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Adrenalin pur für Naturliebhaber

Wenn andere sich in Schal und Mantel hüllen, gehen sie im Bielersee schwimmen. Winterbader sind abgehärtet.Doch der Kälteschock erzeugt auch Serotonin, ein Hormon, das glücklich macht. Und nichts kostet, ausser Überwindung.

Thomas Lüthi ist auch im Winter am liebsten draussen in der Natur. Am Winterbaden schätzt er das euphorische Gefühl danach. Bild: Peter Samuel Jaggi

Nandita Boger

Dunkelgrün liegt das Wasser zwei Meter unter der Quaimauer. Eine schmale Eisenleiter führt hinab. Das Thermometer zeigt minus drei Grad, Raureif überzieht das Geländer. Zuerst fällt die dicke Skijacke, danach der Pulli und dann die restlichen Hüllen, bis Thomas Lüthi (29) nur noch mit der Badehose bekleidet dasteht. Probehalber greift er an die Metallstange der Leiter – bleiben die Hände kleben, wenn sie nass sind? Nein. Also gut. Sprosse für Sprosse steigt er hinab, bis das Wasser ihm bis zum Hals reicht.

Extremerfahrung zu dritt
Ein Jahr früher, an der gleichen Stelle: Es herrscht Nieselregen, ein Sturmwind bläst und versetzt das Wasser in starke Wellen. Zu dritt stehen sie am Ufer, schauen einander an. «Wir tun es», beschliessen sie. Ursi* schält sich aus den Kleidern, gibt sie Thom zum Halten, Luc* steht mit dem Badetuch daneben bereit. Sie klettert Stufe für Stufe hinunter, Eisregen prasselt auf sie ein. Die Wellen klatschen   egen die Quaimauer. Sie stösst sich mit den Füssen von der Leiter ab, hält sich mit den Händen.

Die Wellen ziehen an ihr. Sie sucht nach Halt und klettert sofort wieder hoch. Oben ergreift sie das entgegengestreckte Badetuch. Abtrocknen und in die Kleider schlüpfen sind eins, während Thom sich bereits auszieht. Luc hält seine Kleider, Ursi sein Badetuch. Ohne zu zögern greift Thom nach der Leiter, steigt hinab in die eisige Wassermasse. Die Wellen zerren an seinen Beinen, als er untertaucht.

Panisch hält er die Leiter fest, zieht sich zurück auf die unterste Sprosse, klettert hinauf zu den wartenden Freunden. Badetuch, abtrocknen, anziehen. Und schon ist Luc unterwegs nach unten. Bloss nicht abrutschen, bloss nicht loslassen. Eintauchen. Raufklettern. Und das entgegengestreckte Badetuch wie einen rettenden Anker ergreifen. Abtrocknen. Anziehen. – Als alle drei wieder sicher an Land sind, lachen sie los wie verrückt.

Ein scheues Völkchen
Heute ist das Wasser spiegelglatt.  Lüthi lässt die Leiter los, schwebt einige Sekunden im Wasser, dann steigt er wieder nach oben. Warum tut er das? «Es ist das Gefühl danach», sagt er.

Der Körper reagiert beim Eintauchen in eiskaltes Wasser wie bei einem Schock. Er schüttet Adrenalin und Stresshormone aus, aber auch Endorphine. Somit entsteht nach dem Baden ein euphorisches Gefühl. Am Eisschwimmen schätzt Lüthi, dass er dadurch den ganzen Tag ein gutes Gefühl habe. «Auch die Arbeit macht mehr Spass, wenn ich vorher baden war.» Er geht mit einer Gruppe, die sich seit Studentenzeiten kennt, von Oktober bis März einmal wöchentlich im Bielersee baden. Sie seien alle auch bei Kälte gerne draussen, sagt er.

Die Winterschwimmer vom Bielersee sprechen nicht gerne darüber. Viele wissen von Jemandem, der winters ins Wasser steigt, kennen aber deren Name nicht. Im Gegensatz zur Gfrörli-Gruppe der Aareschwimmer, die gerne in den Medien auftreten, bleiben Seeländer Eisbader lieber anonym. Doch nebst Lüthi haben sich auch einige andere bereit erklärt, über ihr Winterschwimmen und die Gründe dafür zu reden.

Baden ist nicht Schwimmen
Eine dieser Auskunftswilligen ist Isabelle Clerc (56) aus Ligerz. Zwei- bis dreimal wöchentlich gehen sie und ihr Mann zum Schwimmen. Sie bleibt immer fünf bis sechs Minuten im eisigen Nass und gehört damit zu den «Langschwimmern», im Gegensatz zu den Eisbadern, die nur kurz eintauchen.

Für sie macht die Überwindung der inneren Widerstände den Reiz aus. Sie kenne den Schock beim Hineingehen, kenne die Panik, wenn beinahe die Atmung aussetzt und kenne den körperlichen Schmerz, der durch die Kälte entsteht. «Das ist ja nichts Schönes», sagt sie. Trotzdem ins Wasser zu gehen, zu schwimmen und die Schmerzen auszuhalten, das sei die Herausforderung, die zu meistern ihr Befriedigung verschaffe. Die Euphorie nach dem Baden möchte sie nicht mehr missen.

Ganz anders dagegen Anna Ryhiner. Die 76-jährige wohnt zwar ebenfalls in Ligerz. Aber sie gehe nur ins Wasser, weil ihr das so leicht fällt. «Es macht mir einfach nichts aus», sagt sie. Wenn sie sich dazu überwinden müsste, würde sie es sein lassen. Sie geht bei jedem Wetter in den See, besonders bei Regen sei es schön. «Das sieht dann aus, als würden die Tropfen aus dem Wasser nach oben springen», findet sie. Nach einer Schulterverletzung sei sie regelmässig im See zum Schwimmen gegangen. Dann habe sie im Herbst einfach nicht damit aufhören können, sagt sie, und untermauert damit, was alle Eisbader raten: sich langsam daran gewöhnen. Wenn das Wasser jede Woche zwei Grad kälter sei, merke man den Unterschied gar nicht so sehr.

Claudia Hueller (41) aus Port hingegen badet nur einmal im Jahr im Winterwasser. Das sei ein Gag, sagt sie. Eine Gruppe von Freunden treffe sich immer am 31. Dezember im Hafen von Ipsach. «Die Regel ist, dass man bis zum Halszäpfchen eintaucht», sagt sie. Das Aufwärmen mit Glühwein gehöre zum Ritual dazu. Vollkommen unvorbereitet sollte man jedoch nicht ins eiskalte Wasser springen, es könnte Krämpfe oder Kreislaufprobleme auslösen.

Abhärten durch Kälte
Ruth Kretschmer (74) aus Biel geht seit Jahrzehnten regelmässig jeden Tag schwimmen. 30 Züge hinaus und wieder zurück. Das schaffe sie auch noch bei fünf Grad Wassertemperatur, sagt sie. Sie sei als Gymnastiklehrerin im Winter oft von ihren Schülern «angehustet» worden, erinnert sie sich. Als Selbstständigerwerbende konnte sie es sich nicht erlauben, krank zu werden, und härtete sich auf diese Weise ab.

Viele Eisbader glauben, dass sie durch die körperliche Abhärtung im Winter weniger oft krank werden. Wissenschaftlich beweisen lässt sich dieser Zusammenhang nicht. Das Immunsystem sei zu komplex, um direkte Auswirkungen festzustellen, sagt Monique Vogel. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Immunologie Forschung am Inselspital. Normalerweise könne das Immunsystem nur durch Aufnehmen von Substanzen beeinflusst werden, wie zum Beispiel Infektionen oder Impfungen, sagt sie.

Es sei aber nicht ausgeschlossen, dass die Kälte Reaktionen im Körper hervorrufe, welche die Bildung von Protein-Faktoren und damit das Immunsystem beeinflussen. Kälte wirke – zumindest vorübergehend – generell entzündungshemmend, sagt Vogel.

* Namen der Redaktion bekannt.

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Tipps für’s Eisschwimmen
- Mit dem Hausarzt abklären, ob Schwimmen in sehr kaltem Wasser mit der persönlichen Konstitution vereinbar ist.
- Zum Angewöhnen zuhause regelmässig kalt duschen, oder Wechselduschen nehmen.
- Am Ende der Badesaison nicht mit Schwimmen aufhören. So gewöhnt sich der Körper unmerklich an das kältere Wasser.
- Regelmässig ein bis drei Mal pro Woche ins Wasser gehen.
- Für eine maximale Wirkung sollte man Winterbaden ohne längere Unterbrüche ausüben.
- Höchstens so viele Minuten im Wasser bleiben, wie das Wasser warm ist. Zum Beipspiel bei vier Grad Wassertemperatur vier Minuten baden.
- Nicht alleine schwimmen gehen. nan

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