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Medizin

«Wir werden nach der Krise anders über Spitalschliessungen reden»

Gesundheitsökonom Willy Oggier sagt, welche Schwächen im System das Coronavirus zu Tage fördert. Den Vorwurf, das Schweizer Gesundheitswesen sei kaputtgespart worden, weist er zurück. Das Geld sei eher am falschen Ort investiert worden.

Eine Spitalangestellte bei einer Übung: Hat man im Gesundheitswesen die grossen Risiken ignoriert? Bild: Andrea Zahler
  • Dossier

Interview: Jacqueline Büchi

Willy Oggier, das Coronavirus ist ein Stresstest für unser Gesundheitswesen. Wie schneidet es ab?

Willy Oggier: Die Schweiz hat grundsätzlich ein hervorragendes Gesundheitssystem. Dennoch offenbaren sich in dieser Krise Schwächen und Versäumnisse.

Woran denken Sie?

Als fatal erweisen sich die Intransparenz und die fehlende Digitalisierung. Wenn Ärzte Corona-Fälle im Jahr 2020 per Fax melden müssen, mutet das nicht nur anachronistisch an. Es ist geradezu verheerend, wenn die Zahlen dadurch unvollständig oder mit Verzug beim Bund eintreffen. Denn: Falsche Daten führen zu falschen Entscheiden.

Warum macht die Schweiz hier so eine schlechte Figur?

Andere Länder können Daten aus allen Regionen matchen und die Szenarien laufend ajustieren. In unserem Gesundheitswesen hingegen herrscht eine Kultur der Intransparenz. Das hat damit zu tun, dass manche Menschen gutes Geld mit dieser Situation verdienen. Aber auch mit den vielen Partikularinteressen und mit dem Föderalismus. Dadurch verzögert sich etwa die Einführung eines elektronischen Patientendossiers weiter.

Die dringendste Frage ist aber eine andere: Hat es genug Betten und Beatmungsgeräte? Wie kann das sein in unserem reichen Land?

Fakt ist, dass manche Kantone es versäumt haben, die nötigen Kapazitäten zu schaffen – obwohl sie längst um die Mängel wussten. Hier wird sich die Frage der Verantwortlichkeit stellen.

Die These des Schriftstellers Lukas Bärfuss ist: Man hat das Gesundheitssystem kaputt gespart. Es werde unnötig viele Tote geben, die nicht am Virus sterben, sondern «am allgegenwärtigen Geiz». Einverstanden?

Verschiedene europäische Staaten haben als Folge der Finanzkrise das Gesundheitswesen kaputtgespart. Dies gilt insbesondere für Italien und Spanien. Für die Schweiz kann davon keine Rede sein. Der Vorwurf ist eher, dass wir das viele Geld falsch eingesetzt und vergessen haben, dass Staat und Sozialversicherungen nicht Komplementärmedizin, sondern vor allem Grossrisiken gut abdecken sollten.

In vielen Regionen sollen Spitäler geschlossen werden. Ist das der richtige Weg?

Ich gehe davon aus, dass über Spitalschliessungen zumindest anders diskutiert wird nach dieser Krise. Man wird wohl etwas von der fixen Idee grosser Beratungsfirmen wegkommen, möglichst konzentrieren zu wollen. Um eine gute Versorgung gewährleisten zu können, müssen wir fluider werden. Das heisst: viele Leistungen ambulant erbringen, aber uns so einrichten, dass wir die stationären Plätze in Krisenzeiten schnell hochfahren können. In Frauenfeld ist man derzeit etwa froh darum, dass man ein ausgedientes Bettenhaus noch nicht abgerissen hat und es nun als Corona-Station benutzen kann.

Wie stellen wir sicher, dass wir in der nächsten Krise genügend Masken, Tests, Medikamente und Beatmungsgeräte haben?

Ich gehe davon aus, dass man sich überlegen wird, Schutzmasken und Beatmungsgeräte in Zukunft vermehrt im eigenen Land zu produzieren. Und dass auch die Pflichtlager-Diskussion neu geführt wird. Daneben muss es auch ein Kraftspiel mit der Pharmaindustrie geben: Sie rechtfertigt ihre Preise jeweils mit den hohen Produktionskosten in der Schweiz. Nun zeigt sich, dass vieles ohnehin in China hergestellt wird, und dass es darum Engpässe gibt. Jetzt müssen die Preise runter oder Produktionsverpflichtungen in der Schweiz her.

Befürchtet wird auch ein Personalmangel. Rächt es sich, dass wir zu wenig Ärztinnen und Pfleger ausbilden?

Mehr Personal auszubilden allein bringt nichts. Wir verlieren viele ausgebildete Fachleute an andere Branchen, zum Beispiel an die Pharmaindustrie. Gesundheitsberufe müssen zwingend mehr Wertschätzung erfahren, damit weniger Leute abwandern.

In Form von höheren Löhnen?

Da bin ich ambivalent. Bei den Ärzten verdienen heute einzelne Spezialisten – etwa in der Chirurgie – sehr gut, teilweise wohl auch zu gut, während Virologen wohl nicht die Wertschätzung erhalten, die ihnen zustehen würde. Das gilt es zu korrigieren. Auch muss es sich lohnen, als Pflegerin oder Laborant zu arbeiten. Werden die Löhne aber pauschal erhöht, besteht die Gefahr, dass Leute ihr Pensum reduzieren, was den Mangel verschärft.

Können Sie abschätzen, wie sich die Corona-Pandemie auf die Krankenkassen-Prämien auswirken wird?

Es ist nicht seriös, wenn jetzt schon von einer Kostenbombe gewarnt wird. Das hängt davon ab, wie viele Corona-Patienten tatsächlich hospitalisiert werden müssen und wie viele Intensivpflege brauchen beziehungsweise wie viele bisherige Leistungen nicht mehr erbracht werden können. Manche Kliniken, die jetzt Corona-Patienten übernehmen, wissen noch nicht einmal genau, was sie überhaupt in Rechnung stellen dürfen.

Was ist konkret unklar?

Nehmen Sie zum Beispiel die Rehabilitationskliniken, die jetzt Corona-Patienten übernehmen. Sie erbringen Leistungen, für die sie keinen Leistungsauftrag haben. Es ist oft unklar, zu welchen Tarifen sie diese Patienten pflegen sollen. Wenn das nicht sauber definiert wird, besteht die Gefahr, dass die Krankenkassen nicht alles zahlen. Das hätte zur Folge, dass Patienten auf Kosten sitzen blieben oder die Kantone in die Bresche springen müssten.

Hat die aktuelle Situation auch Einfluss auf die Diskussion, wie der Kostenanstieg im Gesundheitswesen gedämpft werden soll?

Ich erwarte, dass es in Solidaritätsfragen zu einer Neubeurteilung kommen wird. Abbauschritte werden es schwieriger haben. Die jüngere Generation merkt das erste Mal, welch wichtige Errungenschaft unser Sozialstaat ist. Das trifft nota bene auch auf Wirtschaftsvertreter zu, die plötzlich den Wert der obligatorischen Arbeitslosenversicherung zu schätzen lernen.

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