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Literatur

Die Liebe als absolutes, unabdingbares Gefühl

Peter Stamms neuer Roman «Das Archiv der Gefühle» kommt still und leise daher. Er reicht in eine Tiefe, wie sie heutige Bücher nur noch selten erreichen.

Peter Stamm bricht eine Lanze für die Liebe als unergründliches Geheimnis.  zvg/Anita Affentranger
Charles Linsmayer
 
«Bleibt denn nicht Liebe immer, immer Sehnsucht, ja im Letzten nie ganz zu stillende Sehnsucht nacheinander», schrieb Dietrich Bonhoeffer am 29. Mai 1944 seiner 19-jährigen Verlobten Maria von Wedemeyer aus dem Militärgefängnis Berlin-Tegel. Und: «Was wäre eine Erfüllung, die uns die Sehnsucht nähme? Sie wäre das Ende der Liebe, nicht ihr Anfang, ihre Höhe.» Ob Peter Stamm, der 1963, 18 Jahre, nachdem Bonhoeffer, ohne seine Verlobte nochmals wiederzusehen, von den Nazis ermordet worden war, zur Welt kam, diese Sätze kennt, ist nicht bekannt. Das aber, was er in seinem neuen Buch, «Das Archiv der Gefühle», auf ebenso meisterhafte wie tiefgründige Art und Weise zum Ausdruck bringt, setzen sie fast wörtlich an einem Beispiel um. 

Ein Archiv als Abbild der Welt
Um einen seiner Zeit und ihren Unerfreulichkeiten kritisch gegenüberstehenden Mann geht es in dem Roman. Einen sich selbst als «verschrobenen Menschenfeind» empfindenden Dokumentarist, der, von einem Zeitungskonzern entlassen, das Pressearchiv zu sich nach Hause genommen hat und dort Stimmen zu allen möglichen Themen sammelt und in Ordner ablegt. So dass eine Art «Abbild der Welt» entsteht, das keinen praktischen Nutzen hat und das er dennoch trotzig dem Internet entgegenstellt, «wo alles gleichwertig ist, so dass nichts mehr einen Wert hat». 
 
Gegenläufige Karrieren
Als Schüler und Gymnasiast hat er ein Mädchen namens Franziska geliebt, das seine Liebe nicht erwiderte. «Du darfst mich küssen, aber ich bin nicht in dich verliebt», sagte sie zu ihm. Und er erinnert sich daran und an alles weitere, was mit dem Mädchen zusammenhängt, in seinen Aufzeichnungen, die parallel zu seiner Archivarbeit entstehen, zwischen Erinnerung und alltäglicher Beobachtung oszillieren, Wirklichkeit und Traum auf eine kaum unterscheidbare Weise nebeneinanderstellen und die letztendlich, mit ebensolcher Sorgfalt und ebensolchem Fleiss wie sein Archiv geführt, seine eigene Akte darstellen. Während er mit seinem Leben nichts Rechtes anzufangen wusste und zuletzt das Archivieren zu einer akribisch umgesetzten Lebensaufgabe machte, wurde Franziska ihrerseits Schlagersängerin, errang Berühmtheit und Reichtum und generierte eine bunte Fülle von Klatschnachrichten über ihre Karriere, ihre Tourneen und ihre häufig wechselnden Männerbekanntschaften, die alle Eingang in das bewusste Archiv fanden. Den Archivar aber verliert sie, obwohl es nicht klar ist, in wieweit er die protokollierten Begegnungen mit ihr nur erfunden oder geträumt hat, nie ganz aus den Augen, ja es kommt ein paarmal zu Kontakten, die das Zeug gehabt hätten, in eine Ehe zu münden, aber jedes Mal endet alles in einer Enttäuschung, und es gilt für die Beziehung der beiden ein Chansontext, den sie ihm einmal vorsingt: «Je ferais de nous deux mes plus beaux souvenirs /Je reprendrai ma route, le monde m’émerveille /J’irai me réchauffer à un autre soleil.» – «Ich mache aus uns beiden meine schönsten Erinnerungen, / dann werde ich weitergehen. / Die Sonne bezaubert mich, ich werde mich an einer anderen Sonne wärmen.» 
 
Sehnsucht versus Realität
Die «schönsten Erinnerungen» an seine Franziska, die sich als Künstlerin bald einmal Fabienne nennt, pflegt und hütet auch der alternde Archivar. Auch er hat wechselnde Bekanntschaften, einmal mit einer Schweizerin in Paris, dann mit einer Freundin Franziskas, aber all das ist unbefriedigender Ersatz für jene Liebe, die ganz Sehnsucht für ihn geworden ist. Er hat Franziska immer geliebt und kam nie von den frühen ersten Begegnungen los, die dadurch gekennzeichnet waren, dass er zugleich glücklich und verzweifelt war. Aber er weiss auch: «Vielleicht ist es gut, dass wir nicht zusammengekommen sind, eine Beziehung hätte meiner Liebe nie genügen, hätte sie nur beschädigen können, abnutzen wie einen Gegenstand oder ein Wort im Gebrauch.» 
 
Liebe unter Wasser
Lebendig, vital lebendig als Figur zwischen Himmel und Erde, ist seine Franziska nur in seinen Vorstellungen und Träumen, etwa dem immer wiederkehrenden vom See oder vom Fluss, der sie beide in die Tiefe zieht: «Sie taucht ab, ich folge ihr in die Dunkelheit. Jetzt ist das Wasser plötzlich klar, und im Rest von Licht sehe ich ihre schlanke Figur, die ruhigen, kraftvollen Züge, mit denen sie Tiefe gewinnt. Sie wendet sich um, als warte sie auf mich. Sie lächelt und lockt mich mit der Hand, ich soll näherkommen. Sie nimmt meine Hand, zieht mich ganz zu sich, und wir küssen uns. Luftblasen steigen aus unseren geöffneten Mündern…»
 
«Ich bin die, die immer da ist»
Spät erst, als er schon daran ist, sein Archiv zu vernichten und der Illusion einer neuen Lebensweise verfällt, erkennt er, dass Franziska ihn ebenfalls geliebt haben muss, sich aber, so wie er selbst, einer Beziehung widersetzte, weil sie die Sehnsucht zerstört hätte. «Ich liebe dich nicht, weil ich dich liebe» lautete ihre Formel dafür, und eines Tages erklärt sie sich, ob in Wirklichkeit oder in seiner Einbildung, bleibt offen, bei der Betrachtung eines ihrer Bilder in einer Illustrierten mit jenen Worten, die auch er, abgeleitet von seiner spezifischen Einschätzung von Gott als einem «Dabeiseienden», für sich in Anspruch nimmt: «Das bin nicht ich. Ich bin, die ich bin. Ich bin die, die immer da ist.» 
Im letzten Kapitel kommt es, ob Traum oder Wirklichkeit, dann doch noch zu einer Wiederbegegnung der Liebenden. Franziska hat Brustkrebs und lädt ihn in ihre Villa ein. Ihre Akte, eine der wenigen, die der Archivar vor der Vernichtung bewahrt hat, ist geschlossen, die Karriere zu Ende, die Lebenszeit beschränkt. Nun nennt der Archivar sie vielsagenderweise nicht mehr Franziska, sondern Fabienne, und er sagt über die späte, unerwartete Begegnung: «Wir haben uns geliebt, aber es ist mir vorgekommen, als habe das nichts mit meiner Liebe zu tun, nichts mit Franziska und mir.» Und er stellt sich nun auch vor, mit Franziska verheiratet gewesen zu sein und Kinder mit ihr gehabt zu haben. «Aber hatte ich mir diese Kinder wirklich gewünscht», fährt er dann fort, «hatte ich den Alltag mit Franziska teilen wollen, oder brauchte ich sie nicht viel mehr als das, was sie mir ein Leben lang gewesen war, eine unerreichbare Liebe, eine Sehnsucht? Sie hatte mich zugleich glücklich und unglücklich gemacht in ihrer Abwesenheit. Wäre ich glücklicher gewesen mit ihr zusammen? Wovon hätte ich dann geträumt?»
 
Die Richtige, nicht die Falsche
Franziskas Freundin Anita, mit der der Archivar gegen Ende des Romans eine Nacht in Franziskas Villa verbringt, sagt zu ihm: «Wir haben uns beide die Falschen ausgeguckt, nicht wahr?» Und es ist zunächst nicht erklärbar, warum er kurz darauf einen wilden Zorn ihr gegenüber empfindet und sie fast geschlagen hätte. Bis man darauf stösst, dass dieser Satz vom falschen Partner, der falschen Partnerin den einsamen Verliebten mitten ins Herz getroffen haben muss. Nein, es war nicht die Falsche, die er geliebt hat, es war die Richtige, und er hat sie in einer lebenslang virulenten, zwischen Glück und Unglück schwankenden Zuneigung auf eine Weise geliebt, wie es sich Paare, die sich gefunden haben, in dieser Absolutheit und Unbedingtheit kaum vorstellen können.
 
Ein falsches Männerbild? 
Zu kurz greift bei diesem Roman auch jene leider in Mode gekommene Sitte, ein literarisches Meisterwerk nach Gender-Prinzipien zu beurteilen. So ist die dem Roman in der Besprechung von CH-Media attestierte «erfrischende Männerfeindlichkeit» beziehungsweise «Männer-Dämmerung» am Beispiel eines «ebenso halt- wie farblosen Dokumentaristen» ebenso verfehlt wie die folgende, in den Tamedia-Zeitungen unter dem Titel «Abgesang auf den ratlosen Mann» erhobene Kritik am Männerbild des Verfassers: «Frauen, die Entscheidungen treffen und Verluste, wie sie zu einem Leben dazugehören, in Kauf nehmen, wünschen sich ein männliches Äquivalent. Männer, die aufrecht nach vorne gewandt in die Welt hineingehen und dabei eine Sprache für ihre Gefühle finden, statt sich daran zu verschlucken.»  
Über soviel Unverständnis kann man nur lächeln, ist doch das, was Peter Stamm mit «Das Archiv der Gefühle» vorlegt, nicht anders als «Weit über das Land» von 2016 – die bewegende Geschichte einer Zuneigung, die selbst die scheinbar endgültige Trennung nicht zu zerstören vermag –, ein Roman, der in einer immer oberflächlicher und banaler werdenden Welt eine Lanze für die Liebe als unergründliches Geheimnis und elementare, ebenso verrückte wie unerklärbare Glückserfahrung bricht. 
 
Info: Peter Stamm: «Das Archiv der Gefühle», S. Fischer-Verlag, 192 Seiten, 29.90 Franken.

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