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Titelgeschichte

Als Künstler verstand er sich nie

Ab heute ist die Alte Krone in Biel voll mit Bildern von Primo Richard. Barbara Meyer Cesta und Rudolf Steiner von Haus am Gern haben das farbenfrohe Werk des Hobbymalers gehoben – und erweisen mit der Ausstellung und einem Buch der Amateurkunst die Reverenz.

Immer wieder Schiffe: Barbara Meyer Cesta, Linda Häni und Rudolf Steiner (von links) im «Seestübli» in Biel. Bild: Lee Knipp

Tobias Graden

Es war im letzten September, als das Bieler Künstlerpaar Barbara Meyer Cesta und Rudolf Steiner (Haus am Gern) noch im Café Seestübli einkehrten, nachdem sie den Abend auf der Robert-Walser-Sculpture verbracht hatten. «Ihr seht aus, als kämt ihr direkt von der Sculpture», sagte Linda Häni zur Begrüssung.

Sie führt das kleinste Bistrot der Stadt seit den frühen 90er-Jahren und denkt nicht daran, aufzuhören. «Eigentlich wollte ich nur zwei, drei Jahre bleiben», sagte sie schon 2002 gegenüber dem BT, «jetzt bleibe ich einfach, bis ich genug habe.» Mittlerweile ist sie 85 Jahre alt, das «Seestübli» ist sozusagen ihr Wohnzimmer. Harassenweise stapeln sich hier die Getränke für die Stammkunden, Weisswein vom See, Feldschlösschen in der Flasche.

Barbara Meyer Cesta und Rudolf Steiner liessen sich von der trockenen Begrüssung nicht abschrecken. Noch nie waren sie im «Seestübli» gewesen, schon lange hatten sie es sich vorgenommen. Nun setzten sie sich an einen der drei Tische. Rasch fiel ihr Blick auf die Ölbilder, die das eigentümliche Lokal schmücken: Landschaften, das Matterhorn, Schiffe. Dicht an dicht hängen sie, füllen jede verfügbare Fläche aus, zwei langgezogene, flache Bilder sind in ihrem Format sogar direkt an die Gegebenheit des Raumes angepasst. Werke eines Profis sind das nicht, das erkannten Meyer Cesta und Steiner mit geübtem Auge rasch, aber: «Sie tragen eine eigene Handschrift», so Meyer Cesta.

Von wem diese Bilder denn seien?, fragten die Künstler die Wirtin. «Von Primo Richard», antwortete diese, «ich habe noch 100 weitere im Keller.»

 

Stricken – oder Malen

Primo Richard war Linda Hänis langjähriger Lebenspartner. 1924 geboren, kam er als gelernter Bäcker-Konditor 1952 nach Biel und betrieb hier eine Automalerei. Das Auto des früheren ägyptischen Königs Faruk soll hier gepflegt worden sein, ebenso der Bentley, den vorher Charlie Chaplin gefahren hatte – beide Wagen gehörten Ernst Fuchs, einem von der hiesigen Kritik zwar verschmähten, in den USA aber umso erfolgreicheren Kunstmaler, der mit Primo Richard befreundet war.

Ende der 80er-Jahre bekam Richard, zeitlebens starker Raucher, gesundheitliche Probleme. Seine Automalerei musste er aufgeben, mit 60 ging er gezwungenermassen in Frühpension. Was nun? «Entweder lernst du stricken», sagte Lina Häni zu ihm, «oder du beginnst zu malen.» Stricken wollte er nicht. Also wurde aus dem Autolackierer ein Bildermaler. Freund Fuchs gab ihm Tipps, im Grossen und Ganzen aber näherte sich Primo Richard der Malerei autodidaktisch und ohne Vorwissen. «Er hatte vorher überhaupt nichts mit Kunstmalerei zu tun gehabt», sagt Linda Häni. Das änderte sich radikal, als die Gesundheit ihm ein neues Leben aufzwang: «Er hat zuhause nichts Anderes mehr getan als zu malen.»

 

Maler des Matterhorns

Barbara Meyer Cesta und Rudolf Steiner wurden hellhörig. Sie liessen sich von Linda Häni den Keller zeigen – zum Vorschein kamen nicht bloss 100 Bilder, sondern 240. Alle von dem Maler, von dem Haus am Gern bis zum Besuch im «Seestübli» noch nie etwas gehört hatte. Nun wussten die Kunstschaffenden, was das Thema ihres Projekts in der Alten Krone sein sollte, zu dem sie eingeladen worden waren: Primo Richard, der Maler der Sonnenuntergänge am See, des Matterhorns und der Schiffe.

Zusammen mit Linda Häni – man hatte sich inzwischen befreundet – bargen sie den Nachlass. Sie reinigten die Bilder und stellten sie so weit instand, dass eine Ausstellung mit ihnen möglich ist. Zudem digitalisierten sie die Bilder und gestalteten damit sowohl eine Website als auch ein Buch, das sie im eigenen Verlag Edition Haus am Gern veröffentlichen. Der Umgang mit dem Fundus eines Hobbymalers wird so selber zu einem künstlerischen Projekt: «Haus am Gern presents: Primo Richards Liebe zur Farbe».

Was wohl Primo Richard, der im Jahr 1999 im Alter von 75 verstorben ist, dazu sagen würde? «Ihm wäre es wohl nicht recht», sagt Linda Häni, «dass man so ein Aufhebens macht um ihn.» Denn er malte schlicht aus Freude. Um einen Verkauf der Bilder kümmerte er sich nie, das übernahm seine Partnerin. Doch wenn diese mit dem Geld eines verkauften Bildes heimkam, bedeutete ihr Richard mit einer schlichten Handbewegung, sie solle es doch gleich selber behalten. Als Künstler hat er sich nie verstanden. Ein einziges Mal willigte er in eine Ausstellung ein. Linda Häni organisierte diese im Restaurant «Progrès» an der Dufourstrasse, das sie zu dieser Zeit führte. Sie war ein Erfolg: «Jeder, der uns kannte, hat ein Bild von Primo zuhause», sagt Häni.

 

Träume von Heimat und Ferne

Gewiss, in der Kunstgeschichte wird Primo Richard trotz der nun zwischenzeitlichen unerwarteten Aufmerksamkeit keine tiefen Spuren hinterlassen. Das war auch nie sein Antrieb. Vielmehr malte er, was ihm gefiel: Blumen, Felder, die Stimmung am See, die Kirche von Ligerz, Bauern bei der Feldarbeit, auch mal Exotischeres, etwa eine Brücke in Venedig oder gar Palmen am Meeresstrand. Ganz wenige Selbstporträts, bisweilen einen Frauenakt. Tiere finden sich in seiner Motivwelt, mal kopiert er schlicht ein Motiv eines berühmten Malers. Es gibt das Schloss Chillon, den Clown Grock, Windmühlen oder ringende Pferde.

Und immer wieder das Matterhorn, immer wieder Schiffe – leicht fiele es also, Primo Richard küchenpsychologisch zu verorten: Hier hat ein einfaches Gemüt in den Bildern seinen Horizont abgesteckt, geprägt vom Gegensatz zwischen der Heimatverbundenheit seiner Generation und der eigenen Sehnsucht nach Abenteuer und weiter Welt. Selber war Richard nur einmal in Amerika gewesen, einige wenige Wochen verbrachte er jeweils in Spanien.

Die Kunsthistorikerin und frühere BT-Kritikerin Alice Henkes schreibt denn auch in ihrer Einordnung, «diese leidenschaftlich auf die Leinwand gebrachte Laien-Kunst» atme «den Esprit der 1950er- und 1960er-Jahre», obwohl sie später gemalt worden seien. Dies liege «an der Kleinbürgerlichkeit dieser Bilder», was jedoch nicht abwertend oder als Synonym für spiessig oder kleinkariert gemeint sei, sondern im Sinne der ursprünglichen soziologischen Bedeutung des Begriffs. Die Schicht des Kleinbürgertums rekrutierte sich aus «Handwerkern, kleinen Kaufleuten, Volksschullehrern» und hat im Gegensatz zum Gross- und Bildungsbürgertum «nur geringen Anteil am finanziellen und kulturellen Kapital», im Aufschwung der Nachkriegszeit hat es aber auch Anteil an der Demokratisierung des Wohlstandes und hat dank der Verbesserung der Arbeitsbedingungen nun auch eine geregelte Freizeit, die es dazu nutzen kann, sich selber kulturell auszudrücken. Zum Beispiel eben durch die Malerei.

Diese «neuen Amateur-Maler des 20. Jahrhunderts» (Henkes) sind denn auch nicht in der künstlerischen Avantgarde zuhause, sondern sie übernehmen «Themen und Motive, die ein, zwei Jahrhunderte zuvor auch in den Finanz- und Bildungseliten noch en vogue waren: Landschaft und Idylle.» Henkes weiter: «Jetzt träumen sich die kleinen Angestellten einer bereits durchtechnisierten Welt in Sonnenuntergänge über heimischen Bergen und über fernen Meeresküsten. Die Bilder, die Primo Richard gemalt hat, geben ein Zeugnis von diesen Träumen, das einerseits der Heimat nahe bleibt und zugleich in die Ferne strebt.»

 

«So viel Lebensfreude»

Man könnte nun zur Vermutung gelangen, dass Barbara Meyer Cesta, Rudolf Steiner und Alice Henkes, allesamt dem Bildungsbürgertum zugehörig, den malenden Kleinbürger Primo Richard also nicht nur aus-, sondern ihn durch die eigene künstlerische Betätigung mit ihm auch blossstellen. Doch dem ist nicht so. Kunstkritikerin Henkes schreibt angesichts Richards schier verschwenderischen Farbeinsatzes: «Welch eine Wonne!»

Und Barbara Meyer Cesta sagt: «Da steckt so viel Lebensfreude in diesen Bildern. Das ist eine ganz andere Haltung als bei so manch anderen Künstlern.» Der Amateur habe eine Leichtigkeit, die dem Profi abhandengekommen sei. So könne er sich unbefangen Motiven widmen, die für «echte» Künstler bestenfalls noch als Zitat in Frage kommen.

Doch wer sich in Primo Richards Bilderwelt vertieft, entdeckt noch weitere Facetten. Zwar hatte Richard keinerlei Berührungsängste vor dem Kitsch, wenn er etwa den Clown im Scheinwerferlicht in der Manege abbildet. Ebenso aber scheint er einen Sinn für stille Poesie gehabt zu haben, wenn er ein altes kleines Tessiner Posthäuschen verewigt.

Dass für den Gipfel des Matterhorns plötzlich zu wenig Leinwand da ist und dieser also nach vorne gebogen werden muss, kann man ihm als Dilettantismus auslegen – gerade so gut kann es aber auch sein Humor gewesen sein. Und manchmal scheinen ihm die Grenzen des Gegenständlichen zu eng geworden zu sein; es wirkt, als habe er in die fast abstrakte, expressive Farbenexplosion des Spiels von Wind und Wellen zur Sicherheit noch ein Schiff als Anker geworfen, um nicht zu sehr abzudriften.

 

Da waren noch zwei Bilder

Von heute an stellen Haus am Gern und Linda Häni Primo Richards Bilder in der Alten Krone aus, und zwar in der sogenannten Petersburger Hängung. Salopp gesagt: Die Wände werden vollgestopft mit den Werken, «und wir haben ja auch noch die Schaufenster», sagt Barbara Meyer Cesta.

Es ist eine der letzten Ausstellungen an dem Ort, der lange ein Ausstellungsort für nicht professionelle Künstlerinnen und Künstler war und ab nächstem Jahr mit einem neuen Konzept kuratiert und professionell geführt werden soll (das BT berichtete). Primo Richards Werke bilden so auch einen Abschied von der alten Alten Krone – man könne dies auch als Statement verstehen, sagt Rudolf Steiner.

Die Bilder können gekauft werden. Mit 100 bis 400 Franken sind sie günstig, aber sie werden nicht verramscht. «Ich gehe langsam gegen die 60 zu», sagt Linda Häni augenzwinkernd, «da ist es doch gut, wenn sie künftig möglichst vielen Menschen eine Freude bereiten können.» Das ist im Sinne aller Beteiligten, und es ist sicher im Sinn von Primo Richard selber, der seine Freude an der Malerei so konsequent ausgelebt hat.

Zwei der 240 Bilder aber gelangen wohl nicht in den Verkauf. Sie bilden einen Kontrast zu all der Farbenpracht. Sie sind dunkel, sie zeigen einen Friedhof, der Tod steht da als Sensemann. Es sind die beiden einzigen Bilder, die er seiner langjährigen Partnerin nie gezeigt hat. Linda Häni hat sie erst kürzlich gefunden. Zwei Tage vor seinem 75. Geburtstag hatte die Ärztin gesagt, es gehe nicht mehr lange. Primo Richard, 1924-1997, steht auf dem Bild auf einem der Grabsteine. Primo Richard, Liebhaber der Farben, hat seine gemalte Prognose um zwei Jahre überlebt.

Info: Ausstellung in der Alten Krone, Biel, bis 31. Oktober. Vernissage heute um 
17 Uhr mit Martin Schütz (Schwyzerörgeli), Finissage mit Martin Schütz (Cello, Stimme). Öffnungszeiten: Donnerstag, 
14 bis 20 Uhr, Freitag 14 bis 18.30 Uhr, Samstag 10 bis 17 Uhr. 
Publikation: Haus am Gern (Hg.): «Primo Richards Liebe zur Farbe», Edition Haus am Gern. 


Link: www.primorichard.ch

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