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Tibet

Ex-Regierungsrat Bernhard Müller und seine Freundschaft zum Dalai Lama

Bernhard Müller hat als Co-Chef der Schweizer Entwicklungshilfe in den 60er-Jahren in Nepal gearbeitet. Der frühere Berner Regierungsrat über die Tibetfrage und seine Freundschaft zum Dalai Lama, der am nächsten Dienstag Bern besucht.

Dalai Lama und Bernhard Müller. Bild: zvg

Bernhard Müller, fühlen Sie sich nicht oft allein und im Stich gelassen, wenn Sie versuchen, die leidige Tibetfrage auf politisch-diplomatischem Weg zu reaktivieren?

Mit der Gründung des UNO-Menschenrechtsrates mit Sitz in Genf wird zwar den in Tibet (und China) grobfahrlässig missachteten Menschenrechten vermehrt Beachtung geschenkt; wir stellen jedoch immer wieder an Ort fest, dass die Situation in Tibet keineswegs besser geworden ist. Wenn zudem das Recht Tibets auf Unabhängigkeit zur Sprache gebracht wird, ja, dann gehört betretenes Schweigen zum Alltag, Diese fatale Ignoranz und Tatenlosigkeit ist für mich, die beigezogenen und mitarbeitenden Fachkräfte sowie insbesondere für die betroffenen Menschen in Tibet selbst sowie im Exil nicht zu ertragen...

 

Es scheint also, dass wer über die Tibetfrage öffentlich spricht, sprechen muss bzw. sollte, vorerst über die Bücher gehen müsste.

Ja, so ist es. So mahnte unter anderem Ulrich Delius, Asienreferent der Gesellschaft für bedrohte Völker (GFBV) anlässlich des 53. Jahrestages des Volksaufstandes in Tibet im Jahr 1959, dass Chinas Tibetpolitik in der Tat einen Tiefpunkt erreicht habe. Die Flucht von zahlreichen Lamas und Lominis sowie die vielen Selbstverbrennungen zeigten, dass Chinas Tibetpolitik vor einem Scherbenhaufen stehe. Nur ein echter Dialog mit der tibetischen Exil-Regierung könne zu einer friedlichen Lösung der Tibetfrage führen.  Was aber meint Ulrich Dibelius mit «friedlicher Lösung der Tibetfrage»? Da muss ich ohne zu zögern deutlicher werden! Die seit der völkerrechtswidrigen und ruchlosen Eroberung Tibets in der Zeit zwischen 1949 und 1959 durch die Truppen von Mao Tsetung im Hochland Tibet entstandene Situation muss so rasch wie möglich ein Ende haben, bevor es dazu zu spät ist...

 

Sie haben schon oft klar und deutlich gemacht, dass die Unkenntnis über die tatsächliche wahrheitsgetreue völkerrechtliche Situation Tibets erheblich sei. So sei es unerlässlich, primär die 2000-jährige Geschichte der beiden Nachbarn China und Tibet bis zur Gegenwart unter die Lupe zu nehmen. Weshalb?

Geschichtsfälschung, Fehlinterpretationen und Unkenntnis haben sich bis jetzt verheerend ausgewirkt, wenn es darum ging, das Recht Tibets auf Unabhängigkeit völkerrechtlich zu begründen. Leider hat die Volksrepublik China bis jetzt «alles und jedes» getan und unternommen, um eine völkerrechtsrelevanten Erörterung zu verhindern, China wird zunehmend zur beherrschenden Wirtschaftsmacht. Man gewöhnt sich daran, die Tibetfrage, wenn überhaupt, so nebenbei zu erwähnen und lediglich auf die Verletzung der Menschenrechte hinzuweisen. Das Sagen haben ganz klar die wirtschaftlichen Interessen, so etwa das zwischen China und der Schweiz bevorstehende Freihandelsabkommen. Der Souveränitätsanspruch Tibets ist trotz den immer wieder vorgelegten Aufrufen, so etwa der Internationalen Juristenkommission, praktisch kein Thema mehr.

Können Sie uns ein krasses Beispiel aus jüngster Zeit nennen?

Oh ja! Im Jahr 2000 verabschiedete das EU-Parlament in Brüssel grossmehrheitlich eine Resolution, wonach die Regierungen der Mitgliedstaaten verpflichtet wurden, innerhalb dreier Jahre für Tibet eine völkerrechtskonforme Lösung anzustreben. Könnte dieses Ziel nicht erreicht werden, so sei in Aussicht zu nehmen, den Dalai Lama, seine Exil-Regierung und das Exil-Parlament als die rechtmässigen Vertreter des souveränen Staates Tibet zu erklären, Gutachten mit an die 500 Seiten Dokumentation stützten den Resolutions-Beschluss praktisch von a - z! Das Ergebnis? Nichts bewegte sich da, nichts...

Und die UNO?

Nach der endgültigen Machtübernahme durch die Volksrepublik China in Tibet und der Flucht des 24-jährigen Dalai Lama nach Indien, beide Ereignisse im Jahr 1959, häuften sich bei der UNO_Vorstösse, Anträge und völkerrechtsrelevante Gutachten. Die Rechtmässigkeit von Tibets Forderung auf Unabhängigkeit setzte sich dabei deutlich durch. Nach dem Jahr 1961 dann, so schien es, verschwanden die Tibet-Aktenberge zunehmend «in den untersten Schubladen». Offensichtlich war Chinas späte Aufnahme in die UNO_sowie in den Sicherheitsrat mitverantwortlich an einem weiteren Schicksalsschlag gegenüber dem immer stärker darbenden Tibet.

Sie haben damals in verschiedenen Vorträgen und Zeitungsartikeln den Vorwurf an «die übrige Welt» erhoben, man spreche zwar von und über Tibet, wisse jedoch nicht, in welche prekäre Lage Tibet nach der endgültigen Eroberung im Jahr 1959, dann aber geradezu unglaublich und klammheimlich im Jahr 1965 geraten sei.

In der Tat wurde und wird bei Gesprächen über Tibet fast durchwegs übersehen, dass das heutige Tibet mit dem Tibet in seinen ursprünglichen Grenzen von 1949 überhaupt nicht mehr übereinstimmt! Rund zwei Drittel Tibets wurden 1965 klammheimlich, scheinbar endgültig und mit katastrophalen Folgen in die chinesischen Provinzen Qinqhai, Sechuan und Yünnan integriert. 2,9 Millionen Tibeter in den wundervollen und bodenschätzereichen Provinzen Amdo und Kham wurden so auf unvorstellbare Art und Weise zwangssinisiert! Der Name der Provinz Amdo mit dem Geburtsort Darchen des Dalai Lama ist sogar von allen Landeskarten verschwunden! Die ebenso im Jahr 1965 ausgerufene «Autonome Region Tibet» mit Lhasa als Hauptstadt weist noch gerade 1,9 Millionen tibetische Menschen auf! 1,3 Millionen meist wehrlose Tibeter kamen bekanntlich während und seit der Eroberung kläglich ums Leben, im Exil leben an die 500000 tibetische Menschen, vornehmlich in Indien und Nepal. Das einstige Tibet mit an die 6,6 Millionen Menschen gibt es somit nicht mehr. Selbst in der Autonomen Region Tibet wird sichtbar, dass die Tibeter immer stärker an den Rand des Existenzminimums gedrängt werden. Sämtliche tibetischen Distrikte weisen eine deutliche Mehrheit an zugewanderten und zwangsangesiedelten chinesischen Bürgern auf.  Eigenständigkeit und Kultur der Tibeter sind durch geplante, vorsätzliche Sinisierung in höchstem Masse bedroht.

Flüchten heute noch Tibeter ins benachbarte Ausland?

Auf ganz jeden Fall, dies in ständiger Todesgefahr. In neuster Zeit versuchen zudem immer mehr Eltern, ihre Kinder in auswegloser Situation über den Himalaja zu schleusen, um ihnen vor allem in Dharamsala «in der Nähe des Dalai Lama eine würdige und möglichst erfolgreiche Erziehung und Schulung zu ermöglichen». Obwohl sich dabei Eltern und Kinder wahrscheinlich nie mehr sehen werden, verlaufen diese ans Herz gehenden Notmassnahmen für die exilierten Kinder den Verhältnissen entsprechend erfolgreich. So führt beispielsweise die Schwester des Dalai Lama ein Pensionat und eine vielstufige Schule vom Kindergarten bis zur Fachhochschule nach dem Montesori-Prinzip für 1800 Kinder und Jugendliche mit sichtbarem Erfolg!

Sie erhalten praktisch täglich auf indirektem und direktem Weg aus Tibet sowie an Ort furchterregende Nachrichten. Welche dieser krassen Ereignisse stehen zur Zeit an vorderster Stelle?

Das sind immer wieder Folterungen, die oft zum Tode führen, dann Organentnahmen in Untersuchungsgefängnissen, Gefängnissen und Arbeitslagern, dies trotz der kürzlich erfolgten staatlichen Monopolisierung dieser nach wie vor ganz klar ausgewiesenen Schandtaten. Dann folgen noch und noch Zwangssterilisationen an jungen Eltern mit mehr als einem Kind. Schliesslich folgt die praktisch völlige Unterdrückung der tibetischen Kultur, vorab der tibetischen Sprache und des buddhistischen Glaubens. Nicht zu vergessen die Selbstverbrennungen, vorweg von Lamas und Lominis. In den letzten 20 Jahren dürften mehr als 12000 Klosterbewohner verhaftet, verurteilt oder vertrieben worden sein, welche sich weigerten, «den Dalai Lama als Verräter an Land und Volk schriftlich zu bezeugen». Sogenannt rote, das heisst regimetreue Lamas und Lominis bevölkern denn auch praktisch alle buddhistischen Klöster in Tibet, wir sind bei fast jedem Besuch geschockt ob dem verhaltenen und verunsicherten Benehmen dieser umerzogenen Klosterbewohner.

 

China versteht es offensichtlich und trotz allem immer wieder, Behauptungen, Vermutungen, das Fehlen von Staatsverträgen zwischen China und Tibet usw. als völkerrechtsrelevante Beweise ins Feld zu führen. Seit Ihrer Studentenzeit und bis zum heutigen Tag erforschten und erforschen Sie die Geschichte der beiden Nachbarn Tibet und China, häufig an Ort, dies oft unter erheblicher Gefahr für Sie und Ihre fachkundigen Helfershelfer. Nun sollen also alle Fakten lückenlos auf dem Tisch liegen.

Ja, es bedurfte und bedarf allergrösste r Konzentration und Beschränkung auf das Wesentliche, wenn die Zeit Tibets vorerst als Königreich und souveräner Staat zwischen 127 vor Chr. bis 1207 korrekt, quasi als Résumé beschrieben und wesentliche Dokumente in mongolischer, chinesischer, tibetischer und englischer Sprache vorerst aufgefunden und hernach ins Deutsche übersetzt werden mussten. Wie staunt man da, wenn selbst europäische Diplomaten zu verstehen geben, dass die Geschichte Chinas und Tibets streckenweise kompliziert sei, so dass namhafte Fragen nicht mit absoluter Sicherheit beantwortet werden könnten...Nachweisbar ist, dass König Niatri  Tsempo bereits im Jahr 127 vor Chr. zahlreiche Volksstämme, vor allem Nomaden, zur ersten tibetischen Nation vereinen konnte. Und so folgten auf dem tibetischen Thron nicht weniger als 40 Könige, es war die Yarlung-Dynastie, welche während 749 Jahren das Dach der Welt regierten. Oft zerfiel das Reich in mehrere Königreiche. Dann aber war es im Jahr 617 nach Chr., als König Songtsen Gampo die Nation Tibet festigte. Tibet wurde in der Folge zur politischen, wirtschaftlichen und kulturell-buddhistischen Grossmacht in Zentralasien. Einfluss und Autorität reichten weit über die Landesgrenzen hinaus, die Nachbarländer zollten Respekt. König Songtsen Gampo verliess im Jahr 633 das Tal der Könige (Jarlungtal) und erbaute sein heute noch strahlendes Schloss auf einem Hügel im Kyi-Chu-Tal, und so entstand step by step das heute dominante Wahrzeichen Tibets, der Potala «zu seinen Füssen” die Stadt Lhasa. Lhasa wurde nun zum politischen, wirtschaftlichen und kulturell-buddhistischen Zentrum Tibets. Im Jahr 641 fand die von China so hoch gerühmte Hochzeit zwischen König Songtsen Gampo und der chinesischen Kaiserstochter Weng Cheng statt. Es spottet nun aber jeder Beschreibung, wenn China behauptet, diese Heirat sei als freiwillige Unterwerfung Tibets zu interpretieren. Die damalige Vormachtstellung Tibets war alles andere als geeignet, durch nachbarliche Huldigungsheiraten eingeschränkt zu werden. Nun aber nahmen Grenzstreitigkeiten zwischen China und Tibet wohl erstmals bedrohliche Formen an. Hauptgrund war die Weigerung des chinesischen Kaisers, den bei der Heirat von König Songtsen Gampo und Prinzessin Weng Cheng vereinbarten Tribut zu entrichten. Der tibetische Nachfolgekönig Trisong Detsen eroberte schliesslich ohne Pardon die damalige chinesische Hauptstadt Chang’an, die heutige Stadt Xi’an! Der Kaiser gelobte feierlich, künftig der Tributpflicht nachzukommen! Im Jahr 783 folgt schliesslich die Grenzbereinigung zum Vorteil Tibets. Der Text dieses Staatsvertrages kann in gekürzter Form selbst an Stupas und Tshörten bewundert werden. China verschweigt offensichtlich diesen für das Kaiserreich doch eher peinlichen Geschichtsabschnitt, mindestens was die Beziehungen zum Königreich Tibet betrifft. Für China gilt nach wie vor das überragend schöne Brautgeschenk von Prinzessin Weng Cheng, ein Buddha im allerheiligsten Tshokang-Tempel von Lhasa, als deutliches Zeichen der Unterwerfung Tibets...

Diesen mächtigen Nachbarn China und Tibet drohte dann aber plötzlich allerhöchste Gefahr aus dem Norden. Der Name Dshingis Kahn tauchte auf. Was ging da ab?

Tatsächlich eroberten im Jahr 1207 die berittenen mongolischen Truppen von Dshingis Kahn das wieder einmal in einzelne Königreiche aufgeteilte Grosstibet. Ueberraschenderweise kam jedoch eine für Tibet vertraglich geregelte Schirmherrschaft zustande. Der mongolische König Godan Cham setzte den damals höchsten Würdenträger Tibets, Sakya Pandita, als Vizekönig ein. Das Verhältnis basierte auf Gleichberechtigung beider Länder, keine Subordination also; Tibet übernahm die Einführung der mongolischen Stämme in den Buddhismus, dies als völkerrechtliche Plattform, das mongolische Königreich verpflichtete sich seinerseits, Tibet vor «fremden Truppen zu schützen».

Und wie erging es dem Kaiserreich China?

 Ja, da verlief alles ganz anders; trotz der bereits vorsorglich und teilweise erbauten «Grossen Mauer» im Norden Chinas eroberten die Mongolen das Kaiserreich! Im Jahr 1279 wurde Kubila Cham erster Mongolenkaiser von China! Diese Fremdherrschaft, die sogenannte Yüan-Dynastie, war jedoch von kurzer Dauer; im Jahr 1350 endete nicht nur die vertraglich geregelte Schirmherrschaft über Tibet, ebenso musste der mongolische Kaiser von China im Jahr 1358 abdanken und aus China verschwinden. Nun vertrat aber das von Fremdherrschaft befreite China den Standpunkt, aus jener Zeit der mongolischen Dominanz über China und Tibet lasse sich der Anspruch Chinas auf Tibet ableiten. Schirmherren über Tibet waren jedoch die Mongolen, nicht aber die Chinesen. Diese Schirmherrschaft, wie gesagt, stellte Tibets Souveränität nicht in Frage. Die im Anschluss an das mongolische Intermezzo unterzeichneten Verträge lassen da keine diesbezüglichen Fragen und Zweifel offen.  Schade, sehr schade sogar, dass China diese Sachlage verschweigt oder, wie schon so oft, rundweg abstreitet!

Erstaunlich ist jedoch, dass nach der Abdankung des Mongolenkaisers in China im  Jahr 1358 und den bereits im Jahr 1350 aus Tibet abgezogenen Schutztruppen bis zum Jahr 1642, also während beinahe 200 Jahren, das Nebeneinander der Grossmächte China und Tibet ohne allzu spektakuläre Ereignisse, schon gar nicht kriegerische Auseinandersetzungen erfolgte. Was aber geschah dann eigentlich in diesem berühmt-berüchtigten Jahr 1642?

 Ja, dieses Jahr 1642, so scheint es mir, war der Beginn eines ganz neuen und eher unerwarteten Schicksalsverlaufs beider Staaten. Das Königreich Tibet machte sage und schreibe nach 749 Jahren dem im eigenen Land und weit über die Landesgrenzen hinaus bekannten und verehrten Dalai Lama als nunmehr «politisches und geistiges Oberhaupt Tibets» Platz. Das nunmehr von Dalai Lama an der Spitze regierte Tibet fand seine Staatsmaxime in der lamaistisch-buddhistischen Ethik, Philosophie und Religion. Armee und Polizei hatten lediglich interne, marginale Schutz- und Sicherheitsmassnahmen zu erfüllen. Die durch andere als militärische Stärke geförderten Staatspotentiale wiesen vor allem im aussenpolitischen Bereich erhebliche Schwachstellen auf. Die auf diese Weise verfügte und staatlich vertretene Lebenshaltung führte ebenfalls zu einer spürbaren Abschottung gegen aussen, zu einer ungewollten Isolierung auch, so dass die dem Fortschritt verpflichteten Nachbarn, mindestens theoretisch und potentiell, leichtes Spiel hatten, das Hochland zu erobern.

Und wie erging es dem Kaiserreich China?

Kaum zu glauben, aber eben in diesem Jahr 1642 rückten aus dem Norden - wie einst die Mongolen - nun die brandgefährlichen Heere der Mandschus vor, ein mongolenstämmiges Volk aus der Volksgruppe der Tsungaren. Obwohl China seit dem Mongolensturm die 6000 km lange «Grosse Mauer» immer wieder verbesserte, ergänzte und verstärkte, bot sie einmal mehr nicht genügend Schutz, das Kaiserreich China fiel den Heeren aus dem Norden erneut zum Opfer. Es entstand die Qing-Dynastie mit einem Mandschu-Kaiser an der Spitze. Diese Fremdherrschaft dauerte von 1642 bis sage und schreibe 1911, insgesamt also 269(!) Jahre. Und das war dann auch das definitive Ende des chinesischen Kaiserreichs, unterbrochen durch die Mongolen und die Mandschuren!

Blieb das vom Dalai Lama angeführte Tibet von den Mandschuren aus dem Norden verschont?

Ja, so schien es; aber dann fielen im Jahr 1717 die westmongolischen Dsungaren in Tibet ein. Der mandschu-chinesische Kaiser bot Tibet Hilfe im Umfang von 4000 Soldaten an. Der im Jahr 1720 zwischen dem 7. Dalai Lama und dem Kaiser von China entsprechend abgeschlossene Vertrag dokumentierte formell und inhaltlich ein buddhistisch geprägtes Partnerschaftsverhältnis. Die Verwandtschaft zur früheren Schirmherrschaft der Mongolei war offensichtlich. Aber es war schliesslich die kleine tibetische Armee, welche die aufsässigen Dsungaren aus Tibet vertrieb. Dem Kaiser von China wurde zugestanden, in Lhasa eine Gesandtschaft zu eröffnen und eine kleinere Schutztruppe, welche die berüchtigten Eindringlinge vertrieb.Im Jahr 1793 wurde zwischen dem Dalai Lama und dem chinesischen Kaiser ein 19-Punkte-Programm unterzeichnet; dieses zeigt nicht klar auf, ob es sich um einen de-jure-Vertrag handelt. Der Mandschu-Kaiser verlor jedoch zunehmend das Interesse an Tibet; als im Jahr 1842 die islamische Dongraarmee aus Kaschmir in Tibet einfiel, waren es erneut die tibetischen Truppen, welche die Eindringlinge besiegten. Allerdings musste Tibet in der Folge seinen westlichsten Landesteil Ladakh an Indien abtreten, auch das ein ungesühntes Unrecht an Tibet!

Kam Tibet dann endlich zur Ruhe oder  wurde der dem Frieden verpflichtete Dalai Lama-Staat erneut oder gar immer wieder bedroht?

So ist es; das in der Tat dem Frieden verpflichtete «Dach der Welt» kam bedauerlicherweise auch in der Neuzeit nicht zur Ruhe. Das tibetische «Staatsorakel» sagte nämlich «schwarze Wolken, die aus dem Osten kommen werden» voraus! Vorerst jedoch drangen erneut Gurkaverbände aus dem südlichen Nepal in Tibet ein, doch waren hier einmal mehr die tibetischen Militärs siegreich. Aber im Jahr 1903 marschierte ein britisch-koloniales Armeekorps unter der Leitung von Oberst Younghusband Richtung Lhasa. 700 tibetische Soldaten kamen nur schon am 5018 m hohen Karo La um. Tibet wurde ein bilateraler Handelsvertrag aufgezwungen. Es ging in erster Linie um die Sicherung der Salzversorgung auf dem indischen Subkontinent. (Tibet ist in Asien noch heute der bedeutendste Salzlieferant, das Monopol beansprucht allerdings China!). In diesem Vertrag anerkannten die Briten immerhin Tibet als souveränen Staat.

Was sagte das von inneren Unruhen geplagte Kaiserreich China zu diesem Vertrag?

Vorerst brach England sein Wort, indem es im Jahr 1906 in einem Vertrag mit China die Souveränität Tibets in Frage stellte, eine ungeheuerliche Frechheit auf ganz jeden Fall! Nicht zu verwundern, dass im selben Jahr die chinesische Armee in Tibet einfiel und 1910 Lhasa besetzte! In Tibet herrschte Angst, Verzweiflung und Ohnmacht. Tatsächlich sagte Tibets Staatsorakel dieses Unglück voraus. Nun aber, mitten in dieser unbeschreiblichen Not, sprach das Orakel von «Silberstreifen am Horizont»!

Und was hiess das nun für den gebeutelten Tibeter?

Bekanntlich ging in China im Jahr 1911 eine bisher nie dagewesene Revolution los, es war der sogenannte Bauernaufstand. Die seit dem Jahr 1642 herrschenden Mandschu-Kaiser, die Qing-Dynastie, wurde(n) gestürzt, die Fremdlinge aus dem Norden vertrieben oder getötet, die Republik ausgerufen, das Kaiserreich hatte endgültig ausgedient, die Guomindang-Partei mit Staatschef Kiang Kaishek hatte von nun an das Sagen!

Und wie gestaltete sich nun das Verhältnis zwischen dem nach wie vor besetzten Tibet und der chinesischen Republik?

Ja doch, die Silberstreifen an Tibets östlichem Horizont machten überraschenderweise «einem tiefblauen Himmel» Platz. Der aus dem Exil heimkehrende 13. Dalai Lama schloss im Jahr 1913 mit der Republik China zwei Staatsverträge ab, welche die Kapitulation und Heimkehr sämtlicher Fremdtruppen aus Tibet regelten. Und so war Tibet de facto und de jure wieder absolut unabhängig! Es ist wahrlich höchste Zeit dass die «übrige Welt» mit aller Konsequenz diesen Tatbestand endlich zur Kenntnis nimmt und allen Versuchen Chinas, die Geschichte nach Belieben zu fälschen, paroli bietet!

Tibets Unabhängigkeit war nun in relativ kurzer Zeit wieder hergestellt. Wie sicher war dieser völkerrechtlich verbriefte Zustand?

Vorerst lief alles gleichsam wie am Schnürchen, dies zum Vorteil Tibets. Der Staat auf dem Dach der Welt ging nun rundum auf sicher und unterzeichnete berets im Jahr 1913 mit der Mongolei einen Freundschafts- und Beistandsvertrag ab. Und in demselben Jahr proklamierte der Dalai Lama formell die Unabhängigkeit Tibets. China hat diesen tibetischen Staatsakt in keinem Moment bestritten! Trotz Vermittlung der britisch-indischen Kolonialmacht, welche nun gegenüber Tibet wie verändert in Erscheinung trat, traten zwischen China und Tibet erneut Grenzkonflikte auf, doch endlich, dies im Jahr 1918, unterzeichneten China und Tibet ein Waffenstillstands- und Grenzbereinigungsabkommen. Tibet hatte sich zwar durchgesetzt, verzichtete indessen auf Gebiete östlich des Yangtse Kiang. China, so schien es, musste ein für allemal auf Tibet verzichten.

Und war dem so?

 Ja doch, es schien so! Im Jahr 1934 nämlich eröffneten vorerst China, Indien und Nepal in Lhasa Gesandtschaften, ein Beweis mehr, dass Tibet ein unabhängiger Staat war! Weshalb das heutige China diese Sachlage in Zweifel zieht, ist völlig unverständlich. (Eine provokative Frage: Weshalb wollten zwei Aussenminister aus Europa bei einer hitzigen Debatte über Tibet nie etwas von dieser Tatsache gehört haben?) Es kam für Tibet noch besser: Im Jahr 1947 nahm Tibet offiziell an der «Asian Relations Conference» in New Delhi teil. Die tibetische Landesfahne (heute bei deren Besitz und Verwendung mit dem Tode bestraft!) flatterte inmitten der asiatischen Landesfahnen im Wind. Niemand beanstandete an der Konferenz die Anwesenheit Tibets - ganz im Gegenteil! Tibet öffnete von nun an die Türen zur übrigen Welt; so bereiste im Jahr 1948 eine offizielle tibetische Goodwill- und Handelsdelegation erstmals europäische Länder und so auch die Schweiz. Die Behörden stellten durchwegs die entsprechenden Visa aus.

Sie sprachen soeben über Ereignisse, welche Tibets Unabhängigkeit zum wiederholten Male unter Beweis stellen. Wie empfand die tibetische Bevölkerung diesen Weg zu Freiheit, Unabhängigkeit und Wohlergehen?

Das Glücksgefühl und die Dankbarkeit schienen in Tibet kaum Grenzen zu kennen. Vom Dach der Welt strahlte Licht und Wärme gleichsam über die ganze Welt aus. Der 14. Dalai Lama, erst 13jährig(!), bereitete sich intensiv auf sein Amt als politisches und geistiges Oberhaupt Tibets vor.

Herr Müller, Sie sagen, dass der erst 13jährige Dalai Lama zu Amt und Würden gekommen sei; konnten denn Regierung, Berater, der Rat sowie die Verwaltung, im Potala residierend, nicht die Volljährigkeit ihres Oberhauptes abwarten?

Ihre Frage ist mehr als berechtigt! Das tibetische Staatsorakel, welches sich bis heute noch nie geirrt hatte und hat, trat in der Tat mit der beunruhigenden Nachricht hervor, indem erneut von «den schwarzen Wolken, die aus dem Osten kommen werden» die Rede war. Und in der Tat - es kam wie es kommen musste: Mao Tsetung hatte es endlich geschafft, er rief im Jahr 1949 triumphierend die Volksrepublik China aus. Der bisherige Staatschef Kiang Kaishek floh mit einem Rest seiner Anhängerschaft auf die Insel Taiwan. Die sogenannte Republik China war am Ende, der Kommunismus feierte Sieg um Sieg, er setzte sich gar zur Verwirklichung des Welt-Kommunismus in Szene. Im gleichen Jahr wurde deshalb der erst 14jährige 14. Dalai Lama ebenso in sein hohes Amt eingesetzt. Es war dies eine unvermeidliche Massnahme, denn Tibet drohte allerhöchste Gefahr! Und so nahm die völkerrechtswidrige und extrem brutale Eroberung ebenso im Jahr 1949 ihren Anfang. Diese endete 1959 mit der Flucht des nunmehr 24jährigen Dalai Lama über den Himalaja nach Indien und der vollständigen Fremdbesetzung und Fremdbeherrschung Tibets. Trotz dieser ungeheuerlichen Tat, wo Völkerrecht und Menschenrechts-Konventionen in brutalster Art und Weise missachtet, ja, mit Füssen getreten wurden und werden, spricht das offizielle China immer noch und immer wieder neu von der «friedlichen Befreiung Tibets». Und in der Folge anerkannten Staat um Staat, vorab die neutrale Schweiz, förmlich und offensichtlich ohne Vorbehalte, was Tibet betraf, die neue Volksrepublik China. In China bestätigten mir gegenüber zwei Minister, dass die Schweiz in Kenntnis der Lage «die Volksrepublik in ihren neuen Grenzen» anerkannt habe. Hier in der Schweiz hat man uns Einsicht in die entsprechenden Dokumente verwehrt. Wenn es aber stimmt, dass die offizielle Schweiz von damals, das heisst der Bundesrat, das de jure unabhängige Tibet auf diese Weise geopfert hat, ja, dann verstehe ich die Welt nicht mehr und meine tiefe Trauer will und wird kein Ende nehmen...

Und was sagte die UNO zu diesem mehr als fragwürdigen Anerkennungs-Galopp der Staatenwelt?

Wie schon gesagt, sprach sich die UNO_im Jahr 1961 wohl letztmals deutlich und «ohne wenn und aber» zu Gunsten von Tibets Souveränitätsanspruch aus, während heute, wenn überhaupt, die ganze Tibetfrage auf die Respektierung der Menschenrechte reduziert wird. Ebenso, wie schon dargestellt, hat das Europäische Parlament im Jahr 2000 in einer grossmehrheitlich verabschiedeten Resolution Klartext gesprochen; aber auch da ist seither Stille eingekehrt, die beauftragten Regierungen der Mitgliedstaaten haben in der Tibetfrage, auch sie, bisher nichts zustande gebracht. Auch in Europa insgesamt wird somit allerhöchstens noch von Menschen rechtsverletzungen in China (und Tibet) gesprochen.

Herr Müller, Sie beteiligen sich immer wieder an der Realisierung von Projekten, vornehmlich in Nepal und Tibet, peripher besuchen Sie aber auch den Dalai Lama in Dharamsala, dabei sind aber auch Besuche in Ladakh sowie China. Können Sie uns ein bis zwei der für Sie wohl eindrücklichsten Beispiele von Menschenrechtsverletzungen beschreiben?

Auf dem Flachdach des heiligsten Tshokang-Tempels am Rande der Altstadt Lhasa, mit herrlicher Sicht auf den Potala, begegneten meine Frau und ich dem Oberlama eines der grössten buddhistischen Klöster. Wir umarmten uns, Tränen flossen... Der Würdenträger weigerte sich, den Dalai Lama als Verräter an Land und Volk schriftlich zu bezeugen. Einige Wochen später besuchte mich ein ehemaliger tibetischer Minister im Lhasa-Hotel und teilte mir weinend mit, dass der genannte Oberlama gestorben sei, offensichtlich an den Folgen von Folterungen... Am riesigen, kreisrunden Manasarovarsee auf 4700 m ü. M., nahe am heiligsten Berg Mt. Kailash in Westtibet gelegen, begegnen wir einer 37jährigen Tibeterin, an einem Seil führt sie ein abgemagertes Tibetpferd, hintennach folgt ein 6jähriges Söhnchen - da stimmte etwas nicht! Die Frau teilte mir weinend mit, dass sie den See dreimal in je vier Tagen umwandern möchten und so mit Hilfe Buddhas sowie aus eigener Kraft aus dem grossen Leid herauskommen möchten. Ihr Mann und Vater sei im Untersuchungsgefängnis gestorben. Als ein Lama die Leiche daheim für die Bestattung zurecht machen wollte, entdeckte der herbeigerufene Arzt, dass man das Herz, die Leber sowie die Nieren entfernt hatte. Die Familie wurde seither betreut, zwar starb das Pferd an Altersschwäche, die Familie erhielt von uns ein junges Pferd, der Familie geht es den Verhältnissen entsprechend wieder etwas besser...

Was möchten und werden Sie jetzt in «zwei Worten», begleitend zu diesem Interview, den für die Tibetfrage zuständigen Behörden und Organisationen sagen?

Bitte tut für Tibet endlich etwas Mutiges, setzt Euch mit der Tibetfrage korrekt, menschenrechts- und völkerrechtskonform auseinander, bevor es dazu zu spät ist. O_mani padme hum (Das von Tibets Menschen pro Tag mindestens 108mal, entsprechend den 108 buddhistischen Erleuchtungsstufen, betend zum Himmel gesandt wird).

Und was würden oder werden Sie den Mächtigen Pekings sagen bzw. mitteilen?

China hat in Tibet sein Gesicht verloren. Man kann China nur immer wieder den Rat geben, das gefälschte Geschichtsbild voll und ganz zu korrigieren, sich für die begangenen Kriegsverbrechen zu entschuldigen, die Menschenrechte in Tibet in seinen Grenzen von 1949 im Sinne der Erhaltung der tibetischen Kultur und Identität zu respektieren und das Land mit mehr Autonomie auszustatten, schlussendlich Tibet wieder in die rechtmässige Unabhängigkeit zu entlassen. O mani padme hum...

Interview: Ursula Bolliger

Zur Person von Bernhard Müller

Der in Scharnachtal _(Berner Oberland) geborene Verhaltensbiologe und Ökonom _Bernhard Müller arbeitete _bereits in den 60er-Jahren _als Co-Chef der Schweizer Entwicklungshilfe im Himalajakönigreich Nepal. Hinzu kam die Mithilfe bei der Ansiedelung von etwa 20 000 tibetischen Flüchtlingen. Und so nahm die Freundschaft zwischen dem Dalai Lama und Bernhard Müller ihren Anfang. Später wirkte er als Abteilungschef und Eidgenössischer Fischereiinspektor des in Entstehung begriffenen Bundesamtes für Umweltschutz sowie als Vertreter der Landesbehörde in internationalen Organisationen.

Während 16 Jahren diente er dann als Berner Regierungsrat und später gleichzeitig als Nationalrat. Bernhard Müller war ferner Präsident der Schweizerischen Volkswirtschaftsdirektoren-Konferenz und Präsident des Schweizer Tourismus-Verbandes.

Seit dem Rücktritt von seinen politischen Ämtern verfasste Bernhard Müller nicht weniger als 12 Bücher, so u.a. über Nepal, Tibet und China. Nebenberuflich arbeitet Bernhard Müller in Nepal und Tibet, peripher auch in China und Nordindien insbesondere als Experte für nachhaltige und ökorelevante Ertragsverbesserungen in extremen Höhenlagen und Klimazonen.                           

Dalai Lama in Bern

Der Dalai Lama besucht im Rahmen seines Schweiz-Aufenthalts am nächsten Dienstag die Universität Bern. Er wird vor Studierenden zum Thema «Towards a Sustainable Future» sprechen und mit ihnen Fragen diskutieren. Der Vortrag ist nicht öffentlich, wird aber live im Internet übertragen.  (www.dalailama2013.unibe.ch)

               

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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