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«Jeder neue Tag ist eine Leinwand, die man bemalen kann»

«22» heisst die neue EP der Bieler Saxophonistin Hanna Marchand. Das Werk ist kurz geraten – was mit dem Leben in London zu tun hat. Dieses ist unsicher, aber Marchand möchte nicht tauschen.

Hanna Marchand hat es in London selten so entspannt wie bei diesem Fotoshooting. Doch sie zieht die Freiheit der Sicherheit vor – und hat so zu ihrem eigenen Ausdruck gefunden.  zvg/Izabela Wojnarowska
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"INFJ-T"

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Tobias Graden

Eigentlich wollte sie ja nach New York gehen. Das war ihr Traum, wäre aber noch schwieriger zu realisieren gewesen. «Ich hätte mir damals nicht einmal das Flugbillet leisten können», sagt sie. Also machte sie sich auf nach London. Auch das war nicht einfach. Zuerst besuchte sie die englische Metropole für einige Tage:«Ich wollte spüren, ob das was sein könnte. Ich wollte ein Gefühl für den Ort bekommen.» Sie bekam einen Job angeboten in einem Café, das war die Initialzündung:«So konnte ich mir die Miete leisten.» London ist teuer, so günstigen Wohn- und Arbeitsraum wie in Biel gibt es dort nicht. «Das war vor...» – sie überlegt laut, ihr Schweizerdeutsch ist mit englischen Wörtern durchsetzt, nun zählt sie auf Französisch – «das war vor dreieinhalb Jahren. Also vor einer Ewigkeit.»
In dieser Ewigkeit gab es durchaus Momente, in denen sich Hanna Marchand, Saxophonistin aus Biel, überlegt hat aufzugeben. Doch davon später.

Das Glück liegt im Kleinen
Vor dieser Ewigkeit, also im Frühjahr 2018, stand Marchands Entschluss fest. Sie hatte die Jazzschule mit dem Master abgeschlossen und erste eigene musikalische Spuren hinterlassen, war beispielsweise an die Jazzwerkstatt Bern eingeladen worden. Aber sie sehnte sich nach frischem Wind, nach neuer Inspiration. Zog zuerst nach Basel und verstand dies bloss als Zwischenstation. «Ich bin offen für Sachen», sagte sie 2017 gegenüber dem BT, «sie dürfen auch einfach schön sein, aber nicht glatt. Ich muss mich an ihren Haken festhalten können.» Hanna Marchand wollte wachsen, künstlerisch, aber auch persönlich.
Welche musikalischen Resultate dieser Prozess gezeitigt hat, lässt sich jetzt ansatzweise nachhören. Kürzlich hat Hanna Marchand unter dem Bandnamen Jojo Likes It Hard die EP «22» veröffentlicht. Bei der Betitelung zeigt sich Marchands Faible für Anleihen und Codierungen: «22» ist dem Disney-Film «Soul» entnommen, in dem «Seele Nr. 22» einem Pianisten beibringt, dass das Glück nicht zwingend im Erreichen eines einzigen grossen Ziels liegt, sondern in vielen kleinen Dingen. Demgegenüber steht die Bedeutung in der Numerologie, auf die Marchand ebenfalls hinweist, wo die Zahl 22 lang gehegte Träume Realität werden lassen kann.
«22» ist mit drei Instrumentalstücken recht kurz geraten, gibt aber doch einen Einblick in das, was die Musikerin antreibt. Während «INFJ-T» (das Kürzel für den Persönlichkeitstyp des «Advokaten») den Bogen schlägt von Afrobeat über eine entschlackte Form von Passport bis hin zur Poesie eines Jan Garbarek, geht die Single «Virgo» in Richtung trockenen Jazz-Funks, «Waiting in Vain» weiss melodiös wie improvisatorisch zu überzeugen.

Finanziell «nicht stabil»
Dass die EP nicht länger ausgefallen ist, liegt in erster Linie am Geld respektive dem Fehlen desselben. «Hier sind alle am Strugglen», sagt Marchand, «alles ist mit Geld verbunden. Die Mitmusiker brauchen Geld, der Bandraum kostet, das Studio will bezahlt sein.» Die EP realisieren zu können, war dagegen eine günstige Angelegenheit: Die Aufnahme war die Abchlussarbeit für Studierende der Tontechnik. Sie entstand unter grossem Stress und Zeitdruck, war dafür gratis. Denn: «Finanziell stabil bin ich derzeit nicht», sagt die Bielerin. Sie erhält zwar Hilfe vom Staat, weil sich die Lage für Musikerinnen nach den covid-bedingten Lockdowns noch nicht normalisiert hat. Es ist eine Art Arbeitslosengeld, das sie gleichzeitig dazu verpflichtet, nach Jobs zu suchen und bei Gelegenheit auch anzunehmen.

Die Begleiterin des DJs
Doch gerade dies kann mit ihren künstlerischen Ambitionen kollidieren, war es doch bislang so, dass sie sich an den oben erwähnten Haken entlang ihres Wegs weniger festhalten als vielmehr entlanghangeln musste. Dies hat seinen Tribut gefordert: Vor einigen Tagen veröffentlichte Hanna Marchand auf ihren Social-Media-Kanälen ein Statement, in dem sie einen zwischenzeitlichen Rückzug ankündigte –  sie müsse nun eine Weile für sich schauen und ihren Zugang zur Musik überdenken.
«Ich bin ein bisschen ausgelaugt», sagt sie freimütig. Grund dafür sind die «Geld-Gigs», wie sie es nennt: Kurzfristige Engagments in ad hoc zusammengestellten Unterhaltungsbands, die an Festen oder Hochzeiten zwar immer ungefähr das gleiche Repertoire spielen, aber keine Minute miteinander proben, kurzfristig die Tonarten ändern und der Saxophonistin auch nicht mitteilen mögen, welchen Part genau sie in einem Bläsersatz denn zu spielen habe. Das schult zwar das Ohr und die Flexibilität ungemein, ist mit der Zeit aber auch sehr anstrengend.
Lieber sind ihr die Auftritte mit DJs, die für ihr Set noch eine Live-Saxophonistin gebrauchen können. Diese Engagements sind besser bezahlt, und ihre solide Jazzschule-Ausbildung hilft ihr im Markt: Gut aussehende Musikerinnen (für solche Gigs ist dies ein wichtiger Faktor, das ist Marchand bewusst) gibt es einige – solche, die auch gut spielen können, schon weniger. Gleichwohl:Richtig zukunftsträchtig ist auch dies nicht. «In ein paar Jahren bin ich 40», sagt die Bielerin, «es werden genügend junge Frauen nachkommen, die erst 25 sind.»

Sie hat sich gelöst
Mit dem Umstand, dass das Aussehen auch ein Erfolgsfaktor sein kann, hat Hanna Marchand aber keine Probleme. Schon in der Schweiz hat sie gerne mit ihrer Erscheinung gespielt. Ihren markanten Look führt sie auch in London gerne vor und ist darum auch als Model tätig. Besteht nicht die Gefahr, dass dies ihrer Reputation als Musikerin abträglich sein könnte? Hanna Marchand argumentiert einerseits pragmatisch («Konzerte waren im Lockdown nicht möglich, Fotoshootings schon»), anderseits machen ihr diese Jobs schlicht Spass – und sie erweitern das Netzwerk. So können sich wiederum neue Kontakte und Projekte ergeben, in denen es um ihre Musik geht.
Was diese betrifft, so zieht Hanna Marchand eine ambivalente Zwischenbilanz: «Ich bin künstlerisch eigentlich nicht dort, wo ich gerne sein möchte», sagt sie, «weil viel Energie auf Nebenschauplätzen versickert.» Das ist eine nüchtern getroffene Analyse, kein selbstmitleidiges Bedauern. Denn Marchand ergänzt umgehend: «Nach dem Abschluss der Jazzschule war ich aber so gar nicht frei. Ich musste mich von dieser lösen. Ich hatte nicht meine eigene Sprache, sondern jene, die ich gelernt hatte. Ich denke, ich habe mich positiv entwickelt, was den eigenen Ausdruck angeht. Wenn ich nun wieder mehr Raum habe, wird viel mehr von dem kommen, was ich eigentlich sagen will.»

Afrobeat und Amapiano
Derzeit zieht es Marchand zu Stilen wie Afrobeat und Amapiano, einem in Südafrika entwickelten und populär gewordenen Subgenre des House, das dessen Elemente mit jenen des Jazz solchen aus Südafrika vermischt. Für diese Stile ist die Szene in London ungleich grösser als in der Schweiz – und auch leichter zugänglich. «In der Schweiz muss man sich erst gut kennen, bis man auch mal bei einem Projekt mitmacht, das noch kein Geld einbringt», sagt Marchand, «hier kommt jemand, fragt, ob ich Lust auf ein Shooting habe, man geht nach Shoreditch, und vielleicht ergibt sich etwas Neues daraus.»
Zweifel aber gibt es durchaus, gerade in der Coronazeit: «Es ist überhaupt kein linearer Prozess, und ich habe meine Krisen.» Wichtiger aber als Sicherheit ist ihr – sie sagt es auf Englisch – «the personal growth», die Persönlichkeitsentwicklung. Und die Freiheit und Offenheit: «Jeder neue Tage ist eine weisse Leinwand, die man bemalen kann.»
Einige neue Sachen seien denn auch bereits aufgegleist, sie ist gebucht für Auftritte mit DJs an mehreren Wochenenden, wird öfters mal spontan in Studio-Sessions eingeladen. Ziel ist es, ihrer eigenen Musik mehr Raum zu geben, eine weitere EP oder gar ein Album aufnehmen. Ihrer alten Heimat würde sie gerne einen Besuch abstatten, wegen Corona und klammem Kontostand werde dies wohl erst nächstes Jahr möglich sein. Sie beteuert: «Mein Herz schlägt für Biel.»
Ebenso betont sie: «Etwas habe ich mir in London schon aufgebaut. My dreams are alive here.»

Info: Joko Likes It Hard: «22», abrufbar beispielsweise auf Spotify.

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