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«Bildende Kunst ist für PR-Zwecke 
missbraucht worden»

Ausgestellte Werke werden auf Migros-Töchter verteilt, eingelagerte Objekte verschenkt:
Die Migros Aare stösst Kunstschaffende vor den Kopf – auch die Bieler M. S. Bastian und Isabelle L.

Bild: Nicole Philipp

Christoph Hämmann

Im Nachhinein muss sich das Ganze als blanker Hohn anfühlen. Mit schönen Worten hatte Migros-Aare-Chef Anton Gäumann die Arbeit der Kuratorinnen gewürdigt, die für die Ausstellung mit Werken aus der ­Migros-Sammlung im Kunstmuseum Bern verantwortlich waren. «Die Ausstellung ist für das Kulturprozent der Migros Aare eine willkommene Gelegenheit, unsere Kunstsammlung und die damit anvisierten Ziele einem breiten Publikum bekannt zu machen», schrieb er im Vorwort des Ausstellungskatalogs.

Wie bei den Produkten im Supermarkt stehe bei der gesammelten Kunst die Regionalität im Fokus, so Gäumann weiter. Ans Migros-Kerngeschäft angelehnt war auch der Name der Ausstellung, die von Anfang Mai bis Mitte September 2019 dauerte: «Ohne Verfallsdatum». Das galt allerdings nicht für die vier Frauen, die im Bereich des Kulturprozents arbeiteten, darunter die Verantwortliche für die Sammlung und die Werkschau im Kunstmuseum: Zwei Tage nach der Finissage von «Ohne Verfallsdatum» wurden sie entlassen.

Und nun scheint auch die Kunstsammlung der Migros Aare ihr Ablaufdatum erreicht zu haben. Diese werde verscherbelt und in alle Windrichtungen verstreut, tönt es aus der Kunst­szene. Tatsächlich: Man sei dabei, die Kunstsammlung aufzulösen, heisst es in einem aktuellen Brief der Migros Aare an Künstlerinnen und Künstler, die einen Teil ihres Werks an sie verkauft hatten.

 

Schenkung an Mitarbeitende

Von einer Auflösung könne keine Rede sein, schreibt dagegen die Migros-Aare-Medienstelle. Von den rund 500 Kunstwerken der Sammlung seien etwa 380 in Klubschulen, auf dem Gurten oder in Migros-Filialen ausgestellt und verblieben in Migros-Besitz. Für die zirka 120 Werke im Archiv liefen derzeit Gespräche mit Museen, die damit beschenkt werden sollen. Ziel dieser Aktion sei es, «die Werke noch vermehrt in der Öffentlichkeit zu zeigen und nicht im Archiv verstauben zu lassen».

Eine Auflösung ist es aber eben doch. Schliesslich gibt die Migros nicht nur fast ein Viertel ihrer Sammlung an Museen ab – bei den ausgestellten Werken ändert die Eigentümerin ebenfalls, wenn auch innerhalb des Migros-Universums: Was in einer Klubschule hängt, geht an diese über, was auf dem Gurten ausgestellt ist, gehört neu dem «Gurten – Park im Grünen», einer Institution des Kulturprozents.

Ein «rundes Ganzes», das eine Kunstsammlung zumindest als Vision im Idealfall darstellt, wird jene der Migros Aare also bald nicht mehr sein. Wenn eine Sammlung nicht mehr betreut werde und niemand mehr den Überblick habe, dann verschwänden Werke spurlos oder würden nicht mehr restauriert, wenn dies nötig sei, sagen Sachverständige.

Zu dieser Darstellung passt, was laut Migros mit den rund 70 Werken geschehen könnte, die «keine passende Verwendung innerhalb der Migros oder in Museen» fänden: «Denkbar wäre zum Beispiel eine Schenkung an die Mitarbeitenden.» Was halbwegs nobel klingt, könnte dann für ein Kunstwerk das Gleiche bedeuten wie für das ausgediente Sofa am Strassenrand, an dem ein Zettel klebt: «Gratis zum Mitnehmen.»

Entsprechend gross ist die Enttäuschung zweier Künstler, die Werke an die Migros Aare verkaufen konnten: zum einen beim Bieler M. S. Bastian, der mit Isabelle L. Kunst zwischen Comic, Malerei, Animation und Installation herstellt; zum anderen beim Thuner Maler Dominik Stauch, dessen Projekte vermehrt interaktiv und webbasiert sind.

 

«Langfristige Vision»

M. S. Bastian und Isabelle L. hatten von 2016 bis 2019 einen Innenblick. Es war die letzte Blütezeit der Sammlung, in der diese mit einer neuen Strategie und einem Budget von jährlich 200 000 Franken gezielt ergänzt wurde. Mittendrin als Teil der sogenannten Ankaufkommission: M. S. Bastian und Isabelle L.

«Es war eine äusserst spannende Zeit», sagt M. S. Bastian rückblickend. «Wir analysierten die Sammlung und tätigten dann strategische Zukäufe mit einer langfristigen Vision.» Die Kommission habe Kunstschaffende in ihren Ateliers besucht und ihnen mitunter Werke auch deshalb abkaufen können, weil diese bei der Migros gut aufgehoben zu sein schienen. «Heute möchte ich mich bei all diesen Künstlerinnen und Künstlern am liebsten entschuldigen.»

Als «heftig» bezeichnet Dominik Stauch die jüngste Entwicklung. «Bildende Kunst ist von der Migros für PR-Zwecke missbraucht worden», findet er.

 

«Sehr relevant» für die Szene

Die Bedeutung der Migros-Kunstsammlung reichte laut Expertinnen und Experten zwar nicht gerade an jene der Mobiliar mit rund 2000 Werken heran, doch sei sie mit ihrem regionalen Fokus drauf und dran gewesen, sich zur ersten Adresse für Kunst aus den Migros-Aare-Kantonen Aargau, Bern und Solothurn zu entwickeln. Die 200 000 Franken, die jährlich zur Verfügung gestanden hätten, seien für die Förderung der regionalen Kunstszene «sehr relevant» gewesen, betont M. S. Bastian.

Trotz der Relevanz stellte dieses Ankaufbudget innerhalb des Kulturprozents kaum mehr als einen Klacks dar: Letzteres ist statutarisch verankert und umfasst ein halbes Prozent des Umsatzes im Detailhandel, was allein in der Migros Aare rund 16 Millionen Franken pro Jahr ausmacht.

Regionalen Kunstschaffenden bleibt mit Blick auf die Migros die Hoffnung, dass sie von deren Zürcher Museum für Gegenwartskunst berücksichtigt werden. In der Region Bern dagegen wurde unter Anton Gäumann nicht nur verschiedenen Grossprojekten der Stecker gezogen, etwa in der Stadt Bern der Wiederbelebung der Markthalle oder dem ambitionierten Umbau der Filiale an der Marktgasse. Nach dem Ende von Kunstkäufen vor zwei Jahren wird nun auch noch die Kunstsammlung aufgelöst.

Stichwörter: Kunst, Gurten, Statue, Künstler, Migros, Aare

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