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Literatur

Kleider machen Leute. Sind Leute nur Kleider?

Wer ist am besten befähigt, die Gedichte von Amanda Gorman zu übersetzen? Vor einigen Jahren hätte diese Frage wohl nur Insider des Literaturbetriebs interessiert. Heute entbrennt darüber eine breite politische Debatte – eine beunruhigende Perspektive, schreibt Yla von Dach.

Amanda Gorman war am 20. Januar die jüngste Poetin, die je an einer Inauguration eines neuen Präsidenten auftrat. Bild: Keystone

Yla von Dach

Im Streit darum, wer berechtigt und überhaupt fähig sei, das Gedicht von Amanda Gorman zu übersetzen, fühle ich mich in erster Linie als Mensch und erst in zweiter Linie als Übersetzerin herausgefordert.

Kleider machen Leute, heisst es. Richtig. Auch das Hautkleid macht seine Leute. Doch: Sind Leute nur ihre Kleider?

Tragen wir Kleider, die wir auch ausziehen können, oder sind wir mit unserer ersten und unserer zweiten Haut verwachsen bis zur restlosen Identität? Sind wir nur sie?

Wo kommen wir hin, wenn wir das Äussere zum einzigen Massstab einer möglichen Gemeinsamkeit machen?

Das ist für mich eine sehr beunruhigende Perspektive. Denn mit ihr wird wieder alles möglich. Genau mit einer solchen Perspektive ist immer alles möglich gewesen.

Mit diesem Blick, der im Äusseren stecken bleibt, lassen sich Menschengruppen ausgrenzen, ausschliessen und womöglich vernichten, weil man ihnen jede innere Gemeinsamkeit mit sich selbst abspricht.

Das kann in allen möglichen Ideenkombinationen geschehen: Der, die Andere hat nicht «meine Hautfarbe», nicht «mein Geschlecht», nicht «meine Religion», nicht «meine Sprache», nicht «meine politischen Ansichten» und so fort.

Man wird vielleicht sagen, Religion und politische Ansichten seien doch keine «äusseren Merkmale», die gehörten zur Kultur. Das stimmt. Doch genau da sollten wir aufmerksam sein, genau hinsehen.

Kulturelle Unterschiede, die mit der Hautfarbe, dem Geschlecht, der Religion, der Politik zusammenhängen, sind zwar nicht wegzuleugnen. Sie können die Verständigung zwischen menschlichen Gruppen und Völkern wie zwischen einzelnen Individuen schwierig oder fast unmöglich machen. Genau besehen, gehören aber auch sie zu dem, was man als «äusserlich», als eine Art «Haut» betrachten kann.

 

Ein Säugling ist in dieser Hinsicht nackt.

Ziemlich nackt, müsste man wohl sagen: Weil jedes Wesen doch mit gewissen Voraussetzungen zur Welt kommt, die seine Entwicklung auch beeinflussen werden.

Sagen wir hier der Einfachheit halber nackt.

Dieser nackte Säugling wird dann mit der Sprache und den kulturellen Eigenheiten seines Milieus gewissermassen bekleidet. Angezogen.

Er bekommt die Wertvorstellungen, die Kenntnisse, die Geschichte und die Geschichten seiner Umgebung einverleibt und wird schliesslich sagen: Das bin ich. Er wird sich zugehörig fühlen zu dem, was ihm durch Mutter und Vater, Mutter- und Vatersprache, durch die Familie, die Schule, die Freunde, die Anders- und die Gleichaltrigen vermittelt worden ist.

Darin sind wir uns alle gleich, in diesem Prozess, an dem keiner und keine vorbeikommt!

Das Resultat ist dann sehr verschieden, zugegeben, aber genau da sieht es nun aus, als ob wir uns mehr und mehr in eine Falle locken lassen liessen.

 

Wer sieht eigentlich seine Hautfarbe, wenn er die Augen schliesst und in sich hineinspürt?

In sich hineinspürt. Nicht in sich hinein- und in sich herumdenkt!

Nicht den Film ablaufen lässt, wie ihn (oder sie) der oder die angemacht oder heruntergemacht hat. Nicht in Endlosschleife die Argumente in sich herumdreht (ich hab, ich bin eben dies oder das, der andere dies oder das, schwarz oder weiss, eine Frau, ein Mann, jung, alt, gebildet, ungebildet, arm, fremd…)

Nur hineinspüren, bitte, in den Bereich, in dem die Gefühlsregung abläuft, die durch dieses Ereignis ausgelöst worden ist.

Wer sieht da seine Hautfarbe? Kleider? Wer spürt da Argumente?

 

Ist es eine sträfliche Vereinfachung zu sagen, dass wir da, unter der Haut, unterhalb und innerhalb, weit innerhalb unserer jeweiligen Geschichte(n), alle fühlende Wesen sind?

Dass wir Glück empfinden, wenn wir uns geliebt fühlen – und lieben können. Dass wir Schmerz empfinden, wenn wir uns verletzt fühlen. Dass wir Wut empfinden, wenn wir uns herabgesetzt und verachtet fühlen. Dass wir Verzweiflung empfinden, wenn wir keinen Ausweg sehen, keine Hilfe bekommen in der Not?

Gibt es jemanden, der diese Gefühle anders als vielleicht wabernd, brodelnd, stechend, brennend, aber doch als formlos empfindet?

 

Der äussere Anlass für eine Gefühlsreaktion wird je nachdem ein anderer sein. Er hat diese oder jene Form. Als weisse Frau werde ich in Biel nie die Erfahrung machen, die eine schwarze Frau hier macht. Als Fremde werde ich da, wo ich fremd bin, nie dieselben Erfahrungen machen wie die Menschen, die man als Einheimische bezeichnen kann.

Auch in Paris gibt es Einheimische, keine Aufregung! Und ich werde nie ganz zu ihnen gehören, auch wenn ich seit 40 Jahren immer wieder in meiner Wahlheimat lebe, dort auch zuhause bin. Dies nebenbei.

 

Doch, wie gesagt: Wo kommen wir hin, wenn wir all dieses Äussere zum einzigen Massstab einer möglichen Gemeinsamkeit machen? Wenn wir die Möglichkeit ausschliessen, über alle Verschiedenheiten hinweg etwas mitfühlen, nachfühlen zu können? Wenn wir die äusseren Unterschiede zu unüberwindlichen Hindernissen werden lassen, weil wir die inneren Gemeinsamkeiten aus den Augen verloren haben?

Fragen über Fragen. Die Antworten findet jeder am besten in sich selbst. Vielleicht können diese Gedankengänge immerhin ein Anstoss sein, im stillen Kämmerlein mal zu sehen, wie weit man seine Kleider ausziehen kann und was darunter zum Vorschein kommt.

Bleibt noch die Frage der Übersetzung.

Das Übersetzen ist eigentlich die Disziplin par excellence, mit der man das Hineinhorchen in eine andere Welt lernen, üben und zu einer gewissen Kunst entwickeln kann.

Auch da muss man sozusagen unter die Haut zu gehen verstehen, unter die Sprachhaut. Denn die Welt und die Erfahrung eines Autors, einer Autorin ist ja so zum Ausdruck gekommen. Sie ist zu dieser äusseren Form geronnen.

 

Dass unter dem Eindruck dieses Ausdrucks beim Empfänger eine wortlose Welt des Empfindens und Erlebens sozusagen in Schwingung versetzt werden kann, ist nicht nur die Voraussetzung des Übersetzens, sondern der (sprachlichen) Kommunikation überhaupt. Bei literarischen Texten ist diese Form zwar vielschichtiger und komplexer, doch grundsätzlich bewegen wir uns immer im Feld einer paradoxen Wahrnehmung zwischen Einzigartigkeit und Gemeinsamkeit.

Natürlich hängt es auch von äusseren Umständen ab, ob jemand fähig ist, einen Text adäquat in eine andere Sprachwelt hinüberzubringen. Wenn ich die Welt des Autors, der Autorin gar nicht kenne, laufe ich Gefahr, gewisse Aspekte zu übersehen oder falsch zu verstehen. Will man dieses Verständnis jedoch nur von Hautfarbe, Geschlecht, Alter oder kultureller Zugehörigkeit abhängig machen, spricht man dem Menschen all das ab, was innerhalb dieser äusseren Begrenzungen auch noch in ihm ist und ihn über diese hinauswachsen lassen könnte. Das hat etwas Mörderisches!

 

Auch die beste Übersetzung wird nie vollkommen sein.

Nie wird irgendjemand ganz deckungsgleich irgendetwas wiedergeben können, was ein anderer gedacht, gesagt, empfunden hat, wie kunstvoll und sachkundig das auch geschehen mag.

Gerade die kleinen Unterschiede aber, das nicht ganz Deckungsgleiche, dieses letztlich Unüberbrückbare, das an der Oberfläche immer bleiben wird, müssten wir ertragen können, wenn wir in der Vielfalt unserer Ausdrucksformen nicht nur das schmerzlich Verschiedene, sondern auch die Schönheit und das grenzenlose Potential des Gemeinsamen erkennen möchten.

 

Insofern ist das Übersetzen, wie das Leben auch, eine Art Tanz zwischen Welten. Sprachwelten, Lebenswelten.

Wichtig ist nicht nur, was auf den Zeilen, sondern auch was zwischen den Zeilen steht. Wichtig ist es, dieses Ungreifbare, Unbegreifliche, Unkontrollierbare auszuhalten und leben zu lassen. Wenn wir uns auf die Zeilen versteifen, verlieren wir das, was das Leben zu einem Ganzen und damit überhaupt lebendig macht.

Wollen wir tanzen oder wollen wir erstarren?

 

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