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Arbeitsrecht

Zum Arbeiten gezwungen

Eine kleine Änderung in der Corona-Verordnung des Bundesrats hat grosse Folgen für Risikopatienten. Sie können nun wieder zur Arbeit gezwungen werden. «Diese Leute stehen Todesängste aus», warnt die Gewerkschaft.

Wenn der Arbeitsplatz genügend geschützt ist, müssen Mitgleider der Risikogruppe zurück an die Front: Kassiererin des Detailhändlers Coop hinter einer Plexiglasscheibe. Bild: Keystone
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Philipp Loser

Wäre es eine Art staatspolitisches Experiment, ein Test, wir würden alle staunen. Wohl noch nie in der Geschichte des Schweizer Bundesstaats hat die Verwaltung in Bundesbern in einer solchen Kadenz Verordnungen erlassen, angepasst, neu geschrieben, korrigiert. Die Trägheit des Systems: weggeblasen.

Es ist aber kein Experiment, es ist kein Test. Die Verordnungen des Bundesrats sind real, und sie haben reale Konsequenzen. Am 16. März, als die Landesregierung den Lockdown der Schweiz verkündete, veröffentlichte sie gleichzeitig die angepasste «Verordnung 2 über Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus». Unter Artikel 10c, bei dem es um den Schutz von besonders gefährdeten Personen geht, hiess es damals: «Besonders gefährdete Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erledigen ihre arbeitsvertraglichen Pflichten von zu Hause aus. Ist dies nicht möglich, so werden sie vom Arbeitgeber unter Lohnfortzahlung beurlaubt.»

Eine klare Ansage. Wer Vorerkrankungen hat, wer über 65  Jahre alt ist, wer zur «Risikogruppe» gehört, der bleibt zu Hause. Und wenn man von zu Hause seine Pflichten nicht erfüllen kann, dann bekommt man trotzdem den Lohn.

Plötzlich alles anders

Vier Tage lang war das gültig. Bis zum Freitag in der gleichen  Woche, bis zur nächsten Änderung der «Verordnung 2». Unter dem Artikel 10c war nun ein neuer Abschnitt zu finden. Und der drehte die ganze Sache um. Falls die Arbeit «aufgrund der Art der Tätigkeit oder mangels realisierbarer Massnahmen» nur am üblichen Arbeitsort erbracht werden könne, hiess es da, so seien die Arbeitgeber verpflichtet, mit geeigneten Massnahmen die Empfehlungen des Bundes betreffend Hygiene und sozialer Distanz sicherzustellen.

In den Erläuterungen zur Verordnung 2 (auch die gibt es), heisst es erklärend dazu, dass  dafür beispielsweise Plexiglasscheiben zum Schutz des Kassenpersonals aufgestellt werden könnten, dass man den Mitarbeitenden Desinfektionsmittel zur Verfügung stelle oder sie ins Backoffice versetze.
Eine klare Ansage. Wer Vorerkrankungen hat, über 65 Jahre alt ist, wer zur «Risikogruppe» gehört, der muss nun trotzdem arbeiten.

Für die Gewerkschaften: inakzeptabel. «Diese Leute stehen Todesängste aus», sagt Luca Cirigliano, Zentralsekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB). Er hat in der vergangenen Woche mit vielen Menschen telefoniert, die zur  Risikogruppe gehören und nun völlig verunsichert sind. Mit Menschen, die von ihrem Arbeitgeber nun wieder an den Arbeitsplatz gerufen werden. «Der Bundesrat sendet einerseits eine klare Botschaft aus: Bleibt zu Hause. Andererseits beharren viele Arbeitgeber darauf, dass auch Leut e mit einer Vorerkrankung an den Arbeitsplatz kommen. Das ist völlig widersprüchlich.»

Wen es trifft – die Beispiele

Der Gewerkschafter hat in der vergangenen Woche mehrere Beispiele gesammelt, bei denen Arbeitgeber den gelockerten Arbeitsschutz für besonders gefährdete Personen ausnutzen – zum Schaden des betroffenen Arbeitnehmers. Eine Liste dieser Beispiele hat der SGB dem Bundesrat zugestellt.

Ein Privatbanker mit Diabetes und einer Herz-Kreislauf-Erkrankung, der nicht von zu Hause arbeiten darf – weil Datenschutz und Bankgeheimnis im Homeoffice nicht eingehalten werden könnten. Die Bank stellt dem Mitarbeiter am Arbeitsplatz Seife zur Verfügung – weitere Schutzmassnahmen gibt es nicht.

Eine Angestellte einer Grossbäckerei, sie hat Diabetes und Bluthochdruck, wird wieder zur Arbeit gerufen. Sie solle jetzt häufiger die Hände waschen, sagt ihr der Arbeitgeber.
Eine Malerin, die ärztlich attestiert zu einer Risikogruppe gehört, war bis am Freitag vor einer Woche von der Arbeit befreit. Nach der Änderung der Verordnung muss sie wieder arbeiten gehen. Der Arbeitgeber halte die Regeln des Social Distancing für sie ein. Doch sie muss mit dem öffentlichen Verkehr zur Arbeitsstelle fahren, was bei ihr existenzielle Ängste auslöse.
«Die Unsicherheit ist gross. Der Bundesrat fordert von den Arbeitgebern, dass sie die Risikopersonen gleich schützen, wie wenn diese zu Hause geblieben wären. Niemand kann das garantieren», sagt Pierre-Yves Maillard, der Präsident des SGB. «Der Bundesrat arbeitet unter unglaublichem Druck. Dass hier Fehler geschehen, ist nur menschlich. Man muss sie einfach wieder korrigieren.» Der SGB verlangt eine Rückkehr zur ersten Verordnung, eine Streichung des neuen Absatzes. «Dieser neue Artikel ist nicht im Sinne der generellen Pflicht der Behörden, Leib und Leben der Menschen in der Schweiz zu schützen», heisst es dazu im Brief an den Bundesrat.

«Schlecht für die Wirtschaft»

Es gehe eben nicht nur um die Risikopatienten, sagt Maillard, es gehe auch um deren Kolleginnen und Kollegen am Arbeitsplatz, die bei einer Rückkehr von Risikopatienten unter dem Stress stünden, diese unbeabsichtigt anzustecken. «Ein generalisiertes Gefühl der Angst am Arbeitsplatz macht sich so breit», heisst es im Brief des SGB. «Dies ist für die gesamte Wirtschaft schlecht.»

Doch warum hat der Bundesrat die Bedingungen für besonders gefährdete Personen überhaupt verschärft? Hintergrund waren Befürchtungen, dass besonders geforderte und versorgungsrelevante Branchen – das Gesundheitswesen etwa oder der Lebensmittelhandel – im Verlauf der Krise in echte Nöte geraten könnten und darum jede verfügbare Mitarbeiterin, jeden verfügbaren Mitarbeiter brauchen würden.

Der Schweizerische Arbeitgeberverband begrüsst die Verschärfung des Bundesrates im Grundsatz, wie Geschäftsleitungsmitglied Daniella Lützelschwab sagt. «Wir waren froh, als wir vom Bundesrat klare Aussagen zur Arbeitstätigkeit von  besonders gefährdeten Personen erhielten.» Einfach alle nach Hause zu schicken und nicht mehr arbeiten zu lassen, sei eben auch problematisch, sagt Lützelschwab. Aber: «Wenn solche Personen an den Arbeitsplatz zurückkehren, darf das nicht leichtfertig geschehen.»

Arbeitgeber müssten die besondere Fürsorgepflicht ernst nehmen und die Arbeitsplätze entsprechend ausrüsten. Lützelschwab nennt als Beispiel die Plexiglasscheiben in Coop und Migros oder die Möglichkeit, gefährdete Arbeitnehmer im Backoffice zu beschäftigen.

Entscheid wohl am Mittwoch

Man habe nichts gegen Präzisierungen oder Verbesserungen im entsprechenden Artikel der Verordnung. Eine Streichung sei allerdings problematisch. «Wenn man das Ganze nun wieder auf den Kopf stellt, dann führt das zu erneuter Unsicherheit.»
Voraussichtlich am Mittwoch wird der Bundesrat das Thema noch einmal beraten. Und dann entscheiden, welche Unsicherheit im Moment höher zu gewichten ist.

Stichwörter: Coronavirus, Wirtschaft, Arbeit

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