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Randnotiz

Keine exakte Wissenschaft

Warum ich aufgewacht bin, weiss ich nicht. Dass ich nicht so bald wieder einschlafe, merke ich in den folgenden Minuten.

Symbolbild: Pixabay

Michael Lehmann

Ein dumpfer Schmerz plagt mich rund um mein Auge. Ich quäle mich aus dem Bett und schalte das Licht ein. Ein Blick in den Spiegel zeigt: Die rechte Augenpartie ist stark angeschwollen. Was zum …? Das sieht übel aus.

Es ist erst vier Uhr morgens. Warten bis die Gemeinschaftspraxis öffnet, bei der ich angemeldet bin, kommt nicht infrage. Mit Augenproblemen ist schliesslich nicht zu spassen. Ein Anruf beim Spital sowie ein Anruf bei meinen Eltern folgen. Sie stehen tatsächlich auf und fahren mich in den Notfall. Merci an dieser Stelle.

Was passiert sei, will die Frau in der Notfallaufnahme wissen. Ich wisse es nicht, sage ich wahrheitsgemäss. «Haben Sie sich geprügelt?» Ich verneine. Wahrheitsgemäss. «Warten Sie, es wird Sie jemand abholen.» Ich setze mich in den leeren Wartebereich und warte. Irgendwann holt mich ein Pfleger ab. Wiederum darf ich viele Fragen beantworten. Und nochmals, als später ein Assistenzarzt das Zimmer betritt, in das ich mittlerweile untergebracht wurde. Er betrachtet meine Augenpartie eingehend, kommt aber nicht zu einem eindeutigen Schluss. «Könnte ein Infekt sein, aber die Symptome passen nicht alle», erklärt er. Er werde die Oberärztin konsultieren. «Haben Sie einen Moment Geduld.»

Kein Problem, denke ich, die haben sicher viel zu tun. Ausserdem ist mein Chef bereits informiert, dass und warum ich heute später im Büro auftauchen werde. Es vergeht rund eine Stunde bis die Oberärztin das Zimmer betritt. Auch sie betrachtet mein Auge lange und wendet sich dann an den Assistenzarzt. «Was war der Erstbefund? Ein Infekt? (...) Ja, könnte sein. Wir schicken ihn mal zum Dermatologen.» Ich solle mich noch etwas gedulden und würde dann die Entlassungspapiere erhalten.

Mittlerweile ist die Nachtschicht des Spitals gegangen und die Morgenschicht hat die Arbeit aufgenommen. Zwei neue Ärzte stellen sich vor und verkünden: «Sie werden in etwas mehr als einer Stunde in der Dermatologie erwartet.»

Zu meiner Überraschung ist sich auch der junge Dermatologe nicht sicher, warum mein Auge dermassen geschwollen ist. Er müsse seinen Chef konsultieren, sagt er. Dieser kommt kurz danach ins Zimmer, schiebt die Brille auf seine Nasenspitze und beugt sich zu mir hinab. «Was war der Erstbefund?», fragt er seinen Kollegen. «Ein Infekt? Könnte sein. Er erhält Antibiotika.» Und weg ist er wieder.

Seit ich um vier Uhr aufgewacht bin, sind rund sechs Stunden vergangen. Etwas verdrossen und mit einem mulmigen Gefühl verlasse ich das Krankenhaus. «Medizin», so tröstet mich meine Mutter später, «ist halt keine exakte Wissenschaft.»

E-Mail:
mlehmann@bielertagblatt.ch

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