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Kinder- und Jugendschriften

Geschichten, die Fragen hinterlassen

Das neue Jahresprogramm des Schweizer Jugendschriftenwerks verbindet spannende Erzählbände mit zwei aktuellen Titeln. Die kleinen Hefte sind in sechs Sprachen erhältlich und erscheinen seit 1932.

Bild: gau

Charles Linsmayer

Wie jedes Jahr präsentiert das Schweizer Jugendschriftenwerk SJW auch für die Saison 2021/22 wieder eine Reihe neuer Publikationen in allen vier Landessprachen und in der seit 1932 unverändert charakteristischen Aufmachung als farbig und jugendgerecht, aber künstlerisch anspruchsvoll illustrierte Hefte im Umfang von 30 Seiten.

 

Brandaktuell: Heft «Wasser»

Sieht man von der Nr. 2651, einer anschaulichen, für den Schulunterricht bestens geeigneten Darstellung des Phänomens Wasser – «Wasser. Lebenswichtig und bedrohlich» ist der Titel – ab, einem Heft, das gerade durch die jüngsten Überschwemmungen in Deutschland, in der Schweiz und vor allem in Biel hoch aktuell geworden ist, so könnte man die acht verbleibenden deutschsprachigen Hefte unter das Stichwort «Erzählen für Kinder und Jugendliche» stellen.

 

Glauser als Highlight

Als ein Musterbeispiel grosser Schweizer Erzählkunst hat unter Nr. 2654 Friedrich Glausers Novelle «Die Verschwundene» mit kongenialen Illustrationen von Sabine Rufener in die SJW-Edition Aufnahme gefunden. Es ist, vielleicht eher für die Sekundar- oder Gymnasialstufe geeignet, die Geschichte des Schweizer Chemikers Johann Furrer, der auf einer Schiffsreise einer gewissen Inge Parker begegnet, der er während seines Aufenthalts in Marseille so nahe kommt, dass sich eigentlich eine Liebesbeziehung daraus entwickeln müsste, wenn, ja wenn sie nicht auf eine so merkwürdige Weise aus seinen Augen verschwinden würde, dass er fast schon zu glauben beginnt, die Begegnung sei seiner überreizten Phantasie entsprungen.

Bis er dann, nach vier Monaten Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik, darauf kommt, dass Inge die Pest in sich trug und, um nicht Hunderttausende damit anzustecken, von den Behörden zum Verschwinden gebracht worden ist. «Die Kollektivität ist wichtiger als der einzelne», erklärt man Furrer auf der Präfektur, und man braucht Christa Baumbergers kluges Nachwort zu dem Band gar nicht zu kennen, um auf die Parallelen zur auch heute noch nicht besiegten Coronapandemie zu stossen.

 

Für das Erstlesealter

«Eine Geschichte, die keine Frage hinterlässt, ist überhaupt keine Geschichte», lässt Glauser seine Erzählung enden, und die Erkenntnis eignet sich gut, um auch die anderen Erzählbändchen des neuen SJW-Programms etwas unter die Lupe zu nehmen. Sogar, wenn es sich um Hefte für die ganz Kleinen handelt. «Serafinas Geburtstag» etwa heisst das Büchlein für die Allerjüngsten, das die Nummer 2648 trägt und von Doris Lecher gezeichnet und getextet worden ist. Es ist eine Tiergeschichte mit wenig Worten, eine Erzählung, die davon handelt, dass das Eichhörnchen Eina unter den Tieren herumgeht und Geschenke für den Geburtstag der Schnecke Serafina zusammenträgt. Eine Nuss, ein Ahornblatt, ein Rüebli kommen so zusammen, und natürlich lautet die Frage, die damit gestellt ist, was denn die Kinder einander und den Eltern zum Geburtstag schenken könnten, wenn sie in de Büchlein erkannt haben, dass das Einfachste, Naheliegendste das Schönste sein kann.

Der Band ist übrigens, auf Karton gedruckt, zugleich ein Bastelbogen, und das Geschenk an die Kinder ist die Möglichkeit, aus all den lustigen Tieren Aufstellfiguren zu basteln.

 

Grosse und kleine Katzen

Jacqueline Mosers und Anete Meleces Heft «Tim und Luna bekommen eine Katze» (Nr. 2647) setzt ebenso fröhlich und frisch das frühere Bändchen «Tim und Luna bekommen einen Hund» fort und tippt eine ganze Reihe von Fragen an, die sich im Alltag von zwei lebenslustigen Zwillingen stellen und an denen man jedesmal noch weiter herumrätseln könnte. «Löwe gesucht», die von Daniel Fehr (Text) und Pia Valär (Bilder) präsentiert Geschichte eines alten Löwen, den der Zoo als zu wenig attraktiv aus dem Bestand nimmt, um ihn dann, nachdem er bei einer Einbrecherverfolgung eine pfiffige Rolle gespielt hat, in Gnaden wieder aufzunehmen, könnte gut für die Frage stehen, ob nicht gerade ein älteres Tier oder auch ein Mensch (!) etwas Unverzichtbares mit sich bringt, das Jüngeren abgeht. (Nr.2649)

 

Monis schwierige Frage

«Moni heisst mein Pony» nennt sich das von Lika Nüssli witzig illustrierte, mit vielen humorigen kurzen Sätzen ausgestattete Heft von Andrea Gerster, das durchaus nicht nur eine heile Kinderwelt vorführt, sondern auch schwierige Situationen und offene Fragen anspricht. Etwa, wenn es etwa darum geht, dass die kleine Erzählerin entdeckt, dass ihr Papa ein Verhältnis mit ihrer Lehrerin unterhält: «Die Frau passt nicht zu Papa. Mama passt viel besser. Ich werde niemandem etwas sagen. Auch nicht, dass ich heute auf dem Heimweg geweint habe.» Nr. 2652, Tinetta Rauchs Erzählsammlung «Kindlamainta» /«Kinderbande» ist, illustriert von Madlaina Janett, eine doppelsprachige Ausgabe auf Deutsch und Vallader. Es sind die Jugenderinnerungen der Autorin, die auf einem Bauernhof in Sent im Unterengadin aufgewachsen ist. Das Elternhaus war ganz anders als die hellen und modernen andern Häuser, und die drei kleinen Mädchen können das Besondere an dem jahrhundertealten Palast noch nicht erkennen. Eine Umgebung jedenfalls, in der es Rätsel über Rätsel wie die unheimliche Geschichte von den Kinderfressern gibt, die sich unter den Betten der Kinder verstecken, um ihnen mit ihren spitzen Zähnen ins Herz zu beissen.

 

Krimis für Grössere

Die beiden Hefte für grössere Jugendliche, Nr. 2650, «Biest auf der Spur» von Brigitte Schär (Text) und Andrea Caprez (Illustration) und «Die Geisterfalle» von Pia Schad (Text) und Eva Rust (Bilder), Nr. 2646, setzen die Reihen «Dominos Geheimnis» bzw. «Club der Doofen» fort.

Es sind Kriminalgeschichten, und ob es nun um eine geheimnisvolle mexikanische Katzendarstellung geht, bei der es nicht sicher ist, ob der Stein nicht plötzlich zum Leben erwacht, oder ob der Club der Doofen während des Klassenlagers in einer verwilderten Burgruine auf Geister stösst: für Spannung ist gesorgt, für die aktive Beteiligung der Jugendlichen an der Lösung der unheimlichen Vorkommnisse auch, und doch zeigt sich gerade bei diesen beiden Heften, wie schwer es heute ist, jugendgerechte Geschichten zu schreiben und wie gut es den Texten tun würde, wenn sie etwas von jener Abgründigkeit und Bodenlosigkeit mitbekommen würden, wie sie von Glausers «Verschwundener» ausgehen.

Info: SJW-Hefte sind im Buchhandel oder unter office@sjw.ch erhältlich.

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