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Gesellschaft

Die vielen Gesichter der Einsamkeit

Jeder Dritte fühlt sich in der Schweiz einsam – Tendenz steigend. Viele schämen sich jedoch, diesen Zustand zuzugeben, und werden dadurch noch einsamer. Oder sie merken gar nicht, 
dass hinter ihren Klagen über die anderen die eigene Qual der Einsamkeit steckt.

Illustration: Sabine Glardon

Lucie Machac

Eine Frau, Mitte vierzig, ruft aufgelöst bei der Dargebotenen Hand an. Auf Facebook habe sie einen spannenden Typ kennengelernt, dessen Leben und Geschichten sie fasziniert hätten. «Seine Avancen taten mir gut und holten mich aus meinem Alleinsein.» Der angebliche UNO-Mitarbeiter und die Frau schrieben einander regelmässig, bis er irgendwann Geld von ihr verlangte. «Er meinte, er stecke ohne einen Dollar in Damaskus fest.»

Die Frau schickte die verlangte Summe. Danach wollte der Mann immer wieder Geld. «Ich wusste, dass etwas nicht stimmt, meine Sehnsucht war aber stärker. Ich wurde getäuscht, weil ich es wollte», gesteht sie am Telefon. Die Angst vor der Einsamkeit sei grösser gewesen.

 

Opferhaltung
Einsame Menschen rufen oft bei der Nummer 143 der Dargebotenen Hand an. «Einer von zehn Anrufen dreht sich explizit um dieses Thema», kommentiert Franco Baumgartner das Gesprächsbeispiel. Wir sitzen in seinem Büro in Zürich, Baumgartner ist der Geschäftsführer des Verbandes und seit neun Jahren eine der «guten Seelen» am Telefon.

Einsamkeit hat viele Gesichter. Einige, die Baumgartner anrufen, ärgern sich zum Beispiel über böse Nachbarn oder darüber, dass sie keinen Partner finden. «Dabei merkt man gelegentlich, dass Anrufende ihr eigenes Unvermögen auf das ‹böse› Umfeld projizieren, auf die anderen, die sie meiden», sagt Baumgartner. Die lang anhaltende Einsamkeit hat sie zu Sonderlingen gemacht.

«Nie würden sie sich selber als einsam bezeichnen, sie sehen sich als Opfer und klagen über die anderen.» Im besten Fall könne man am Telefon eine Selbstreflexion bei diesen Menschen anstossen, oft gehe es aber einfach ums Zuhören und darum, das Gefühl zu vermitteln, dass sie mit ihrem Leid nicht allein seien, sagt Baumgartner. Wie das geht, schildert der 60-Jährige im neuen Buch «Die Seelentröster», das zum 60-Jahr-Jubiläum der Dargebotenen Hand erschienen ist.

 

Teufelskreis
Die Einsamkeit ist ein Teufelskreis. Denn die verzerrte Wahrnehmung hält chronisch einsame Menschen gefangen. Der amerikanische Einsamkeitsforscher John T. Cacioppo ist überzeugt, dass diese durch Ängste getriebenen Verhaltensweisen oft genau jene Ablehnung hervorrufen, die wir alle am meisten fürchten. Durch die Einsamkeit fühlen wir uns verwundbarer und neigen deshalb dazu, «jeglicher sozialen Einbindung nicht zu trauen», schreibt Cacioppo.

Misstrauen macht in dieser Situation evolutionsbiologisch durchaus Sinn: Die Qual der Einsamkeit aktiviert nämlich jene Regionen im Hirn, die uns auch vor Bedrohungen warnen. Aus dem Selbsterhaltungstrieb heraus reagieren sozial isolierte Menschen deshalb tendenziell vorsichtiger und abweisender. Was oft dazu führt, dass sie eine negative Ausstrahlung auf ihr Umfeld haben.

Kommt hinzu: Die meisten Menschen schämen sich für ihre Einsamkeitsgefühle. «Die Scham ist auch der Grund, weshalb viele lieber anonym mit uns über ihre Probleme sprechen», erzählt Franco Baumgartner von der Dargebotenen Hand. «Das Traurige daran ist, dass sich Einsamkeit und Scham gegenseitig verstärken. Wem es peinlich ist, dass es ihm schlecht geht, verschliesst sich – und wird noch einsamer.»

 

Existenziell
So gut wie jeder kennt das Gefühl – und doch ist die Einsamkeit eine sehr subjektive Empfindung. «Manche berichten mir am Telefon, dass sie ‹neben sich› stehen, oder dass sie sich ‹eingeschlossen› fühlen», erzählt Baumgartner. Manche fühlen eine innere Leere, Verzweiflung, manche sind irgendwie unzufrieden, fühlen sich traurig und verlassen, anderen erscheint das ganze Leben sinnlos.

Der Grund für Einsamkeit ist an sich banal: Menschen sind soziale Wesen. Einsamkeit drückt den existenziellen Schmerz aus, dass man sich mit anderen Menschen nicht verbunden fühlt. Und zugleich die quälende Sehnsucht, Teil der Welt zu sein und als Mensch verstanden zu werden.

Leider wird diese Sehnsucht immer weniger befriedigt. In der Schweiz hat die Vereinsamung in den letzten Jahren zugenommen. Gemäss dem Gesundheitsmonitoring des Bundes fühlten sich 2012 rund 36 Prozent «manchmal bis sehr häufig» einsam, 2007 waren es 30 Prozent. Frauen betrifft es deutlich häufiger als Männer. Besonders hoch ist die Gefahr der sozialen Vereinsamung bei psychisch Kranken, bei betagten Witwen oder bei Menschen, die am Rande der Armut leben.

 

Individualisierung
Werden wir also trotz unzähligen Kontakten auf sozialen Medien immer einsamer? Unsere individualisierte Gesellschaft bietet jedenfalls einen fruchtbaren Nährboden für Einsamkeit. Die meisten Menschen leben in der Schweiz in einem Einpersonenhaushalt, immer weniger Beziehungen halten ein Leben lang. Gemäss Zahlen des Bundesamtes für Statistik ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung entweder ledig, geschieden oder verwitwet – und rund 50 Prozent dieser Personen leben in keiner festen Partnerschaft. Natürlich müssen Alleinstehende nicht einsam sein. Doch sind soziale Kontakte genauso wenig ein Garant für innere Zufriedenheit. Und auch in Partnerschaften fühlt man sich nicht selten gemeinsam einsam.

Einsamkeit verspüren die meisten vor allem in biografischen Übergangsphasen, etwa beim Berufseinstieg, bei Trennung, Jobverlust oder nach der Pensionierung. Anders als noch vor fünfzig Jahren müssen wir uns heute mehrmals neu definieren. «Es ist schwieriger geworden, sich bei all den vielen Wahlmöglichkeiten zu orientieren. Wir sind stärker denn je auf uns selbst gestellt, wenn es darum geht, die richtigen Antworten zu finden», sagt Baumgartner. Und: Hinter all der Wahlfreiheit lauert immer auch die Gefahr des Scheiterns. Ist die Beziehung nur noch ein Scherbenhaufen oder der Job weg, fühlt man sich plötzlich als Loser. Wertlos, einsam.

 

Krankheitserreger
Erschreckend ist, dass Einsamkeit sogar krank macht. Mehrere Studien haben gezeigt, dass Einsame unter Stress leiden. Das kann zu Bluthochdruck, Schlafstörungen, Übergewicht, Herzerkrankungen und sogar zu Depressionen führen. Schlimmer noch: Einsamkeit verkürzt das Leben. Eine breit angelegte US-Studie hat bewiesen, dass soziale Isolation zu einem vorzeitigen Tod führt – vergleichbar mit Übergewicht oder Rauchen. Lang anhaltende Einsamkeit sei genauso schädlich wie 15 Zigaretten am Tag.

Wird man dennoch alt, hat man noch nicht gewonnen. Vereinsamung im Alter ist ein weit verbreitetes Phänomen. Unter anderem auch, weil es betagten Menschen oft an der Motivation zur Kontaktaufnahme mangelt, wie Studien belegen.

 

Hilflosigkeit
«Ich war noch nie so allein», klagte an einem Samstagabend eine 80-jährige Witwe, erinnert sich Franco Baumgartner. Sie wusste, dass sie aktiv werden müsste, aber es fehlte ihr an Energie und Mut. Sie fühlte sich hilflos, unsicher und ängstlich. «Langjährige Rituale fallen nach dem Tod des Partners von einem Tag auf den anderen weg. Mit 80 ist es ausserdem schwierig, sich neu zu erfinden», sagt Baumgartner.

Die Witwe brauchte an jenem Abend vor allem seelischen Beistand und war sehr froh über die Zusicherung, dass sie sich jederzeit wieder melden kann. Baumgartner will aber nicht schwarzmalen: «Das Bewusstsein für die Vereinsamung im Alter wächst, ältere Menschen haben heute viel mehr Möglichkeiten, einer Alterseinsamkeit zu entgehen. Gleichzeitig werden ältere Menschen immer fitter, und es gibt immer mehr Angebote, die soziale Kontakte im Alter fördern.»

 

Jugend
Und wie steht es um die Jugend? Die 5-Jahr-Statistik der Notfallnummer 147 für Kinder und Jugendliche ist jedenfalls alarmierend: Anrufe oder Chats wegen depressiver Stimmungen, Essstörungen, schlechten Selbstwertgefühls oder persönlicher Krisen nehmen zu. 2015 machten sie fast 23 Prozent aller Kontaktaufnahmen aus, fünf Jahre zuvor nur 15 Prozent. Jeden Tag wenden sich zwei bis drei Jugendliche mit ernsthaften Suizidfragen und teils ganz konkreten Absichten an die Nummer 147. Seit 2011 haben diese Anfragen um 50 Prozent zugenommen.

Sind Jugendliche heute demnach einsamer als früher? Der Jugendpsychologe Allan Guggenbühl kann das nicht bestätigen. «Einsamkeit war bei Jugendlichen schon immer relativ verbreitet», sagt er am Telefon. Das gehöre zu diesem Entwicklungsstadium. «Jugendliche sind meist nicht sozial isoliert, sie leiden eher unter einem Gefühl der Entfremdung, weil sie sich von ihrem Umfeld unverstanden fühlen.» Oft flüchten sie sich deshalb in Fantasiewelten und idealisieren zum Beispiel Lebensweisen, die fern von ihrem Alltag sind.

Dass die meisten mehr virtuelle Kontakte und Freunde hätten als je zuvor, mache die Jugendlichen aber nicht weniger einsam. «Soziale Medien sind bloss eine digitale Inszenierung von Beziehungen, in denen aber keine richtige Verbundenheit hergestellt wird», sagt Guggenbühl. «Eigentlich ist es ein paradoxes Phänomen», sinniert der Psychologe. «Durch die virtuelle Kommunikation grenzt man sich im Prinzip ab. Man kommuniziert übers Handy, weil man den direkten Kontakt scheut.»

 

Selbstreflexion
Das gilt längst nicht nur für Jugendliche. Durch die mediale Dauerablenkung fällt es vielen Menschen schwer, Momente des Alleinseins auszuhalten, geschweige denn auszukosten. Dabei stecken im Mit-sich-Alleinsein nicht nur Elend und Verzweiflung. Im Gegenteil: Momente der inneren Leere, in denen man seinen Platz in der Welt überdenkt, können eine sehr fruchtbare Form von Einsamkeit sein.

Info: Das Buch «Die Seelentröster. 60 Jahre Dargebotene Hand» von Franco Baumgartner ist im Handel erhältlich (Orell-Füssli-Verlag).

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