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Christine Beerli

«Im Endeffekt siegt häufig die Freiheit»

Christine Beerli, Vizepräsidentin des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, beschäftigt sich täglich mit den Konflikten in der Welt und dem Leid, das sie verursachen. Den Glauben an das Gute lässt sie sich davon aber nicht nehmen. Sie sieht es gerade auch in Ländern, die scheinbar hoffnungslos verloren sind.

IKRK-Vizepräsidentin Christine Beerli: «Je besser man die Situation kennt, desto schlechter kann man eine resignative Haltung einnehmen.» copyright: peter samuel jaggi/bieler tagblatt

Interview: Tobias Graden


Christine Beerli, wie verbringen Sie das nächste Wochenende?
Christine Beerli: Ich werde es den Solothurner Filmtagen widmen. Am Donnerstag werde ich an meiner letzten Eröffnung als Präsidentin sein, am Samstag bin ich am Filmtage-Anlass mit dem Kunstmuseum Aarau.

Freuen Sie sich darauf?
Sehr! Ich bin nun seit zwölf Jahren Präsidentin – deswegen höre ich auch auf: Ich habe mir vorgenommen, ein Mandat nie länger als zwölf Jahre zu bekleiden.

In der Öffentlichkeit nimmt man vor allem Direktorin Seraina Rohrer wahr.
Das ist auch gut so.

Was war denn Ihre Aufgabe?
Das ist wie an anderen Orten mit strategischer und operativer Führung: Ich habe mit dem Vorstand des Vereins die strategische Ausrichtung stark beeinflusst. Gerade bei der Wahl der neuen Direktorin habe ich entscheidend mitwirken können.

Die Wahl von Seraina Rohrer war mutig, mit Ivo Kummer hatte ein starkes Aushängeschild die Filmtage verlassen.
Ivo Kummer und die Filmtage, das war wie eine Einheit. Man wünschte sich einen nächsten Ivo Kummer, wir hatten sehr viele Bewerbungen, entschieden uns aber ganz bewusst für den Bruch. Man darf sagen, es war ein Erfolg, Seraina Rohrer leistet ausgezeichnete Arbeit.

Die Filmtage sind in den letzten zehn Jahren gemessen an den Zuschauerzahlen um über 50 Prozent gewachsen. Worauf ist das zurückzuführen?
Der Film ist ein Medium, das nach wie vor stark interessiert. Das Schweizer Filmschaffen hat sich gut entwickelt. Und wir konnten mit den Neuerungen mithalten, nicht nur technisch, sondern wir konnten auch ein neues, junges Publikum ansprechen – gerade dank Seraina Rohrer.

Der Filmpreis zog 2009 nach Luzern, in diesem Jahr müssen Besitzer von Tageskarten und Abonnementen erstmals im Voraus online reservieren, was das Festivalfeeling einschränkt. Werden die Filmtage zu gross für den Austragungsort Solothurn?
Es ist in der Tat eine Herausforderung, dass wir nicht vom eigenen Erfolg aufgefressen werden. Das Ticketing nicht klappte nicht optimal, man musste anstehen, um dann doch keinen Platz zu kriegen. Dem wollen wir mit dem elektronischen Ticketing und der App begegnen, aber auch mit neuen Sälen. Die Diskussion, die Filmtage an einem anderen Ort zu veranstalten, ist aber vom Tisch. Die Atmosphäre in Solothurn ist zu wichtig.


Allerdings haben die Filmtage Mühe, genug Sponsoren zu finden.
So kann man das nicht sagen. Der weggefallene Hauptsponsor hörte nicht auf, weil er unzufrieden gewesen ist, sondern weil er sich neu ausgerichtet hat. Die Filmtage sind gut finanziert, wir haben auch Reserven. Einen neuen Hauptsponsor suchen wir nicht in Panik, sondern in einem ordentlichen Verfahren.

Haben Sie einen Lieblingsfilm?
Das wechselt. Zuletzt habe ich «Paterson» gesehen von Jim Jarmusch, das ist ein sehr schöner, ruhiger Film.

Wenn Sie das Jahr 2016 Revue passieren lassen, dürften Sie als Vizepräsidentin des IKRK das Gefühl gehabt haben, in einem schlechten Film zu sitzen.
Das IKRK war ausserordentlich gefordert, schon 2015, und ich gehe davon aus, dass 2017 nicht besser wird. Wir sind in sehr vielen Konfliktherden tätig, haben zum Glück aber praktisch überall Zugang und können unsere Hilfeleistungen erbringen. Es ist enorm viel Arbeit, es sind viele Herausforderungen, und diese werden immer schwieriger.

Inwiefern?
Es geht um Fragen des Zugangs: Können wir dort sein, wo die Not am grössten ist? Wie können wir unser Mandat erfüllen und dort präsent sein, wo es am gefährlichsten ist, und gleichzeitig unsere Verantwortung als Arbeitgeber für unsere Leute wahrnehmen? Die Art der heutigen Konflikte macht dies auch nicht einfacher, denn häufig handelt es sich nicht mehr um Konflikte zwischen zwei Staaten, sondern zwischen Staaten und Oppositionsgruppierungen. In Syrien sind es zum Beispiel hunderte verschiedene Gruppierungen. Um unsere Akzeptanz und so den Zugang erwirken zu können, müssen wir mit allen in Kontakt sein. Das ist eine hochkomplexe Situation.

Was ist Ihnen aus dem Jahr 2016 besonders in Erinnerung geblieben?
Eine enorme Belastung ist es, wenn Mitarbeitende des IKRK als Geiseln genommen werden. Das ist auch 2016 vorgekommen. In Syrien sind drei Mitarbeitende immer noch in Geiselhaft, aktuell haben wir gerade eine Geiselnahme in Afghanistan.

Das IKRK sollte von allen Parteien als neutrale, rein helfende Kraft anerkannt werden. Was sagt es aus über die Konfliktparteien, wenn sie IKRK-Leute als Geiseln nehmen?
Es zeigt, dass die Situationen häufig sehr chaotisch sind, dass es auch eine Vermischung gibt zwischen politisch motivierten Konfliktparteien und schlicht kriminellen Elementen. Letztere versuchen, mit Ausländern in ihrem Gebiet ein Geschäft zu machen.  

Wie muss man sich Ihre Arbeit als Vizepräsidentin des IKRK eigentlich vorstellen?
Präsident Peter Maurer ist das Gesicht des IKRK gegen aussen, er ist unser Chefdiplomat und hat den Kontakt zu Regierungen. Ich bin eher für die inneren Angelegenheiten zuständig, bin in der strategischen Führung und Aufsicht des «Unternehmens» IKRK tätig. Und ich kümmere mich schwergewichtig um den Kontakt mit dem «Movement» – also den nationalen Rotkreuz- oder Halbmondgesellschaften, die sich mit den Themen in ihren Ländern und Naturkatastrophen beschäftigen, während das IKRK bei Konflikten zum Zug kommt.

Reisen Sie auch ins Ausland?
Ja, die Arbeitsteilung zwischen mir und dem Präsidenten ist fliessend. Ich mache auch diplomatische Besuche vor Ort.

Gehen Sie auch in Krisenregionen?
Ich war letztes Jahr im Südsudan, ich war schon in Kolumbien und mehrmals in Afghanistan. Die ganz aktuellen grossen Krisen aber deckt der Präsident ab. Peter Maurer ist gerade aus dem Irak zurückgekommen und er ist auch häufig in Syrien.

Ihre Aufgaben dürften auch belastend sein. Afghanistan etwa ist ja eine hoffnungslose Geschichte.
Afghanistan ist ein sehr faszinierendes Land. Es ist sehr einnehmend, und wenn man erst mal das Vertrauen der Menschen gewonnen hat, sind sie sehr verlässlich. Aber die Lage ist ein Drama. Nun ist die internationale Koalition grösstenteils weg, und die Situation wird sondern täglich schlechter. Sie ist gefährlicher als noch vor zwei Jahren, und neu kommt der Einfluss des islamischen Staates hinzu. Natürlich bedrückt mich das. Aber wir können wenigstens etwas beitragen, um zu helfen.

Kennen Sie denn keine Resignation?  
Je besser man die Situation kennt, desto schlechter kann man eine resignative Haltung einnehmen. Denn dann kennt man die Menschen persönlich, bringt Gesichter mit dem Land in Verbindung und sieht, dass es Menschen gibt, die an Lösungen arbeiten. Hinzu kommt: Die Welt ist so klein geworden, dass uns Afghanistan etwas angehen muss. Die Migrationsströme in den letzten beiden Jahren bestanden auf der Balkanroute zu einem Drittel aus Menschen aus Afghanistan.

Wie sähe aus Ihrer Sicht eine mögliche Lösung für Afghanistan aus?
Es wäre völlig vermessen, wenn ich eine Lösung präsentieren würde. Niemand hat diese. Es ist eine hochkomplexe Situation, zumal das Land im Spannungsfeld zwischen Indien und Pakistan liegt. So lange dieses besteht, wird Afghanistan dazwischen aufgerieben. Ob die Lösung von aussen kommen kann, ist schwer zu sagen. Wahrscheinlich ist, dass die umliegenden Länder Einfluss nehmen – Russland, China und der Iran.

Das IKRK wird zu einem guten Teil von den USA finanziert. Nun werden die USA mit Donald Trump einen Präsidenten haben, der sich offenbar um die internationale Verantwortung und die Führungsrolle des Westens foutiert und ohnehin nicht einen sehr humanistischen Eindruck macht. Welche Auswirkungen wird dies auf das IKRK haben?
Die USA sind in der Tat der grösste Geldgeber. Sie zahlen 450 Millionen Dollar an das Budget von 1,8 Milliarden – die nächstgrössten Geldgeber sind Grossbritannien und die Schweiz. Wir sind also stark «okzidental» finanziert, haben aber 60 Prozent unserer Einsätze in muslimischen Ländern. Wir versuchen, die Finanzierung breiter abzustützen. Die USA sind einerseits Donator, anderseits Gesprächspartner in den Konfliktregionen. Diese Ebenen sind bislang nie vermischt worden,weder unter republikanischen noch demokratischen Regierungen. Die USA haben auch nie versucht, Druck auszuüben, obwohl wir harte Diskussionen hatten – Stichworte Guantànamo oder Abu Ghraib. Wir gehen davon aus, dass dies auch in Zukunft so möglich ist. Aber wir wissen auch nicht, was mit der neuen Regierung auf uns zukommt.

Können Sie bei China und Russland überhaupt Verständnis wecken für die Vision des IKRK?
Die Möglichkeiten sind gestiegen, seit China und Russland aussenpolitisch aktiver sind. China beispielsweise hat grosse Interessen in Afrika, und wir konnten auch schon zur Befreiung chinesischer Geiseln in Afrika beitragen. So kommt man ins Gespräch, und die Regierung sieht, dass wir in der Lage sind, Leistungen zu erbringen, die für China von Interesse sind.

Chinas Politik leitet sich also von den eigenen Interessen ab.
Alle Staaten sind interessengeleitet. Wir halten uns aus der Politik raus. Wir sind neutral, unparteiisch, unabhängig und rein humanitär, das gilt auch im Umgang mit Konfliktparteien. Wir halten den Kontakt mit allen Parteien, um helfen zu können. Das hat man letzten Monat in Aleppo gesehen, als wir 50000 Menschen evakuieren konnten.

Fällt einem diese neutrale Haltung nicht manchmal schwer? In Aleppo war ja offensichtlich, wer die Stadt bombardiert hat.
Ein IKRK-Delegierter hat natürlich immer eine persönliche Meinung. Aber er muss diese für sich behalten können, darf sie nicht gegen aussen tragen und muss in seiner Arbeit dem Mandat folgen. In Aleppo haben wir mit der Schweizerin Marianne Gasser eine wunderbare Delegationsleiterin. Ich habe grosse Achtung, wie sie es schafft, gegenüber allen Seiten eine konsequente Haltung zu vertreten, aber auch stets gesprächsbereit zu sein.


Auf welchem Weg sehen Sie Europa in näherer Zukunft? Unter dem Eindruck von Terrorismus, Identitätssuche und Migration erstarken die nationalistischen Kräfte.
Wir haben in Europa den Eindruck, Migration sei erst seit 2015 aktuell. Dabei ist sie seit Jahren ein sehr grosses Thema weltweit. Es gibt 60 Millionen Gewaltflüchtlinge, davon sind 40 Millionen innerhalb ihrer eigenen Länder auf der Flucht. Wenn man die Million, die nach Europa gekommen ist, ins Verhältnis setzt mit der Wohnbevölkerung in Europa, dann liegt das Problem in der Unfähigkeit Europas, damit umzugehen. Dass man es nicht geschafft hat, die Menschen relativ zur Wohnbevölkerung auf die einzelnen Länder zu verteilen, ist ein Armutszeugnis. Es hat auch dazu geführt, dass man diese Frage bewirtschaften und mit ihr Politik machen kann. Es besteht die Gefahr, dass jene Kräfte, die Probleme bewirtschaften statt Lösungen aufzuzeigen, weiteren Erfolg haben werden.

Europa droht in der Entwicklung um Jahrzehnte zurückzufallen.
Ja. Mir machen die anstehenden Wahlen durchaus Sorgen. Wenn die nationalistischen Kräfte gewinnen, hat Europa ein grosses Problem.

Hat das auch damit zu tun, dass nun die letzten Menschen aussterben, die den zweiten Weltkrieg noch erlebt haben – dass die Kriegserfahrung aus der Lebenswirklichkeit der Menschen verschwindet?
Es mangelt uns grundsätzlich an historischem Bewusstsein, überall. Die Geschichte mag sich zwar nicht direkt wiederholen, doch der Mensch fällt offenbar immer wieder in ähnliche Muster zurück. Hinzu kommt, dass wir unseren Medienkonsum zunehmend so ausrichten, dass wir nur noch wahrnehmen, was der eigenen Meinung entspricht. Das halte ich für eine grosse Gefahr.

Begünstigt diese Entwicklung die Tendenz zum Autoritarismus?
Wenn man nicht mehr auf andere zugeht und sich nur noch in seiner eigenen Meinung bestärken lässt, ist man leichter manipulierbar. Wer noch eine Tageszeitung liest, kriegt immerhin noch Themen mit, die er reflektieren muss.

Kann man vom jetzigen Zeitpunkt aus denn überhaupt optimistisch sein für das 21. Jahrhundert?
Als liberaler Mensch habe ich grundsätzlich eine positive Einstellung gegenüber der Wandlungsfähigkeit des Menschen und seinem Bestreben, eine bessere Welt zu schaffen. Darin werde ich gerade in meinen Feldbesuchen bestärkt, wenn ich die jungen Leute vor Ort im Südsudan, in Palästina oder Afghanistan sehe, aber auch jene, die in unserer Institution arbeiten. Es wäre defätistisch zu sagen, im Moment habe eben das Böse die Überhand.

Ein Kernanliegen des IKRK ist die Wahrung der Würde des Menschen. Hat der Begriff der Würde heute überhaupt noch Gewicht? Die USA haben einen Präsidenten, der Behinderte veräppelt, Russland bombardiert Zivilisten, in der muslimischen Welt bestehen teils ganz andere Wertvorstellungen.
Wir müssen immer wieder darauf hinarbeiten, dass die Würde des Menschen geachtet wird. Wir tun das etwa mit unseren Besuchen bei mehr als 400000 Gefangenen in über 2500 Gefängnissen weltweit jährlich. Nun kann man sagen, dies sei ein Tropfen auf den heissen Stein, die Bedingungen der Gefangenen verbessern sich oft nicht. Aber schon Nelson Mandela hat gesagt: Das IKRK ist nicht nur wichtig, weil es Gutes tut, sondern auch deshalb, weil es Böses verhindert. Im breiten Bild heisst das: Es war auf der Welt nie einfach. Doch im Endeffekt kommt es häufig zum Sieg der Freiheit.

Länder wie Polen und Ungarn haben ihre neu gewonnene Freiheit gerade mal 25 Jahre genossen und drohen nun in den Autoritarismus zurückzufallen.
Das ist in der Tat sehr enttäuschend. Doch es gibt auch dort eine grosse Opposition, in die ich meine Hoffnungen setze – das gilt auch für die USA, wo übrigens eine Mehrheit nicht Trump gewählt hat.

In der Schweiz will eine Regierungspartei das Land zum Teil vom internationalen Rechtssystem abkoppeln. Ist auch die Schweiz nicht gefeit vor autoritären Tendenzen?
Eine Annahme der «Selbstbestimmungsinitiative» wäre verheerend, gerade aus Sicht des humanitären Völkerrechts, das wir als IKRK von der Schweiz aus in die Welt tragen. Das Völkerrecht schützt im Übrigen gerade die kleinen Länder – die grossen Mächte können sich mit Macht durchsetzen. Ich habe überhaupt kein Verständnis für Bestrebungen in der Schweiz, die sich gegen das Völkerrecht richten.

Sie haben das offizielle Pensionsalter im IKRK bereits überschritten. Wie lange sind Sie noch Vizepräsidentin?
Noch dieses Jahr. Ich bin zuletzt noch einmal für zwei Jahre gewählt worden und habe dann zehn Jahre in dieser Funktion verbracht.

Haben Sie noch ein spezielles Ziel für dieses letzte Jahr?
Ich will an den bestehenden Projekten mit voller Kraft weiterarbeiten. Und ich möchte noch einmal nach Afghanistan gehen.

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