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Konzert

Publikum und Musiker vermissen sich gegenseitig

Weil Veranstaltungen mit viel Publikum verboten sind, geben derzeit viele Orchestermusiker
Mini-Konzerte in privatem Rahmen. Wie das vonstatten geht, zeigen vier Mitglieder des Tobs.

Kurze Klassik für die Betagten: Kurzkonzert von Orchestermitgliedern im Pflegewohnheim. Bild:  Annelise Alder

Annelise Alder

Es ist kühl und es windet. Die Noten müssen deshalb mit Wäscheklammern am Notenständer befestigt werden. Zum Glück regnet es nicht. Die vier Musiker des Sinfonieorchesters Biel Solothurn müssen ihr Mini-Konzert nämlich unter freiem Himmel spielen. Vergangenen Dienstag diente die Terrasse des Pflegewohnheims Büttenberg als Schauplatz. «Das ist Vorschrift», sagt Matthias Walpen, Solocellist des Orchesters. Dazu gehört auch die grosse Distanz zum Publikum. «Es sitzt zum Teil hinter Plexiglaswänden», sagt er. «Das ist natürlich schade, denn so fehlt der direkte Kontakt zu den Menschen. Wir spüren auf diese Weise kaum etwas von deren Emotionen.»

Die Bewohner des Heims scheinen das attraktive Musikprogramm dennoch zu geniessen. Gespielt wird die Ouvertüre zum «Barbier von Sevilla» von Gioachino Rossini und eine Humoreske des Schweizer Komponisten Alfred Baum. «Bravo», 
rufen einige der betagten Personen nach dem Auftritt des Quartetts. «Das hat mir sehr gut gefallen», sagt ein älterer Herr im Rollstuhl, der selbst einmal im Sinfonieorchester mitgespielt hat.

«Das ist ein Geschenk»

Die Handvoll Hausbewohner sitzt im Innern des Gebäudes, eingehüllt in wärmende Decken und dank offenen Schiebetüren mit freier Sicht auf die Terrasse, auf der das Mini-Konzert soeben zu Ende gegangen ist. «Das ist für uns ein riesiges Geschenk», sagt Barbara Glatthard, die Co-Leiterin des Betagtenpflegevereins Biel-Seeland.

Für Bewohner und Personal eines Pflegeheims bietet ein solch musikalisches Ständchen eine willkommene Abwechslung. Zudem ist es kostenlos. Bezahlt werden die Musiker dennoch. Schliesslich sind sie keine Freiberufler, sondern Angestellte einer subventionierten Institution. Theater Orchester Biel Solothurn (Tobs) hat wie die meisten Kulturinstitutionen im Land jedoch Kurzarbeit beantragt, weil keine Aufführungen stattfinden dürfen. Den Musikerinnen und Musikern bleibt deshalb nicht viel anderes übrig, als zuhause zu üben und sich auf die kommende Saison vorzubereiten. Auf die Dauer ist das aber zermürbend. «Wir Musiker vermissen das Publikum», sagte Kaspar Zehnder gegenüber dem Regionaljournal von SRF, «und das Publikum vermisst uns.»

Spontaneität ist Vorschrift

Aus diesem Grund möchte das Orchester wieder zum gemeinsamen Musizieren und zum Publikum zurückfinden, wie es in einer Medienmitteilung von Tobs heisst. «Wir spielen in den kommenden Wochen rund 50 Konzerte», sagt Cellist Matthias Walpen. Um die behördlichen Vorgaben zu erfüllen, treten nur zwei bis vier Musiker pro Konzert auf. Auch dauert ein Auftritt nicht länger als eine Viertelstunde. Viele Mini-Konzerte finden nach Absprache in Altersheimen oder Kliniken statt. Wo genau, darf nicht verraten werden. Die Konzerte dürfen nämlich keine Menschenmengen anziehen. Wenn man Glück hat, wird man trotzdem Zeuge eines Mini-Konzerts. Vergangenen Dienstag wohnten jedenfalls ein paar zufällige Zaungäste dem Kurzkonzert bei.

Gespielt wird auch in anderem Rahmen. «Heute Abend gebe ich in meinem Garten ein Kurzkonzert», sagt der Geiger Daniel Kobyliansky. Der Musiker hat seine Nachbarn über das bevorstehende Ereignis orientiert. «Ich habe allen einen Flyer in den Briefkasten geworfen», sagt er. Zu einer Menschenansammlung wird es trotzdem nicht kommen. «Sie brauchen nur auf ihre Balkone zu stehen oder die Fenster zu öffnen, dann können sie das Konzert miterleben», sagt er. Mehr solcher Kleinveranstaltungen dürfte es geben, wenn die Tage wärmer werden und spontane Auftritte von kleinen Musikergruppen auch mitten in der Stadt möglich sind.

«Beim Zusammenkommen und gemeinsamen Musik machen geht es um Emotionen und Energie», sagt Kaspar Zehnder. Kein Video-Stream kann das emotionale Erlebnis eines Live-Konzerts ersetzen. Dabei ist nicht entscheidend, ob ein Orchester spielt oder eine einzelne Musikerin. Das hat der Chefdirigent des Sinfonieorchesters Biel Solothurn, der auch Flötist ist, selbst erfahren, als er an Ostern seinen betagten Eltern, die in Isolation leben, ein musikalisches Ständchen gab. «Ein kleiner Rahmen kann für den Musiker wie auch für das Publikum sehr emotional sein», sagt er.

Wollpullover statt Abendkleid

Intimität ist bei den Konzerten in Pflegeheimen aufgrund der verordneten Distanz zwischen Musiker und Publikum schwierig herzustellen. Doch Ereignischarakter haben die Auftritte alleweil. Denn wer hat schon Gelegenheit, die Musiker des Sinfonieorchesters, die normalerweise in schwarzem Abendkleid und Frack spielen, einmal ganz unkompliziert mit Sonnenbrille, in Winterjacke oder Wollpullover zu sehen, und nachher mit ihnen zu plaudern? «Ich spiele schon seit 33 Jahren beim Sinfonieorchester», sagt der Geiger Rolf-Dieter Gangl. Das sei aber nichts im Vergleich zu Alfred Baum, dem Komponisten des zweiten Werks, das beim vergangenen Mini-Konzert gespielt wurde. Er war 57 Jahre lang Organist an der Kirche Neumünster in Zürich.

Die Flötistin Polina Peskina, deren klarer Flötenklang das ganze Anwesen zu überstrahlen scheint, freut sich über ein Stück zurückkehrende Normalität: «Seit die Kinder wieder zur Schule gehen, ist für mich wieder Alltag». Und Co-Heimleiterin Barbara Glatthard fügt abschliessend hoffnungsvoll hinzu: «Ihr könnt jederzeit wieder zu uns kommen.»

Stichwörter: Kultur, Konzerte, Orchester

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