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KMU

«Es braucht rasch Hilfe»

Die Notlage bedroht die gewachsene Wirtschaftsstruktur der Schweiz. In der Region fordern Wirtschaftsverbände und Politiker unbürokratische Unterstützung vom Staat – so rasch wie es nur geht.

Lars Guggisberg und Gilbert Hürsch (v.l) fordern Kanton und Bund zu schnellem Handeln auf. Stefan Leimer/a
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Tobias Graden

Die Region Biel-Seeland kämpft für ihre Firmenlandschaft: Gestern Mittwoch hat der Regierungsrat des Kantons einen Brief erhalten. Darin fordern die Unterzeichnenden Unterstützungsmassnahmen für Unternehmen. Der nationale Notstand treffe besonders kleine und mittlere Unternehmungen hart und stelle sie vor grosse Schwierigkeiten, heisst es in dem Brief, der dem BT vorliegt. Auftragsstornierungen, massive Zahlungsausfälle…: «Die Lage ist für viele Unternehmen und Unternehmer existenziell. Die Aufrechterhaltung der Liquidität wird bei den meisten zum Hauptproblem.»

Unterzeichnet ist der Brief von den Gemeindepräsidenten und der Gemeindepräsidentin von Biel, Lyss und Nidau, von Ständeratspräsident Hans Stöckli (SP) und von den Akteuren auf Verbandsebene: Fabian Engel (Präsident Handels- und Industrieverein Sektion Biel-Seeland/Berner Jura), Lars Guggisberg (Geschäftsführer HIV, Nationalrat SVP), Andrea Roch (Präsidentin Wirtschaftskammer Biel-Seeland) und Gilbert Hürsch (Geschäftsführer Wibs). Sie fordern in erster Linie «rasch eine einfache und klare Anleitung», wie die betroffenen KMU «unbürokratisch auf elektronischem Weg Anträge stellen und Unterstützung erhalten können». Zwar habe der Kanton mittlerweile das Formular für Kurzarbeitsanträge vereinfacht und angepasst, sagt Hürsch, doch überfordere dieses viele Kleinunternehmer nach wie vor. Auch Guggisberg stellt fest: «Der Bedarf an Hilfe ist gross.»

«Einen Verlust der Arbeitsplätze kann niemand wollen»

Die konkreten Forderungen decken sich mit jenen, die gestern auch von diversen Akteuren auf nationaler Ebene erhoben worden sind:

1. Ausweitung des Anspruchs auf Kurzarbeitsentschädigung, etwa auf Selbständigerwerbende, mitarbeitende Eheleute und weitere

2. Möglichkeiten vereinfachter Kreditvergabe zur Gewährleistung der Liquidität, etwa durch die Berner Kantonalbank

3. Erleichterung der Bedingungen für Bürgschaften

4. Zinslose Stundung von Steuern, Gebühren und Abgaben, insbesondere der Mehrwertsteuer

5. Ersatz von Ausfällen im Zusammenhang mit Messeaktivitäten

Guggisberg und Hürsch sind im wirtschaftspolitischen Normalbetrieb beide nicht auf der staatsinterventionistischen Seite anzusiedeln, doch für sie ist klar: «Es braucht nun rasch und unbürokratisch Hilfe, die bislang gesprochenen zehn Milliarden Franken werden nicht ausreichen», so Guggisberg. Hürsch ergänzt: Wenn Kleinbetriebe nun wegen der Notlage konkursgehen müssten, dann seien deren Arbeitsplätze für immer verloren. «Das kann niemand wollen – und es käme die Allgemeinheit weit teurer zu stehen als die jetzt nötige Soforthilfe. Es droht eine volkswirtschaftliche Katastrophe, und die gilt es mit allen Mitteln zu verhindern.»

Rasche Entscheide sollten durch Notrecht möglich sein

Die Coronakrise und die damit verbundene Notlage trifft die Schweizer Wirtschaft zu einem heiklen Zeitpunkt. Die Konjunktur war in China auch ohne die Seuche schon rückläufig, der Schweizer Franken erstarkte in den letzten Monaten – jeweils nur leicht, aber sukzessive. Anders als etwa während der letzten, von der Finanzkrise ausgelösten Krise, trifft der Corona-Lockdown nun aber voll auch die Binnenwirtschaft. Es gehe also nicht um Strukturerhaltung, sagen Hürsch und Guggisberg, doch wer Hilfe brauchen, solle sie umgehend erhalten. Sie fordern, dass die zuständigen Behörden in weniger als einem Monat die nötigen Voraussetzungen dazu getroffen haben. Guggisberg fehlt das Verständnis für die Äusserung von Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch, der Staatssekretärin für Wirtschaft, die am Montag davon sprach, es müssten erst die gesetzlichen Grundlagen geschaffen werden: «Derzeit gilt Notrecht. Der Bundesrat sollte also zumindest temporär rasch entscheiden können.»

Laut Gilbert Hürsch wäre es auch denkbar, dass die Verbände subsidiär gewisse Aufgaben übernehmen könnten, etwa in der Information der betroffenen kleinen und mittleren Unternehmer, oder indem sie diesen bei der Analyse ihrer Verhältnisse zur Seite stehen. Zuvorderst brauche es nun aber «möglichst rasch ein Vertrauenssignal des Staats, und zwar mit konkreten Informationen», sagt Guggisberg.

«Wo ist Parmelin?» Er arbeite,
schrieb er auf Twitter

Wirtschaftsminister Guy Parmelin (SVP) reagierte gestern Nachmittag auf ähnlich lautende Kritik in den Medien, indem er die Frage «Wo ist Parmelin?» per Twitter aufnahm und sie mit der Aussage beantwortete, er arbeite mit seinen Mitarbeitenden an Lösungen und werde dem Bundesrat Vorschläge unterbreiten. Dieser dürfte am Freitag weitergehende Massnahmen beschliessen und darüber informieren. Eine erste konkrete Hilfe wurde gestern kommuniziert: Bis zum 4. April dürfen Schuldner nicht mehr betrieben werden. Rechnet man die gesetzlich vorgeschriebenen Betreibungsferien hinzu, wirkt der Stopp faktisch bis 19. April. Die Anordnung des Rechtsstillstandes gibt betroffenen Betrieben eine zwischenzeitliche Verschnaufpause – ist aber kein längerfristiges Mittel, wie der Bundesrat selber gestern festhielt.

In eine ähnliche Richtung geht die Forderung der regionalen Akteure nach Stundung der Mehrwertsteuer. Zwar zahlt auch keine Mehrwertsteuer, wer keine Umsätze mehr hat, doch muss sie rückwirkend bezahlt werden – mitten im Lockdown also jene, die auf die zuvor erwirtschafteten Einnahmen entfällt.

Lars Guggisberg hält fest: «Es zahlt sich jetzt aus, dass die Schweiz in den letzten Jahren stets vorsichtig budgetiert hat und eine funktionierende Schuldenbremse besitzt. Nun gilt es, den volkswirtschaftlichen Schaden zu minimieren und mit der Unterstützung der Betriebe dafür zu sorgen, dass die Staatsaufwendungen später nicht noch grösser werden.»

Der Kanton informiert heute
über Massnahmen

Gestern Abend zeigte sich, dass die Appelle, wie sie mit dem erwähnten Brief auch aus der Region an die Politik gerichtet wurden, erste Resultate zeitigen. Der Kanton Bern hat für heute Nachmittag eine Information in Aussicht gestellt. Dabei soll es neben dem Schutz für die Bevölkerung insbesondere um die Folgen und die nötigen Massnahmen für die Wirtschaft gehen. Informieren werden der Regierungspräsident und Wirtschaftsdirektor Christoph Ammann sowie Gesundheits- und Sozialdirektor Pierre Alain Schnegg.

Lars Guggisberg, Geschäftsführer HIV
und Nationalrat SVP

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Mit Darlehen gegen die Rezession

Die Schweizer Wirtschaft dürfte wegen der Coronakrise im ersten Halbjahr in eine Rezession schlittern. Davon gehen die Ökonomen der Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich aus. In den ersten beiden Quartalen sei mit starken Rückgängen beim privaten Konsum zu rechnen, teilte die KOF gestern mit. Zudem würden die Unternehmen weniger investieren, und die Schul- und Grenzschliessungen beeinträchtigten die Produktion. Es sei mit einer rückläufigen Wertschöpfung zu rechnen, also einer Rezession. Die KOF hofft, dass es im zweiten Halbjahr zu Nachholeffekten kommt und das Bruttoinlandprodukt (BIP) dann wieder wachsen wird. Für das Gesamtjahr liege aber bloss noch ein Wachstum von 0,3 Prozent drin.

Davor hatten schon mehrere andere Institute ihre Prognosen für das laufende Jahr gesenkt. Die Ökonomen der Credit Suisse etwa gehen von einem Rückgang des BIP um 0,5 Prozent aus. Auch die KOF betont, dass ihrer Prognose grosse Unsicherheiten zugrunde lägen. Im Negativszenario drohe übers ganze Jahr ein Rückgang um 2,3 Prozent.

Angesichts der Verwerfungen fordern die beiden ETH-Wirtschaftsprofessoren Hans Gersbach und Jan-Egbert Sturm einen «Schweizfonds» genannten Hilfsfonds, der mit 100 Milliarden Franken ausgestattet sein soll. Die Funktionsfähigkeit des gesamten Wirtschaftssystems sei gefährdet. Es drohten starke Wertschöpfungseinbrüche und eine Insolvenzwelle. Den Professoren schwebt vor, dass mit dem Fonds die wegbrechende Wertschöpfung zu einem beträchtlichen Teil ersetzt wird. Die gewährten Kompensationen sollten die Liquidität der Firmen sichern und die Arbeitsplätze erhalten.

Die Berner Kantonalbank BEKB kündigte gestern Abend erste Hilfe an. Sie stelle ihren KMU-Kunden als Sofortmassnahme 50 Millionen Franken zinsfrei mittels Sonderdarlehen zur Verfügung. Pro Kunde sind diese auf einen Betrag von maximal 200 000 Franken limitiert. sda/mt/tg

Stichwörter: Wirtschaft, Coronavirus, KMU

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