Sie sind hier

Abo

Nationalratswahlen

Wer zieht beim Berner Sesseltanz den Kürzeren?

Weil die Berner Delegation nur noch 24 statt 25 Sitze zählt, wird
 die Ausmarchung bei den diesjährigen Nationalratswahlen enger.

Bild: Keystone
  • Dossier

Stefan von Bergen

Die nationalen Wahlen vom 20. Oktober gleichen im Kanton Bern einem Sesseltanz. Wie beim Spiel, in dem es weniger Stühle als Teilnehmer gibt, muss der Kanton Bern ab 2020 auf einen seiner derzeit 25 Sitze im Nationalrat verzichten. Eine zentrale Frage der Wahlen lautet also: Welche Partei muss einen Sitzverlust befürchten?

Schon 2015 wurde die Berner Delegation im Bundeshaus um einen auf 25 Sitze verkleinert. Für jede Legislatur legt der Bundesrat aufgrund der ständigen Wohnbevölkerung die Nationalratssitze pro Kanton neu fest. Mitte der 1960er-Jahre belegten die Berner noch 34 der 200 Plätze. Weil Berns wirtschaftliche Anziehungskraft mittelmässig und die Zuwanderung schwach ist, verlor es im Nationalrat seither an Boden. In der kommenden Legislatur geben Bern und Luzern deshalb je einen Sitz an die Waadt und Genf im boomenden Genferseebecken ab.

 

Wacklige Restmandate

Die 651 Bernerinnen und Berner, die sich bis zum Montag bei der Staatskanzlei für die Nationalratswahlen angemeldet haben (siehe Zweittext), müssen sich also neu auf 24 Sitze beschränken. Um einen Sitz zu erringen, braucht es nun mehr Wählerstimmen als bisher. Drei Berner Nationalratsmitglieder treten ab: Adrian Amstutz von der SVP, Hans Grunder von der BDP und Margret Kiener Nellen von der SP. Für die 22 Bisherigen, die wieder antreten, gibt es also theoretisch genug Plätze.

Zittern müssen wohl vor allem jene Parteien, die vor vier Jahren nur knapp ein sogenanntes Restmandat errungen haben, für das es weniger Stimmen braucht als für ein Vollmandat. Es waren dies die SVP, die einen neunten Sitz gewann, und die SP, die einen sechsten Sitz holte. 2015 lag der Berner Mehrfachparlamentarier Erich Hess auf Platz neun der SVP-Liste. Bei der SP reichte es knapp für den früheren Berner Stadtpräsidenten Alex Tschäppät, nach dessen Tod rückte Travailsuisse-Präsident Adrian Wüthrich aus Huttwil auf. Ob Hess oder Wüthrich allerdings um ihre Wiederwahl fürchten müssen, liegt am 20. Oktober in der Hand der Wählerinnen und Wähler.

 

Mark Balsigers Modelle

Der Berner Politberater Mark Balsiger erkennt noch einen dritten «Wackelsitz»: in der politischen Mitte bei der BDP oder den Grünliberalen (GLP). Er kann sich für die Wahl im Oktober zwei Modelle vorstellen. Für Modell 1 überträgt er die heutige Sitzverteilung auf noch 24 Sitze. Die jüngst kriselnde Grosspartei SVP würde dann einen Sitz verlieren. «Die SVP hat 2015 überraschend und aufgrund des damals virulenten Flüchtlingsthemas einen zusätzlichen Sitz geholt», begründet Balsiger die Annahme.

Für sein zweites Modell hat Balsiger die Wähleranteile bei den Kantonswahlen 2018 (siehe Grafik) auf die anstehenden nationalen Wahlen hochgerechnet. Die SP hat damals im Kantonsparlament um 3,2 Prozent zugelegt, und die Grünen haben zumindest keine Verluste erlitten. Daraus folgert Balsiger, dass das linke Lager im Nationalrat einen zusätzlichen neunten Sitz holen könnte. Denkbar wäre, dass ihn die Grünen erobern, die 2015 einen ihrer drei Nationalratssitze verloren haben. Nach Balsigers Rechnung müsste dann nicht nur die SVP, sondern auch eine Mittepartei – die BDP oder die GLP – einen Platz hergeben.

Für einen Zuwachs des linken Lagers könnten gemäss Balsiger die zwei aktuellen Megatrends sprechen: die grüne Welle des Klimaprotests und der Aufbruch der Frauen seit dem Frauenstreik vom 14. Juni. Ein Signal ist, dass der Frauenanteil bei den bis zum Montag eingegangenen Berner Bewerbungen bei bisher unerreichten 42 Prozent liegt. «Von einer Themenführung zu einem Sitzgewinn ist es aber ein weiter Weg», mahnt Balsiger zur Zurückhaltung.

 

Piraten verstärken Mitte

Bei der Ausmarchung um die Restmandate spielen Listenverbindungen eine Rolle, die entscheidende Zusatzstimmen einbringen können.

Die Parteibündnisse müssen bis kommenden Montag der Staatskanzlei mitgeteilt werden. Gemäss den Berner Parteispitzen von SVP und FDP ist noch offen, ob es zu einem Schulterschluss der beiden bürgerlichen Parteien kommt.

Klar ist aber schon jetzt: Die Piratenpartei wird sich überraschend der Listenverbindung der Mitteparteien mit BDP, GLP, CVP und EVP anschliessen. Das bestätigen auf Anfrage die Kantonalpräsidenten der Piraten und der BDP.

Bei den nationalen Wahlen 2015 erreichten die Piraten im Kanton Bern einen Wähleranteil von 0,9 Prozent. Das könnte helfen, am 20. Oktober einen Sitz der BDP oder der GLP zu retten.

Zehn Wochen vor der Wahl befinden sich alle Parteispitzen im Selbstbestärkungsmodus und glauben, dass nicht sie den Schwarzen Peter des Sitzverlustes ziehen müssen.

Die SVP hat das doppelte Handicap, dass sie ein wackliges Restmandat verteidigen und auf einen Bisherigen verzichten muss. Dennoch erklärt die kantonale Parteisekretärin Aliki Panayides: «Wir sind entschlossen, wieder neun Sitze zu holen. Wir glauben nicht, dass wir zittern müssen.»

Die BDP hat 2015 einen ihrer vier Sitze an die SVP verloren. Sie habe aber sicher das Wählerpotenzial für drei Sitze, sagt deren Kantonalpräsident Jan Gnägi. Seit 2014 hat die Berner BDP kontinuierlich Wähleranteile verloren. «Man prophezeit seit fünf Jahren unseren Untergang, aber Totgesagte leben länger», erwidert Gnägi. Und er verweist auf sein Wahlzugpferd Beatrice Simon. Die populäre Regierungsrätin kandidiert nicht nur für den Stände-, sondern auch für den Nationalrat.

SP-Kantonalsekretär David Stampfli ist überzeugt, dass seine Partei wie auch die Grünen zulegen werden – so wie bei den jüngsten Berner und Zürcher Kantonswahlen. Der SP kommt zugute, dass sie eine abtretende Frau statt einen Mann ersetzen muss. Denn die SP-Frauenliste erhält jeweils mehr Stimmen als die Männerliste. Stampfli rechnet damit, dass die zugkräftige SP-Frauenliste auch mit den zwei Bisherigen Nadine Masshardt und Flavia Wasserfallen wieder drei Sitze holen kann. Ein Platz wäre dann frei für eine Neue – etwa die streitbare, national bekannte Ex-Juso-Präsidentin Tamara Funiciello.

 

Gut gelaunte Grüne

Bester Laune ist derzeit Natalie Imboden, kantonale Co-Präsidentin der Grünen. «Wir sind optimistisch und kämpfen dafür, den dritten Sitz zurückzuholen, den wir 2015 verloren haben», sagt sie. Und sie verweist darauf, dass die zwei Megatrends – Klimaprotest und Frauenpower – ihrer Partei entgegenkommen.

Nachrichten zu Kanton Bern »