mehr der Realität entspricht.» Man müsse aktiver sein, sichtbarer. Gerade in diesen Tagen, im Ernstfall. Denn: «Der Zivilschutz ist an einem Wendepunkt.»

Sind Sie jemals auf einer Kreuzung gestanden und haben den Verkehr geregelt? Ich wünsche es Ihnen nicht. Teil der Zivilschutz-Grundausbildung ist es übrigens bis heute. Und das zu Recht.

Stichwörter: Zivilschutz, Milizsystem, Bern

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