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Biel

«Bonjour», «Grüessech» und eine Feier des Lebens

Gestern Abend ist die 14. Ausgabe des Festivals du Film Français d’Helvétie, mittlerweile einer der grössten kulturellen Anlässe der Stadt Biel, zu Ende gegangen. Ein Blick zurück auf fünf Festivaltage, 
fast 60 Filme, 20 Podiumsgespräche und über 30 Gäste. Mit einer besorgten Agnès Jaoui, einem Kinosaal als potenziellem Geburtshaus, einem widerlegten Vorurteil und einem Film für die «Unsichtbaren».

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Raphael Amstutz, Simon Dick, Mario Schnell und Sven Weber

Die Zugverbindungen von Paris in die Schweiz standen am diesjährigen Festival du Film Français Helévtie (FFFH) unter keinem guten Stern. Fast alle angereisten Gäste der Abendvorstellungen blieben irgendwo stecken. Doch spätestens nach der Vorführung erreichten sie Biel und standen auf der Bühne des Kinos Rex.

So auch Agnès Jaoui. Die vielfach preisgekrönte Schauspielerin, Regisseurin und Drehbuchautorin hat in Frankreich Kultstatus, aber absolut keine Starallüren. Bescheiden und sehr überlegt wägte sie nach der Vorführung von «Place publique» ihre Worte ab.

Der Film, der das Publikum mit viel Humor auf eine Landhausparty mitnimmt, in der alte und junge Stars und Sternchen aus der Film- und TV-Welt ein Fest feiern, stellt der Glamourwelt der Eitelkeiten kein gutes Zeugnis aus. Der Handywahn, Probleme mit dem Älterwerden, der Zynismus der Medienwelt, Reichtum und Armut bilden das Gerüst für eine Komödie, die der französischen Gesellschaft den Spiegel vorhält.

Agnès Jaoui wirkte auf der Bühne dann viel ernster als in ihrem Film und gab ihrer Sorge um den Zustand dieser Welt mit einem verzweifelt wirkenden Optimismus Ausdruck. «Wie soll man mit all den schlechten Nachrichten umgehen, die uns täglich erreichen? Darauf habe ich noch keine Antwort gefunden. Aber der Film handelt auch davon. Es ist schwierig, in diesem Umfeld den Sinn des Lebens zu finden», erklärte Jaoui in ihrem überzeugenden Auftritt.

 

Die Liebe, die Arbeit
Sehr lustig ging es dagegen in «Premières vacances» zu und her. Die teils überdrehte Komödie schickt zwei 30-Jährige, die sich erst gerade über Tinder kennengelernt haben, in die Ferien. Er eher der Fünfsterne-Reisende, sie eher bio, spontan und anspruchslos. In Bulgarien werden dann alle Varianten von Ferienglück, Beziehungsstress und Kulturschocks durchgespielt. Der Regisseur, Patrick Cassir und seine Hauptdarstellerin, Camille Chamoux, brachten das Publikum auch nach dem Film zum Lachen. Etwa dann, als Chamoux, die hochschwanger nach Biel gereist war, sagte: «Ich habe beschlossen, mein Kind in diesem Kino auf die Welt zu bringen!»

In anderen Werken gab es gar nichts zu lachen. So drehten sich gleich mehrere um drohende oder bereits eingetretene Arbeitslosigkeit, um die Art und Weise, wie unsere Leben (und die unserer Nächsten) umgepflügt werden, wenn wir unseren Job verlieren. In «En guerre» (siehe BT vom Samstag) wird beklemmend der enervierende Kampf gegen eine Fabrikschliessung gezeigt, in «Ceux qui travaillent», dem beeindruckenden Langspielfilmdebüt des Schweizers Antoine Russbach, steht Frank (Olivier Gourmet), der seit 15 Jahren für die gleiche Firma schuftete und dem Erfolg alles opferte, plötzlich auf der Strasse. Beides Werke, denen ein grosses Publikum gewünscht ist.

 

Der Respekt, der Abspann
Die Liebe und der Respekt zum Medium Film war am FFFH erneut deutlich spürbar. Einander fremde Menschen, die sich auf dem Weg zu ihrem Platz begegneten, grüssten einander freundlich. Hier erklang ein «Bonjour», da ein kurzes
 «Grüessech». Und auch wenn man noch niemandem auf die Füsse getreten war, wurde schon im Voraus prophylaktisch «Pardon» gesagt.

Selbst in der grossen Hektik, kurz bevor es ganz dunkel wurde im Saal, suchten sich die Zuschauerinnen und Zuschauer in aller Ruhe ihre Sitze. Der Saal konnte noch so voll sein: man liess sich unaufgeregt nieder. Danach die grosse Stille. Und nirgendwo flackerte ein Mobiltelefon auf.

Was allerdings noch besser werden könnte: Das Sitzenbleiben nach dem Abspann. Meistens gibt es da tatsächlich nichts mehr zu sehen, es sei denn, ein Comicblockbuster präsentiert gen Ende eine Zusatzszene.

Auch beim FFFH «lohnt» sich das längere Sitzen nicht. Die Situation ist hier allerdings eine andere, sind doch die Regisseure und Schauspielerinnen im Saal. Unverständlich also, wenn das Publikum gleich aufsteht und das Kino verlässt. Es ist ganz schön frech, wenn man den Machern keine Ehre erweist. Es sei denn, dass der nächste Film in einem anderen Kino wartet oder die Blase unangenehm drückt. Aber selbst dann sollte man den Anwesenden kurz Tribut zollen. Denn Gelegenheiten für solche Begegnungen sind selten.

 

Das Vorurteil, das Alter
«Französische Filme? Da schläft man doch ein?» So in etwa lautet das Vorurteil eines Nichtkenners, der sich in erster Linie nur Blockbuster reinzieht, während des Films schon mal lautstark Szenen kommentiert und mit seinem Smartphone dabei den halben Saal erleuchtet. Die Faszination des französischen Kinos ist nicht leicht in Worte zu fassen. Für alle, die aber den Mut haben, sich darauf einzulassen, sei «Photo de famille» wärmstens zu empfehlen.

Ein Werk über die Familie, die Liebe und das Leben. «Langweilig!» Oh nein, im Gegenteil. Was nach seichter Leinwandunterhaltung klingt, ist ein Meisterwerk, das die Zuschauer zum Lachen bringt, zu Tränen rührt und zum Nachdenken anregt. Leichtfüssig tänzelt der Film von einer Gefühlsregung zur anderen, überrascht immer wieder, schockiert und ist zugleich versöhnlich. Eine Achterbahn der Gefühle. Danach hüpft man fast aus dem Kino, möchte direkt seine Liebsten umarmen und mit ihnen das Leben feiern.

Nach der Komödie «Les vieux fourneaux» hat man keine Angst mehr vor dem Älterwerden. Natürlich muss ein Kinofilm keineswegs die Realität widerspiegeln. Aber die Vorfreude auf das Rentenalter steigert sich nach diesem Film trotzdem gewaltig. Wenn man auch mit Silberhaar in einem Kleinwagen über den Asphalt brettern kann, wenn man vor kuriosen Erfindungen nicht zurückschreckt und stets eine Zigarette locker im Mundwinkel hängen hat, wird alles gut. Und selbst wenn man im höheren Alter immer wieder mit Sünden aus einer längst vergangenen Zeit konfrontiert wird, ist die Message doch sonnenklar: Was passiert ist, ist passiert. Das Leben hat immer noch sehr viel zu bieten.

 

Die Sehnsüchte, die «Unsichtbaren»
Zahlreiche Filme lösten starke Gefühle aus. Einer davon war «Les dames». Trotz der Uhrzeit (Sonntagvormittag) und des Wetters (knallblauer Himmel, sommerliche Temperaturen) war das Rex praktisch ausverkauft. Die Dokumentation von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond porträtiert fünf Frauen zwischen 60 und 70, die «Unsichtbaren». Häufig verwitwet, geschieden oder sonst alleinstehend. Alle sind sehr aktiv (Vereine, Kultur, Wohltätigkeit), aber die Männer machen sich rar (sind schon tot, wollen jüngere Frauen oder bleiben zuhause), Frauen bleiben in diesem Alter meistens unter sich. Die Frauen reflektieren sehr offen und ehrlich, aber auch mit viel Humor, ihre Situation, Ängste, Sehnsüchte und Erfahrungen.

Grandios die Szene, als eine der Frauen die ersten Kontaktanfragen beim Online-Dating kommentiert («Oh nein, der sieht ja aus wie 80!»). Das Publikum war unisono ergriffen und begeistert – und es entspann sich im Anschluss an die Vorstellung eine schöne Diskussion, während der eine ältere Frau in rührender Weise zur Regisseurin Stéphanie Chuat sagte: «Danke, dass Sie uns ‹Unsichtbaren› eine Stimme gegeben haben.»

 

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Auf das Maximum reduziert
«Kurzfilme sind der Inbegriff des Kinos» – nicht minder erhaben drückte sich Dan Herzberg aus, der als Schauspieler in einem der Beiträge des Kurzfilmwettbewerbes agierte. Denn wie er an der Podiumsdiskussion ausführte: Es sind meist junge Talente, die mit Kurzfilmen beginnen. Die Finanzierung ist relativ einfach, deshalb redet niemand hinein. Die Passion für das Kino kann sich noch ungehindert entfalten, es darf wie in einem Labor experimentiert werden.

Publikum und Jury durften also gespannt sein. Die Ausgangslage für den Wettbewerb: Aus 350 Einsendungen wurden vorgängig sechs Filme ausgewählt, mit einer Spieldauer zwischen sechs und 21 Minuten. Eine eindrückliche Bandbreite an Geschichten wurde auf die Zuschauer losgelassen: Eine Frau rächt sich fürchterlich beim Mann, der ihre Familie überfahren hat («Un nouveau départ»). Ein junger, weisser Aussenseiter träumt davon, ein schwarzer Rapper zu sein («Venerman»). In «Dix minutes pas plus» entpuppt sich ein Speed-Dating als etwas völlig anderes, wie auch in «La parcelle», wo es einem Bauer gar nicht mehr geheuer ist, was sein Gen-Mais da plötzlich absondert.

Am meisten überzeugte die Jury aber «Laissez-moi danser» von Valérie Leroy und zeichnete das Werk mit dem Kurzfilmpreis des Festivals aus (3000 Franken). Da die Regisseurin verhindert war, nahm die sichtlich gerührte Hauptdarstellerin Camille Le Gall am Samstagabend den Preis entgegen. Sie spielt die liebevolle Chefin einer Putzkolonne auf einer Fähre. Als ihre Angestellten für sie eine Geburtstagsparty organisieren, droht jemand aus ihrem Team anonym damit, ihre Vergangenheit als Mann zu enthüllen. Sie, die immer für ihre mies bezahlten Frauen einsteht, ist am Boden zerstört. Die Verdichtung dieses Dramas als Kurzfilm ist gleichermassen einfühlsam und eindrücklich gelungen – die Auszeichnung deshalb mehr als gerechtfertigt. Sven Weber

 

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Drei Preise, eine Premiere

- Im Rahmen der Spezialveranstaltung des Forums für die Zweisprachigkeit hat der Kurzfilm «Inlove» den Preis des Wettbewerbs «Wenn Sprachen sich begegnen» gewonnen.

- Die Jugendjury (mit fünf Mitgliedern im Alter zwischen 15 und 25 Jahre unter der Leitung des Bieler Journalisten Thierry Luterbacher) vergab ihren Preis an «Pupille», der die Schwierigkeiten zeigt, die im Vorfeld von Adoptionen auftauchen können.

- Der «Prix Célestine» ging an «Nos batailles». Vier Mitglieder der Organisation Interfilm Schweiz übergaben die Preissumme im Wert 2500 Franken dem Verleiher, um die Verbreitung des Films auf deutschsprachigem Gebiet zu fördern.

- In Bern konnte am Freitag eine Premiere gefeiert werden: Das Podiumsgespräch mit der Regisseurin Bettina Oberli, die ihren neuen Film «Le vent tourne» vorstellte, war das erste in der Geschichte des FFFH, das auf Deutsch stattfand und simultan ins Französische übersetzt wurde. raz

 

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Wie ein Familientreffen
Wir Filmkritiker sind ganz besondere Fachjournalisten. Meistens sind wir alleine unterwegs und tippen nach der Visionierung im Kino im stillen Kämmerlein unsere Texte, in der Hoffnung, unsere Leserschaft zu erfreuen.

Umso schöner ist es dann, wenn sich die Zunft an einem Filmfestival trifft und sich live austauscht. Dann werden Hände geschüttelt und auch mal zünftige Highfives im Kinosaal ausgetauscht.

Man diskutiert, ist sich manchmal einig und lästert auch mal über dies und das. Und immer ist da dieses Leuchten in den Augen, wenn man nach der Sichtung eines Films versucht in Worte zu fassen, warum man gerade so aus dem Häuschen ist.

Es ist wie an einem Familientreffen: Man sieht sich zwar selten, aber wenn man sich dann trifft, geniesst man es einfach, im engen Kreis von Filmverrückten zu sein. Simon Dick

 

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Hauptsache, der Film ist sehenswert
Jedes Jahr stellt Festivaldirektor Christian Kellenberger in mindestens einer seiner zahlreichen Ansprachen mit Erstaunen und Freude fest, dass 50 Prozent der Zuschauerinnen und Zuschauer des Festivals Deutschschweizer sind. Aber ist das wirklich erstaunlich in einer Stadt, in der 56 Prozent der Einwohner deutschsprachig sind? Spiegelt diese Zahl nicht einfach das ganz normale Besucherverhalten in Biel? Wer sich für Kino interessiert, dem ist das Herkunftsland eines Films sowieso egal: Hauptsache, der Film ist sehenswert. Insofern ist es sehr erfreulich, dass am FFFH auch Filme zu sehen sind, die nicht französisch gesprochen sind. Dieses Jahr kamen sie aus Italien, Island und Spanien. Mit einem Ausbau dieser Sektion könnten vielleicht noch mehr Menschen ans Festival gelockt werden – vor allem auch, wenn die Filme nicht zu Randzeiten programmiert werden. Mario Schnell

 

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Sophie Marceauin Biel
Insgeheim hofft man immer wieder, dass einmal jemand von den ganz Grossen nach Biel kommt: Sophie Marceau oder Juliette Binoche, Gérard Depardieu oder  Alain Delon. Und man erinnert sich mit Freude an die Aufregung, die Patrick Bruel in den Strassen von Biel ausgelöst hat. Die Verantwortlichen bleiben aber dabei: Der Film ist entscheidend. Und so hiessen in diesem Jahr die Gäste – neben Agnès Jaoui und Adèle Haenel – Thomas Lilti oder Guillaume Senez, Jeanne Herry oder Camille Chamoux. Namen, die nur Filminteressierten geläufig sind. Doch dann passierte das, was manche bereits als «Wunder von Biel» bezeichnen. Die Künstlerinnen und Künstler waren so witzig, angenehm und klug und so fernab jeglicher weichgespülter PR-Sprache und Allüren, dass die Stars sofort vergessen waren. Was aber natürlich nicht heisst, dass wir uns nicht doch auf Sophie Marceau freuen würden. Raphael Amstutz

 

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Ici c’est le FFFH
Biel ist nicht glamourös. Rote Teppiche wirken hier fehl am Platz. Biel ist dafür kommunikativ. Bei den Podien wird die Möglichkeit zum Austausch mit den Filmschaffenden rege genutzt, vor dem Kino danach weiter debattiert. Biel ist frech und aufmüpfig. Wenn eine Filmeinführung wieder gar ausufernd ausfällt, wird auch mal gemurrt und gepfiffen. Biel gibt sich Mühe mit der Zweisprachigkeit, auch wenn es im Alltag dann häufig heisst: «Pour les romands, c’est la même chose, mais en français». Deshalb geniesst es die französischsprachige Minderheit offensichtlich und zurecht, dass ihre Kultur für drei Tage im Mittelpunkt steht. Biel bildet: Als Deutschschweizer nimmt man diese Einladung zum Kulturtransfer gerne an und siehe da: Am Sonntag bräuchte es eigentlich keine Untertitel mehr. Biel liebt sein Festival. Biel ist das FFFH und vice versa. Sven Weber

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