Sie sind hier

Biel

Acht Minuten, ein Jahr, eine halbe Ewigkeit

Fidel Castro trägt Rolex, ein Minutenzeiger braucht 1000 Jahre für eine Umdrehung und ein Baum verliert die Blätter nicht: «Von Zeit zu Zeit» ist eine überreiche Schau von drei Institutionen, in ihr lässt sich für viele Momente trefflich verweilen.

«Antiherbst»:Michael Sailstorfer will die Vergänglichkeit verzögern und hat dem Baum die abgefallenen Blätter kurzum wieder angehängt. zvg/Michael Sailstorfer/Roman März

Tobias Graden

Wo beginnen? Wo anfangen bei dieser Ausstellung, die sowohl in ihrem Umfang als auch – besser gesagt:erst recht – inhaltlich unglaublich umfangreich ist?
Am einfachsten am Anfang. Bei der ersten Installation, auf die der Besucher trifft, wenn er das Foyer des Centre Pasquart betritt. Sie heisst «The Last Eight Minutes:Everything We Take to Be a Constant Is Changing» und ist so simpel wie tiefgründig zugleich:Ein paar Stühle stehen hinter dem grossen Fenster, man ist eingeladen, sich für acht Minuten hinzusetzen. Ungefähr so lange nämlich benötigt das Licht, bis es von der Sonnenoberfläche zur Erde gelangt ist. Alles, was wir sehen, erblicken wir also durch dieses acht Minuten alte Licht. Nun sind acht Minuten ja eine kurze Zeitspanne. Aber diese reicht aus für den Versuch, sich die Distanz zur Sonne vorzustellen:knapp 150 Millionen Kilometer. Wenn man sich dann noch hinzudenkt, dass die Photonen erst tausende von Jahren benötigten, bis sie aus dem Sonnenkern hinausgelangt sind, schwirrt einem schon schier der Kopf, und dabei hat man von dieser Schau noch fast nichts gesehen.

Nicht bloss Zeit. Sondern Geschichte.
«Von Zeit zu Zeit»: So lakonisch der übergeordnete Titel dieser Ausstellung auch klingt, so leicht lässt sich feststellen, dass sich die drei Institutionen Kunsthaus Pasquart, Photoforum Pasquart und Neues Museum Biel (NMB) bei ihrer ersten derartigen Zusammenarbeit gleich ans grösste Thema überhaupt gewagt haben. Eine inhaltlich etwas engere Klammer ist denn auch nicht wirklich auszumachen. Am ehesten wäre sie beim Aspekt der Zeitmessung und -einteilung zu finden, was natürlich mit dem Genius loci der Uhrenstadt Biel zu erklären ist. In erster Linie aber zeichnet sich die Schau durch eine Vielzahl an diversen Aspekten und Herangehensweisen ans Thema Zeit aus.
Genau genommen sind es drei Ausstellungen. Das Photoforum Pasquart umschreibt die ihre mit «Perfect Time Ahead». Die Kuratoren Danaé Panchaud und Clément Gicquel zeichnen anhand von Magazin-Werbeseiten von Uhrenmarken aus dem 20. Jahrhundert deren «Verkaufsikonografie» nach. In einem zweiten Teil verbinden sie mit Fotografien realer historischer Persönlichkeiten und Ereignissen diese Bilderwelten mit  den Schlagworten der Werbung.
In Wort und Bild haben die Werber mit Pathos nicht gegeizt, zumal sie es verstanden, die Uhren mit Ereignissen von welthistorischer Bedeutung zu verknüpfen. Das zeigen etwa die Bilder aus dem All, als bei den ersten Schritten von Menschen auf dem Mond Omega-Uhren dabei waren. Auch Leistungen von Frauen wurden honoriert; und Werte wie Gleichberechtigung wurden in der Werbung gefordert, lange bevor sie Realität wurden. Mehr noch aber ging es um Inszenierung von Männlichkeit, um gemeisterte Abenteuer und vollbrachte Höchstleistungen. «It doesn’t just tell time. It tells history.», lautet einer der unbescheidenen Werbeslogans («Sie zeigt nicht bloss die Zeit an. Sie erzählt Geschichte.»). Wird der kommunistische Revolutionär Fidel Castro unter diesem Slogan inszeniert, ist dies angesichts der Rolex an seinem Handgelenk durchaus hintersinnig.

Ein Jahr lang, jede Stunde
Viel reicher aber ist die Ansammlung von Werken von 34 internationalen Künstlerinnen und Künstlern, die Direktorin Felicity Lunn und Co-Kurator Samuel Leuenberger für das Kunsthaus Pasquart assembliert haben. Um das ausufernde Thema halbwegs zu fassen, haben sie die Werke in vier Themenbereiche gruppiert: «Zeit und Unbehagen», «Formbare Zeit», «Zeiterfassung:Inszenierung des Lebendigen» und «Spekulative und planetarische Zeit» sollen Orientierung bieten. Nicht bei jedem Beitrag ist der Bezug zum Titelthema «Zeitspuren. The Power of Now» leicht ersichtlich, manches ist recht kryptisch oder auch mal etwas eindimensional. Pedro Wirz schlägt mit der eigenartigen, grossen Skulptur «My Home Is My Dinner» immerhin den Bogen zur Vergänglichkeit, indem er an Termiten gemahnt, die sich durch den Verzehr des Grundstoffs ihrer Bauten ihrem eigenen Ende entgegenfressen. Die Installationen von Sophie Jung sind verspielt und amüsant, aber wohl erst mit den Erläuterungen der Künstlerin zusammen zu begreifen – diese wird sie heute an der Vernissage in einer Performance als Bewusstseinsstrom abgeben. Die grossformatigen fotografischen Inszenierungen aus der Serie «Four Seasons» von Rodney Graham schliesslich sind zwar in ihrer farbigen und detailreichen Üppigkeit spektakulär, als Illustration der vier Jahreszeiten aber auch rasch begriffen.
Doch das Staunenswerte überwiegt bei weitem. Mit radikaler Ausdauer hat sich etwa Tehching Hsieh mit dem Thema «Zeit» auseinandergesetzt – und sich ihr ausgesetzt: In einer seiner «One Year Performances» hat er anfangs der 80er-Jahre ein Jahr lang jede Stunde eine Stechuhr bedient und dabei die Veränderung seines Körpers über die Zeit dokumentiert – Arbeitszeit und Lebenszeit werden eins, die Zeit vergeht so ganz unmittelbar. Auch nicht leicht gemacht hat es sich Michael Sailstorfer: Über die Zeit eines Jahres hat er einen Baum fotografiert. Klingt banal – allerdings hat er mit seinem Team die abgefallenen Blätter gesammelt, konserviert, lackiert und mit Kabelbindern wieder am Baum befestigt, der so mit der Zeit zum künstlichen Fremdkörper in seiner natürlichen Umgebung wird: Der alte Menschheitstraum, die Zeit oder wenigstens die Vergänglichkeit anhalten zu können, wird hier unter dem lustigen Titel «Antiherbst» zum kurios-monströsen Experiment. Ein unheimliches Element wohnt auch den auf den ersten Blick idyllisch-schönen, fast kitschigen Bildern der Serie «Juniper – First Light» inne (siehe Titelseite). Sie zeigen pazifische Palmenstrände, in romantisches Abendlicht getaucht. Die weissen Flecken jedoch irritieren. Sie sind durch das Hinzufügen von radioaktivem Sand auf dem Negativ während des Entwicklungsprozesses entstanden – und die Sujets zeigen das Bikini-Atoll, das durch Atomtests verseucht wurde.

Mit Proust Erinnerungen riechen
Wer nach dem Gang ins Pasquart noch Zeit hat, findet gegenüber im ehemaligen Museum Schwab des NMB unzählige weitere Exponate und Aspekte, die zu besichtigen und über die zu sinnieren sich lohnt, hat sich doch das NMB-Team aus dem Thema «Zeit» 24 Begriffe herausgepickt und damit ebenso viele Klein-Ausstellungen gestaltet: Neben Prousts Madeleine lässt sich anhand von Geruchsproben nach der eigenen verlorenen Zeit suchen. Man lernt, dass die Einwohner von Burkina Faso mit dem Begriff «Zeitverschwendung» nichts anfangen können. Ein Schönheitschirurg überlegt sich, ob die Tilgung der Spuren der Zeit am Körper auch das innere Altern des Menschen verzögert. Und auch hier ist das unscheinbarste Exponat das vielleicht vielschichtigste: Erstmals in der Schweiz ist eines von zehn existierenden Exemplaren der «Black Watch» zu sehen. Ihr Automatikwerk ist so gefertigt, dass der Minutenzeiger nicht eine Stunde für eine ganze Umdrehung benötigt, sondern 1000 Jahre. Niemand, der heute lebt, wird den Zeiger auch bloss bei 2 Uhr sehen.
Gewiss:Macht man eine Ausstellung zur Zeit, macht man gleichzeitig 100 andere ebenso mögliche Ausstellungen nicht. Klar ist aber auch: Diese eine ist schon überreich. Ihr Besuch benötigt ... Zeit. Viel Zeit.


Info: Vernissage Samstag ab 16 Uhr. Ansprachen um 17.15 Uhr, Performance von Sophie Jung um 18.30 Uhr. Die Ausstellung dauert bis27. Januar 2019

Nachrichten zu Kultur »