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Bern

Wut und Unverständnis am Inselspital

Es brodelt an der Insel. Zwischen der Leitung des Unispitals und einem Teil des Kaders hat sich ein Graben aufgetan. In welche Richtung muss sich das Berner Spital entwickeln?

Bild: Marcel Bieri

Marius Aschwanden,
 Brigitte Walser

Zurückhaltung ist nicht Uwe E. Jochams Ding. Seit beinahe vier Jahren amtet er als Chef der Berner Insel-Gruppe, und genauso lange hat er hochgesteckte Ziele für das grösste Spitalnetzwerk der Schweiz.

So machte er bereits kurz nach seinem Amtsantritt als Direktionspräsident Anfang 2018 klar, wohin die Reise gehen soll: nämlich an die Spitze der weltbesten Unikliniken. Dort wolle er das Inselspital als Motor und Leuchtturm für die Gesundheitsversorgung der Schweiz positionieren.

Vier Jahre später kämpft sein Spital jedoch nicht nur mit der fünften Corona-Welle, sondern auch mit internen Problemen wie selten zuvor. Unter Jochams Leitung folgte eine Spar- oder Umstrukturierungsmassnahme auf die nächste. Stellen wurden gestrichen, das Unternehmen reorganisiert, und jetzt führt das Spital auch noch ein neues Lohnsystem fürs Ärztekader ein.

 

Die grössten Problemfelder

Dies alles hinterlässt Spuren. Zwischen Spitalleitung und einem Teil der Belegschaft hat sich ein Graben aufgetan. Wie Recherchen zeigen, hat der Unmut über die Führungsetage und über die Person von Uwe E. Jocham insbesondere bei Klinikdirektoren und Ärztinnen ein problematisches Ausmass angenommen. Einige Spitzenleute haben das Spital verlassen.

Diese Zeitung hat mit diversen Personen gesprochen. Manche sitzen am Inselspital in Schlüsselpositionen, andere sind bereits weg. Namentlich wollen sie nicht genannt werden. Zu angespannt ist die Situation, zu gross die Angst vor Konsequenzen.

Aufgrund der Gespräche ist es aber möglich, die drei grössten Problemfelder aufzuzeigen. Und darzulegen, wie Direktionspräsident Jocham und Verwaltungsratspräsident Bernhard Pulver – er ist seit 2019 im Amt – auf diese reagieren.

 

Das neue Lohnsystem

Es ist ein stolzes Gehalt, das sich Jocham auszahlen lässt: 670 000 Franken – oder 34 Prozent mehr als sein Vorgänger. Als dies im März 2020 bekannt wurde, machte sich Unmut unter den Insel-Angestellten breit, die gerade mit den Auswirkungen eines Sparprogramms kämpften.

Dieser Unmut ist bis heute nicht verschwunden. Ein Gesprächspartner sagt: «Die Veröffentlichung von Herrn Jochams Lohn hat die Büchse der Pandora geöffnet.» Dass er damit recht hat, zeigt sich in diesen Tagen besonders gut.

Auf Anfang 2022 führt die Direktion ein neues Lohnsystem für Kaderärzte ein. Künftig zahlt das Spital ausschliesslich Fixlöhne. Die bisherigen Mengenkomponenten – also mehr Geld, wenn mehr behandelt wird – werden gestrichen. So will die Insel-Gruppe Fehlanreize beseitigen.

Bei manchen Ärzten stösst dies auf Unverständnis. Sie sagen: Ein erfolgreiches Unispital sei auf eine hohe Leistungsbereitschaft der Fachleute angewiesen – auf deren Motivation, sich für die Patienten und die Forschung auch nach Feierabend zu engagieren. Ihre Bedenken: Ist noch zu solcher Leistung bereit, wer die Bezahlung als «leistungsentkoppelt» wahrnimmt? Oder heisst es dann «nun gut, so habe ich mehr Zeit für Hobbys»?

Eine Gesprächspartnerin erzählt, sie sei bereits Zeugin geworden, wie Operationen verschoben wurden, nur weil sie am Abend oder in der Nacht stattgefunden hätten. «Früher wäre das nie vorgekommen», sagt sie.

Direktionspräsident Jocham und Verwaltungsratspräsident Pulver kennen die Kritik am ­neuen Lohnsystem, «aber wir sind etwas erstaunt». Im Gespräch erzählen sie, dass die Spitalleitung auch im neuen Modell variable Lohnbestandteile eingeplant gehabt hatte. Es sei die Begleitgruppe bestehend aus Klinikdirektoren gewesen, die den konsequenten Weg vorgeschlagen habe, «und dieser hat uns überzeugt», sagt Jocham. Leistungsziele gebe es weiterhin: «Aber sie sollen nicht an den Lohn gekoppelt sein.»

Noch im Oktober wussten allerdings viele Kaderärzte nicht, wie hoch ihr Lohn ab 2022 genau sein würde. Unzumutbar sei das, sagen mehrere Personen. Hier räumen Pulver und Jocham Versäumnisse ein. Man habe zunächst die Klinikchefs orientieren müssen, deshalb sei es fast unmöglich gewesen, die ihnen unterstellten Kaderärzte früher zu informieren, begründen sie den späten Zeitpunkt. Jocham bestätigt, dass dieses Informationsdefizit «verständlicherweise» zu grosser Unsicherheit geführt habe. «Dafür habe ich mich an einem Informations­anlass entschuldigt.»

Das ist aber nicht alles, was Ärztinnen und Ärzte bemängeln.

Um zu ermitteln, wie hoch die Löhne an der Insel künftig sein sollen, hat die Direktion die Saläre in «vergleichbaren Spitälern» angeschaut und dann die neuen Einkommen festgelegt. Es heisst, dass manchen neu deutlich weniger angeboten worden sei als Kolleginnen und Kollegen in den anderen Unispitälern oder sogar in Kantonsspitälern. Die Rede ist auch von «unerklärbaren Lohnunterschieden» auf gleicher Stufe, bei gleichen Aufgaben und derselben Ausbildung.

Pulver sagt: Löhne, die unter dem Lohnband der Vergleichsspitäler gewesen seien, habe man angehoben. Jene, die darüber gewesen seien, habe man auf die Obergrenze des Lohnbands gesenkt. «Dass wir neu Löhne deutlich unter den Vergleichsspitälern zahlen, ist eine Behauptung.» Im Gesamten habe man die Löhne nicht gesenkt.

«Ich verstehe, dass es schwierig sein kann, wenn wir Weltbestleistungen verlangen und dann den Lohn damit begründen, dass er im Rahmen vergleichbarer Spitäler liege», sagt Pulver und hebt die Arme in die Höhe. «Aber wir können schlicht die Lohnsumme nicht erhöhen.»

Und dann ist da noch das Gehalt des Direktionspräsidenten. Es ist nicht das höchste, das an der Insel ausbezahlt wird, aber es polarisiert. «Es ist schlicht ein Hohn, dass die Arztlöhne angepasst werden und der Direktor nach wie vor 670 000 Franken bekommt», sagt einer. Und ein anderer: «Der Chef könnte als gutes Beispiel vorangehen und ebenfalls auf einen Teil des Lohns verzichten.»

Der Verwaltungsrat, der Jochams Lohn verantwortet, sieht dazu keinen Anlass. Das Gremium habe die Löhne der Direktion vor Kurzem angeschaut und als korrekt betrachtet, sagt Präsident Pulver. «Ich sehe keinen Grund, hier etwas zu ändern.»

 

Die schlechte Betriebskultur

Spricht man mit Ärzten über das neue Lohnsystem, machen sie eines klar: Ihnen geht es nicht nur ums Geld. Ihnen geht es um die Insel als gutes Universitätsspital. Dazu gehören auch oder vor allem die Betriebskultur und das Miteinander. Das Zauberwort lautet «Wertschätzung». Verschiedene Gesprächspartner monieren, gerade diese habe seitens der Direktion stark abgenommen.

Um das zu verstehen, muss man kurz ausholen. An der Insel gibt es rund 40 Kliniken. Über diesen Kliniken stand bisher nur die Direktion. Jetzt hat die Direktion eine neue Führungsebene zwischen sich und die Klinikdirektoren geschaltet. Das verlief nicht spannungsfrei. Die neue Führungsebene wird als erweiterter Arm der Direktion wahrgenommen, der die Ärzteschaft auf Distanz hält. Kaderärzte kritisieren, sie hätten den wichtigen Draht zur Direktion verloren.

Zudem sind die Kliniken nun weniger autonom. Eine solche Machtverschiebung nach oben könne nur gelingen, wenn die ­Direktion auch über Akzeptanz verfüge, sagt ein Gesprächspartner. Aber diese fehle.

Die Leitung unterschätze die Komplexität eines Universitätsspitals, treffe unsensible Entscheide und verhalte sich respektlos. «Damit verlieren wir die Identifikation mit der Institution. Frustration stellt sich ein, Motivation und Einsatzbereitschaft sinken», heisst es.

Es gibt auch die Meinung, dass die Insel schlicht nicht wie ein Unternehmen zu führen sei, so wie dies die Direktion versuche. Bei einem Unispital handle es sich vielmehr um eine Expertenorganisation, und eine solche benötige Gestaltungsfreiheit, nur so sei Innovation möglich.

Dass die Kliniken Autonomie eingebüsst haben, bestätigt die Spitalleitung ohne Umschweife; es war sogar ihr erklärtes Ziel, von der Vorstellung wegzukommen, dass die Insel aus lauter einzelnen KMU besteht.

Wenn sich die Kliniken nun in grössere Einheiten einfügen müssen und zum Beispiel das Budget gemeinsam planen, ermögliche dies mehr Flexibilität und Synergien, sagen Pulver und Jocham. Vor allem nach dem ­Einzug ins neue Hauptgebäude seien so auch bessere Patientenprozesse und eine Entlastung der Pflege zu erreichen.

«Wenn sich nicht mehr jede Klinikdirektion um alle administrativen Belange kümmern muss, hat das doch Vorteile. Die Klinikdirektoren können sich stärker auf die medizinischen Inhalte konzentrieren», sagt Pulver.

Dass sie die Ärzteschaft mit der neuen Führungsebene auf Distanz halten will, bestreitet die Spitalleitung vehement. Das ­Gegenteil sei der Fall, versichert Jocham. «Nun ist die Direktion näher am Kerngeschäft. Mit 40 Klinikdirektoren hätten wir unmöglich jenen engen Kontakt haben können, der nun dank grösseren Einheiten möglich ist.»

Jocham rechnete damit, dass das Implementieren der neuen Strukturen vier Jahre in Anspruch nehmen würde. Doch es ging schneller. Ein Teil der Ärzteschaft war offenbar bereit, vorwärtszumachen. «Wir haben nicht einmal die Hälfte der Zeit benötigt», bilanziert Jocham.

 

Das fehlende Geld

Der Direktionspräsident kann jeden Morgen nach ein paar wenigen Klicks sagen, wie es gerade um seine Insel-Gruppe steht. Wie viele Patienten werden behandelt? Wie lauten die Finanzzahlen? Wie viele Mitarbeitende hat das Unternehmen? All das sieht Jocham auf einen Blick, wenn er in seinem Büro am Computer sitzt.

Wie dringend notwendig dieser Überblick ist, zeigte sich in den letzten Jahren deutlich. Erstmals in der Geschichte des Unispitals geriet die Insel in finanzielle Schieflage, 2018 mussten über 100 Stellen gestrichen werden. Doch auch danach sah es nicht gut aus.

Um die gigantischen Bauvorhaben – beispielsweise den Neubau des Bettenhochhauses oder die Sanierung des Frauenspitals – finanzieren zu können, musste das Unternehmen fremdes Geld aufnehmen. Die Rentabilität ist notorisch zu tief.

Diesen finanziellen Druck bekommen die Angestellten zu spüren, wie sich in den Gesprächen zeigt. «Es ist ein regelrechter Wertewandel im Gang. Weg von der Patientenorientierung, hin zur Marktorientierung», sagt jemand. Ein anderer hat den Eindruck, dass Finanzzahlen mittlerweile mehr zählen würden als eine optimale Versorgung der Patienten. «Es geht nicht mehr um ein Universitätsspital, sondern um eine Industrie, in der wir als ­Warenverkäufer betrachtet und behandelt werden», lautet eine Kritik.

Diesen Finanzdruck redet auch Pulver nicht weg. «Es ist eine unwürdige Situation, in der wir stecken. Wir gestalten das Spital der Zukunft, stellen uns modern auf und haben gleichzeitig diesen politisch gewollten Tarifdruck.» Ambulante Behandlungen würden nicht kostendeckend entschädigt. «Eigentlich müssten wir sagen: Hände weg vom ambulanten Bereich. Das wäre aber medizinisch und volkswirtschaftlich falsch.»

Der finanzielle Druck werde von aussen auf die Spitäler ausgeübt, er sei die Folge von Politik und Tarifverhandlungen. «Aber wir können sicher noch lernen, intern mit diesem Druck besser umzugehen», sagt Pulver selbstkritisch. Es gelte, wieder mehr über Inhalte zu reden als über Finanzen.

 

Die Auswirkungen

Was sind die Folgen dieser Baustellen? Es gibt diverse Ärztinnen und Ärzte, aber auch Pflegende, die das Inselspital deswegen verlassen oder dies ernsthaft in Betracht ziehen. Einer der Gesprächspartner bringt die Sorgen in der Ärzteschaft auf den Punkt: «Wir haben Angst, dass das Inselspital längerfristig nicht mehr konkurrenzfähig ist. Die Insel wird kaputtgespart – und zwar nicht nur finanziell, sondern auch menschlich.»

Tatsächlich stehen die Universitätsspitäler im Wettbewerb zueinander, und über allem schwebt die Frage, ob es in der Schweiz wirklich fünf davon braucht. Der Konkurrenzkampf wird sich in den kommenden Jahren zuspitzen, denn gerade in der Spitzenmedizin steht ein Generationenwechsel an.

Viele Top-Stellen werden frei, weil Koryphäen pensioniert werden. Entscheidend für den Erfolg eines Unispitals wird sein, ob es ihm gelingt, die besten Nachwuchskräfte zu rekrutieren. Mit welchem Lohnmodell, mit welchen Strukturen und welchen Arbeitsbedingungen lässt sich die junge Generation gewinnen?

 

Was tut die Insel-Leitung?

«Es ist mir bewusst, dass die vielen Veränderungen als Zumutung empfunden werden können», sagt Direktionspräsident Jocham. Verwaltungsratspräsident Pulver nickt und zählt auf: «Wir schaffen ein neues IT-System, ersetzen das Hauptgebäude, stellen die Pflege organisatorisch modern auf, sind um gut organisierte Strukturen bemüht und passen das Vergütungsmodell an.» Und nach kurzem Überlegen sagt er: «All diese Projekte sind richtig. Aber in der Kombination sind sie eine hohe Belastung.» «Nur», fügt er an, «ich wüsste nicht, welches Projekt wir zurückstellen könnten.» Eines aber ist für ihn klar: «Das Inselspital ist stark und muss vor der Konkurrenz überhaupt keine Angst haben.»

Jocham und Pulver schliessen das Gespräch ab mit Angaben, wie sie der Unzufriedenheit begegnen: Es soll mehr Mitarbeiterinfos sowie regelmässig Kaderanlässe geben, Begleitgruppen können ihre Sicht auf die Projekte einbringen, und zur Stimmung im Spital wird es wieder eine Umfrage geben. Für Mitarbeiterfeedback habe man Möglichkeiten sowohl im Intranet als auch via Mitarbeiterzeitschrift eingeführt, so Jocham. Ausserdem nennt Pulver die Compliance-Stelle, bei der man Missstände auch anonym melden könne.

 

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