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Medizin

«Wir alle stehen unter Druck»

Niemand ist so nahe bei den Patienten wie die Hausärzte. Seit der Einführung der Zertifikatspflicht erlebt Berns oberste Hausärztin Monika Reber aber mehr Konflikte.

Monika Reber im Wartezimmer ihrer Praxis in Lengnau. Sie ist Co-Präsidentin der bernischen Haus- und Kinderärzte. Bild: Christian Pfander

Interview: Bernhard Ott und Brigitte Walser

Monika Reber, die Corona-Fallzahlen steigen. Was raten Sie den Menschen, die in Ihre Hausarztpraxis kommen?

Monika Reber: Wer sich nicht impft und nicht auf soziale Kontakte verzichtet, wird früher oder später Corona bekommen. Etwas anderes ist angesichts der hochansteckenden Delta-Variante unwahrscheinlich. Man kann auch trotz Impfung krank werden, aber bei Impfdurchbrüchen erkrankt nur ein ganz kleiner Anteil an Infizierten schwer.

Die Hausarztpraxen haben sich wenig am Impfen beteiligt. Das gab Kritik. Was entgegnen Sie?

Diese Kritik höre ich nicht gerne, denn ich sehe, wie viel Zeit Hausarztpraxen für die Krisenbewältigung aufgewendet haben. Wir waren während der ganzen Pandemie Auskunftsstelle, auch zu Impffragen. Es gab Zeiten, in denen bei uns eine Praxisassistentin mehr oder weniger den ganzen Tag mit Fragen rund um Corona beschäftigt war, ohne dass wir das verrechnen konnten. Zudem läuft der Praxisalltag vielerorts wegen Hausärztemangel schon ohne Impfung an der Grenze des Machbaren.

Die Patientinnen und Patienten wandten sich trotz kantonalen Infos und Anlaufstellen an Sie?

Ja. Für Personen, die etwas von mir erfahren oder meine Meinung hören wollen, bin ich gerne da. Mühe bereitet mir nur, wenn Personen etwas von mir verlangen, das ich nicht leisten kann. Wir alle stehen unter Druck und müssen Regeln einhalten. Wenn Patientinnen und Patienten kein Verständnis haben dafür, dass ich ihnen kein Zeugnis zur Entbindung von der Maskenpflicht ausstellen kann, wird es schwierig.

Haben sich diese Probleme verschärft?

Ich erlebe sie erst seit der Zertifikatspflicht. Vorher gab es Diskussionen, manchmal auch Provokationen, aber man ging in Frieden auseinander. Nun erlebe ich teilweise sehr viel Druck und Aggressionen, sogar persönliche Angriffe.

Wie gehen Sie damit um?

Bei einigen Personen frage ich mich tatsächlich, ob es sinnvoll ist, wenn sie weiterhin meine Praxis besuchen: Bin ich die richtige Ärztin, wenn sie kein Vertrauen haben in die Art, wie ich denke und arbeite? Wenn sie nicht akzeptieren können, dass auch ich mich an Regeln halten muss?

Es gibt auch Hausärzte mit impfkritischer Haltung.

Der Anteil ist aber verschwindend klein. Man wird wohl kaum Arzt, wenn man der Wissenschaft gegenüber grundlegend misstrauisch ist. In der Gesellschaft aber zeigt sich nun, wie breit dieses Misstrauen ist – nicht nur gegenüber der Wissenschaft, sondern auch gegenüber der Politik. Mir war klar, dass es Risse gibt, aber jetzt, da es um Einschränkungen der individuellen Freiheit geht, sind daraus zum Teil Gräben geworden.

Wie stark prägt Corona Ihren Praxisalltag?

Das ändert laufend. Wir achten darauf, dass sich nicht zu viele Personen in der Praxis aufhalten. Vielleicht bleiben wir sogar dabei, dass wir unangemeldete Personen am Fenster bei der Küche empfangen, das erspart uns einen Rummel am Empfang. Wir kommunizieren auch viel mehr per Mail und Telefon.

Früher kam der Hausarzt nach Hause, und als Kind wusste man, jetzt kommt alles gut. Heute ist das nicht mehr so. Was ging da verloren?

Sicherheit und Geborgenheit. Ich kann mir Hausbesuche aber zeitlich nicht mehr leisten, selbst wenn ich das möchte. Dafür sind wir einfach zu wenig Hausärztinnen. In der Praxis kann ich alle 15 bis 30 Minuten eine Patientin empfangen. Auf Hausbesuch schaffe ich vielleicht fünf pro Halbtag.

Der Hauptgrund für den Verzicht auf Hausbesuche dürften aber die Kosten sein?

Das ist auch ein Faktor, ja. Wenn ich kosteneffizient arbeiten will, muss ich die Leute in der Praxis empfangen, um möglichst viele pro Tag zu behandeln. Aber das ist die kurzfristige Perspektive. Mittel- bis längerfristig ist es kosteneffizienter, zum Beispiel Einblick in die Lebensumstände von Menschen zu erhalten, die an der Grenze zur Selbstgefährdung leben.

Was meinen Sie damit?

Es gibt Patientinnen oder Patienten, die nicht wollen, dass ich sie besuche. Sie wollen auch keine Spitex, obwohl eine gewisse Verwahrlosung oder gar Demenz sicht- und spürbar wird. Sie schämen sich.

Walk-in-Praxen haben Zulauf. Braucht es überhaupt noch Hausärzte?

Natürlich braucht es sie noch. Wir kennen unsere Patientinnen und Patienten, haben eine Beziehung zu ihnen und wissen über ihre Geschichte Bescheid.

Wäre diese Geschichte in einem elektronischen Patientendossier dokumentiert, wüssten auch andere Bescheid und es bräuchte keinen Hausarzt.

Das Dossier kann die Qualität der Versorgung verbessern, wenn es denn funktionieren würde. Praxisintern haben wir elektronische Dossiers, und ich bin froh, muss ich die Handschrift meiner Kollegen nicht entziffern. Aber das E-Dossier ist kein Ersatz für den Hausarzt. Wenn jemand einen Fusspilz hat, braucht es keine persönliche Beziehung, um ihn zu behandeln. Aber wenn es um verängstigte Jugendliche, chronische Erkrankungen oder existenzielle gesundheitliche Krisen geht, funktioniert das nicht mehr. Die vertrauliche Beziehung kann nicht durch ein E-Dossier ersetzt werden.

«Wir sind Ärzte, Berater, ­Vertrauenspersonen, Lebensbegleiter», zitierte «Der Bund» einmal eine Hausärztin. Dafür bleibt doch kaum Zeit?

Manchmal steckt hinter einem Fusspilz eine lange Geschichte. Oft kommen scheinbare Bagatellfälle, und am Ende sehe ich mich mit einem Menschen in einer sozialen und psychischen Notlage konfrontiert. Ich kann keine gute Medizin machen, wenn ich mir nicht die Zeit nehme, die Lebensgeschichten und Schicksale in die Behandlung einzubeziehen. Zurzeit sind viele Menschen am Anschlag – im Betrieb, in der Familie. Das hat nicht nur, aber auch mit Corona zu tun.

Sie sind eine Art Detektivin?

In gewisser Hinsicht schon. Ich muss in möglichst kurzer Zeit herausfinden, was los ist. Manchmal kommen krasse Dinge wie häusliche Gewalt oder sexuelle Übergriffe am Arbeitsplatz in einem Nebensatz zur Sprache. Da kann ich nicht einfach sagen: Tut mir leid, das Wartezimmer ist voll.

Warum war diese Detektivarbeit für junge Menschen lange nicht attraktiv?

Wegen des übermächtigen Bildes des Hausarztes, der 7 mal 24 Stunden im Einsatz ist. Oft waren solche Praxen Familienbetriebe: der Patron und die Frau, die das Büro macht, die Angestellten leitet und den Haushalt schmeisst.

Ihr Mann macht nicht das Büro?

Nein. Einmal sollte ich den 24-Stunden-Notfalldienst machen, obwohl ich noch am Stillen war. Die Hausärzte diskutierten das am Tisch, und schliesslich sagte einer der älteren Kollegen: «Du darfst dein Maul dann öffnen, wenn du dieselbe Anzahl Notfalldienste gemacht hast wie ich.» Ich antwortete: «Tut mir leid, aber ich habe leider keine Frau zu Hause.»

Vor gut zehn Jahren lancierten die Hausärzte eine Initiative, nun zieht die Pflege nach. Ist es sinnvoll, dass jede Branche einzeln um Anerkennung kämpft?

Die Hausarztinitiative entstand aus einem grossen Druck heraus. Dieser war damals bei der Pflege vielleicht noch nicht so stark – oder das Selbstbewusstsein der Branche noch nicht so gross. Wie bei uns hat sich aber der Mangel bei der Pflege schon lange abgezeichnet. Corona hat ihn nun klar zum Vorschein gebracht.

Und wenn man die Bedingungen verbessert, ist das Problem behoben?

Die Arbeitsbedingungen sind auf jeden Fall zentral, um Pflegende im Beruf halten zu können.

Stimmen denn in der Hausarztmedizin die Bedingungen inzwischen?

Ja. Wenn ich will, kann ich abends um 18 Uhr nach Hause, und der Notfalldienst übernimmt. Die Realität hat sich geändert und damit auch das Bild, das wir Jüngeren vermitteln. Inzwischen geben wieder deutlich mehr Studierende an, in die Hausarztmedizin einsteigen zu wollen. Aber der Weg ist noch weit. In den nächsten zehn Jahren wird der schon bestehende Ärztemangel noch zunehmen.

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