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Wahlen 19

Das Wunder von Freiburg

Eine 31-jährige Freisinnige jagt in Freiburg einen arrivierten CVPler aus dem Ständerat. Wie hat Johanna Gapany das geschafft? Und warum sagen viele, Beat Vonlanthen habe sich die Schmach zu einem schönen Teil selbst zuzuschreiben?

«Kein Sitz ist jemals sicher vergeben»: Johanna Gapany am Sonntagabend im FDP-Lokal in Bulle. Bild: Keystone
  • Dossier

Christoph Lenz und 
Philippe Reichen

Johanna Gapany lieferte während Monaten den perfekten Wahlkampf. Ein Detail aber vergass sie: Sie schrieb keine Siegesrede. Das war ihr am späten Sonntagabend im Café du Midi in Bulle egal. Kaum hatte die Staatskanzlei Gapany nach einem stundenlangen Kampf gegen die Dämonen der IT-Welt als neue Freiburger Ständerätin ausgerufen, schwang sich die 31-Jährige auf einen Stuhl und richtete sich an ihre Unterstützer: «Als wir uns vor acht Monaten auf dieses Abenteuer einliessen, war es derart unwahrscheinlich, dass wir die Ständeratswahl schaffen!» Während der Kampagne in den Strassen habe sie aber realisiert, dass sie bei den Leuten etwas auslösten. Das habe sie immer weiter angespornt. «Das ist euer Sieg», rief Gapany zum Schluss. «Danke für alles!»

Auch wenn noch leichte Schwaden des Zweifels über dem Resultat hängen (siehe Text unten), derzeit deutet alles darauf hin, dass Johanna Gapany Historisches geschafft hat. Sie, 31-jährig, Projektleiterin in einem Privatspital, Milizpolitikerin, Freisinnige, stiess im tiefkatholischen Kanton Freiburg den 62-jährigen CVP-Vertreter und Profipolitiker Beat Vonlanthen vom Sockel. Erstmals seit 1857 verliert die Freiburger CVP ihren Ständeratssitz. Johanna Gapany wiederum ist die erste Freiburgerin im Stöckli. Und die jüngste Frau aller Zeiten in der kleinen Kammer des Parlaments. Sie ist das Wunder von Freiburg.

Dass es so weit kam, hat viel mit der Entschlossenheit von Gapany zu tun. Und nicht wenig mit dem Profil von Beat Vonlanthen.

Es begann mit einem mutigen Entscheid der Partei

Alles begann damit, dass sich die FDP Freiburg gegen eigene Angstreflexe stemmte. Anstatt den 61-jährigen Nationalrat Jacques Bourgeois ins Rennen zu schicken (und wie schon 2015 ehrenvoll mit ihm unterzugehen), entschied sich die Parteileitung, mit einer mutigen, jugendlichen und progressiven Kandidatur den Wahlkampf aufzumischen. Einer Person wie Johanna Gapany, Tochter einer Bauernfamilie, Gemeinderätin aus Bulle und Kantonspolitikerin.

Es war eine Wette auf den Wandel: Die FDP spekulierte darauf, dass sich der Kanton mit seinem starken Bevölkerungswachstum verändert hatte. Und dass die CVP-Bastion brüchig geworden war.

Johanna Gapany gab sich von Beginn an kämpferisch: «Kein Sitz ist jemals sicher vergeben», sagte sie. In den nächsten Jahren gehe es im Parlament um die Finanzierung der Renten und die Reform des Gesundheitssystems. «Das ist unsere Zukunft. Da müssen wir Jungen mitreden können», sagte sie der Zeitung «Le Temps». Gapany präsentierte ein Wahlprogramm, das auf den Mittelstand fokussierte: Verteidigung der Kaufkraft, sichere Renten, weniger Kostenwachstum im Gesundheitswesen. Ihr Publikum suchte und fand Gapany in den sozialen Netzwerken.

Gapanys Popularität bestätigte sich am 20. Oktober 2019. Im ersten Wahlgang der Ständeratswahlen vermochte CVP-Ständerat Beat Vonlanthen Johanna Gapany kaum zu distanzieren. Als auch noch die SVP entschied, ihren Kandidaten zurückzuziehen, war das Feld weit offen.

Dann unterliefen den Etablierten kapitale Fehler

Nun begingen Christian Levrat und Vonlanthen einen vielleicht kapitalen Fehler. Sie machten im zweiten Wahlgang gemeinsame Sache, auf Podien, mit Inseraten und Plakaten. Zwei Männer im gestandenen Alter – gegen die junge Frau. «Viele Wähler realisierten plötzlich, dass es einen Ausgleich braucht», beobachtete FDP-Präsident Sébastien Dorthe.

Die endgültige Wende, so erzählt man es sich in Gapanys Umfeld, ereignete sich am Dienstag der letzten Woche. In Streitgesprächen bei der Lokalzeitung «La Liberté» und im Westschweizer Radio RTS brachten Journalisten die Verstrickungen von Beat Vonlanthen auf. In seiner ersten Legislatur in Bundesbern hat sich Vonlanthen eine imposante Zahl von lukrativen Nebenjobs gesichert.

Zuletzt war Vonlanthen zeitgleich Präsident des Zementindustrieverbands Cemsuisse, Präsident des Medizintechnikverbands Swiss Medtech und Präsident der Fachvereinigung Wärmepumpen. Zudem versah Vonlanthen den Vorsitz von Chocosuisse und Biscosuisse, zwei Schwesterverbänden der Zuckerindustrie. Ein bemerkenswertes Mandat für einen Diabetiker. Ähnlich auffällig: Seit 2017 hat der CVP-Mann zudem das Präsidium des Casino-Verbands inne.

Diabetiker mit vielen Schoggi-Posten

Natürlich warf die Ämterkumulation Fragen auf: Hat Vonlanthen noch Zeit für den Ständerat? Wen vertritt er in Bern? Ist er frei in seinen Entscheiden? Oder allenfalls allzu frei? Beat Vonlanthen formulierte es so: «Ein Ständerat braucht ein Netzwerk, muss verankert sein in der Gesellschaft und der Wirtschaft, um seine Arbeit gut machen zu können.» Gapany konterte: «Ich zweifle an diesem Netzwerk, das von den Lobbys bestimmt ist.» Sie glaube, man dürfe nicht zu viele Hüte kumulieren.

Am Tag nach der Sensation dauert es Stunden, bis Johanna Gapany ihr Telefon abnimmt. Die Greyerzerin aber wirkt abgeklärt und bescheiden. Sie sagt: «Am Samstag ging ich ins Bett und sagte mir: Der Wahlkampf war eine grossartige Erfahrung. Ich konnte in den Debatten gegen Ständeräte bestehen. Ich habe mein Deutsch verbessert, viele Leute getroffen und meine Ideen präsentiert. Am Sonntagabend war ich gewählt, und das knappe Resultat war der Beweis, wofür ich seit Februar gekämpft hatte: um jede einzelne Stimme in jeder einzelnen Gemeinde.»

Das ist es wohl, was in der Politik den Unterschied macht.

*****

138 Stimmen Differenz, keine Nachzählung

Die Stimmzettel des zweiten Ständeratswahlgangs im Kanton Freiburg werden nicht nachgezählt, wie dies die CVP verlangt hat. Der Kanton hat nach einer Computerpanne am Sonntag die Resultate nochmals überprüft.

«Die Resultate wurden kontrolliert, korrigiert und für gültig erklärt», sagte die Leiterin der Freiburger Staatskanzlei, Danielle Gagnaux-Morel, gestern vor der Presse. Die von der CVP verlangte Nachzählung der Stimmen sehe das Gesetz nicht vor. Die Resultate seien definitiv und würden am Freitag im Amtsblatt publiziert, sagte Gagnaux-Morel.

Im ersten Wahlgang am 20. Oktober erreichte keiner der Kandidaten die nötige Stimmenzahl. Daher wurde ein zweiter Wahlgang nötig. Am Sonntag schaffte SP-Ständerat Christian Levrat die Wiederwahl mit 38 372 Stimmen.

Der bisherige CVP-Ständerat Beat Vonlanthen lieferte sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit der jungen Freisinnigen Johanna Gapany. Und Gapany gelang die Überraschung – allerdings denkbar knapp: Bei der Kontrolle am Montag kamen noch zwei Auszählcouverts aus Murten zum Vorschein. Sie wurden noch in die Berechnungen aufgenommen. Am Sieg Gapanys ändert sich allerdings nichts.

Sie kommt neu auf 31 129 Stimmen. Der ihr unterlegene und damit nicht wiedergewählte Beat Vonlanthen machte 30 991 Stimmen. Damit beträgt Gapanys Vorsprung auf Vonlanthen in Zahlen noch 138 Stimmen. Zunächst war von einer Differenz von 158 Stimmen die Rede gewesen.

Noch überlegt die CVP weitere Schritte. Anlass sind die gravierenden Probleme bei der Auszählung am Sonntag. Damit stelle sich die Frage nach der Gültigkeit der Wahl, schrieb die Partei gestern. «Wir wollen, dass sich die Staatskanzlei erklärt, sagte Markus Bapst, Co-Präsident der Freiburger CVP. Der Parteivorstand der CVP will gemäss Mitteilung von gestern am Donnerstag über einen allfälligen Rekurs beraten. In diesem Fall sieht das Gesetz vor, dass die beiden bisherigen Ständeratsmitglieder im Amt bleiben, bis ein Gerichtsentscheid vorliegt. sda

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