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Büren

Als der rote Hahn die Brücke zerstörte

Heute vor 30 Jahren ist die Brücke von Büren abgebrannt. Das sorgte schweizweit für Schlagzeilen, auch weil es Brandstiftung war. Zeitzeugen erinnern sich an die beängstigende Nacht.

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Lotti Teuscher

Wenn im Mittelalter der rote Hahn über die Dächer kletterte, dann erschollen alsbald die Sturmglocken, und jeder Mann, der gehen und stehen konnte, hatte die Pflicht zur unbedingten Hilfeleistung, wenn nötig mit Einsatz des eigenen Lebens; die Wehrpflicht gegen das Feuer war der Wehrpflicht gegen einen äusseren Feind völlig gleichgestellt. Helvetische Annalen

Am 5. April klettert der rote Hahn über die 167 Jahre alte Holzbrücke in Büren. Flammen schiessen aus dem alten Gebälk, spiegeln sich feuerrot in der Aare. Es riecht beissend, Rauchschwaden, schwarz wie der Nachthimmel, steigen auf, Funken stieben, Flammen prasseln. Die Glocken läuten, sie verkünden statt Frieden Unheil. Sie schrecken die Bewohner um vier Uhr morgens aus dem Schlaf.

Das Haus von Margreth und Rudolf Ramseyer ist knapp 20 Meter von der Brücke entfernt, es ist das ehemalige Zollhaus. Gegen 23 Uhr geht Margreth Ramseyer zu Bett, sie hat einen guten Schlaf. Plötzlich schreckt sie auf, mit dem Gefühl, dass etwas seltsam sei, anders als sonst – die Fassade des Nachbarhauses ist ungewöhnlich hell.

Die Bürenerin steht auf, sie schaut aus dem Fenster, sie fröstelt. Aus dem Eingang der Holzbrücke schiessen Flammen! Wie gelähmt bleibt Margreth Ramseyer am Fenster stehen. Blitzschnell, «als wäre die Brücke aus Zunder», erfassen die Flammen die ganze Brücke. Die alten Balken, trocken und spröde, sind ein leichtes Opfer für den gefrässigen roten Hahn.

In der infernalischen Hitze zerspringen die Ziegel des Dachs. Es knallt so laut, dass das Zischen der brennenden Balken übertönt wird, die in die Aare fallen. Über den Fluss verstreut schwimmen Feuer, das Holz der Brücke brennt im Wasser weiter. Die Glocken läuten jetzt Alarm. Margreth Ramseyer will telefonieren, die Leitung ist tot. «Was ist los? Was passiert jetzt?» Fragen, die die Bürenerin in diesem Moment nicht beantworten kann. Sie hat Angst. Sie fühlt Trauer und Ohnmacht angesichts der lichterloh brennenden Brücke.

Bis heute dankbar
Die Männer der Feuerwehren Büren, Pieterlen, Lengnau, Grenchen und Biel sind zwar rasch zur Stelle, doch wegen ihrer Hilflosigkeit scheint es für Margreth Ramseyer eine Ewigkeit zu dauern. Die Feuerwehrmänner dringen auf die brennende Brücke vor. Für die Frau am Fenster wirkt dies, als würden sie vom Feuer verschluckt. Sie fürchtet um das Leben der Männer. Bis heute ist sie ihnen dankbar: «Sie haben uns beschützt, dafür haben sie ihr Leben riskiert.»

Direkt neben der Brücke steht ein historisches Haus mit drei Balkonen aus Holz. Hätte am 5. April ein starker Wind in ihre Richtung geweht, wären auch die Balkone in Flammen aufgegangen. Auf wie viele Altstadthäuser das Inferno übergegriffen hätte, wie viele Opfer das Feuer in diesem Fall gefordert hätte, bleibt zum Glück offen.

Das Feuer rechtzeitig zu löschen und die historische Brücke zu retten, gelingt indes nicht. Der Morgen kündigt sich an, noch immer glimmen die Reste der Brücke, steigen Rauchschwaden auf.

Tränen in den Augen
Zurück bleibt ein verkohltes Gerippe, 108 Meter lang. Sachschaden: zwei Millionen Franken. Auf der Aare-Mauer sitzen ältere Bürener mit Blick auf die Reste ihrer Brücke – sie haben Tränen in den Augen.

Später treffen Züge voller Katastrophentouristen am Bahnhof Büren ein. Schaulustige mit Familie und Fotoapparat.

Gemeinderat, Statthalter, Polizei und Armee reagieren schnell. Am dringendsten ist das Aufrechterhalten des Verkehrs. Um 18 Uhr gleichentags sind gelbe Flugblätter mit Anweisungen an alle Verkehrsteilnehmer gedruckt und werden an die Bevölkerung verteilt: Für Fussgänger wird ein Fährbetrieb über die Aare eingerichtet. Für Velo- und Töfffahrer wird in kurzer Zeit eine Notbrücke erstellt. Für Autofahrer wird eine Umleitung signalisiert, bis die Armee eine Militärbrücke gebaut hat.

Schock, Trauer, Betroffenheit allenthalben – nicht nur in Büren, der Brand macht schweizweit Schlagzeilen auf den Titelseiten der Zeitungen. Im Raum steht die Frage: Wer war das?

Dass es Brandstiftung war, steht ausser Zweifel. Bei der Brücke werden zwei Stosskarretten gefunden, die eine Marke Eigenbau: Die Räder stammen von einem Kinderdreirad. Damit wurde der Brandbeschleuniger zur Brücke transportiert – wer kennt diese Transportmittel? Der Fahndungsaufruf bleibt ohne Erfolg. Potenzielle Zeugen haben geschlafen. Allerdings macht ein Gerücht die Runde, ein Verdacht.

Racheakt der Béliers?
Rückblende ins Jahr 1987, es ist der 14. November. Auf die Brücke in Büren wird ein erster Brandanschlag verübt, der Brand kann gelöscht werden. Anders als beim Brückenbrand zwei Jahre später zirkuliert ein Bekennerbrief. Absender: Die «jurassische Befreiungsfront», auch Separatisten oder Béliers genannt.

Als Grund für den Anschlag nennen die Separatisten Rache für den «Justitia-Prozess»: Beim Prozess ging es um die Zerstörung der Justitia, die historische Figur, die den Berner Gerechtigkeitsbrunnen zierte. Ein 29-jähriger Bélier wird wegen Sachbeschädigung zu 22 Monaten Zuchthaus und einer Schadenszahlung von 170 000 Franken verurteilt.

Die Zerstörung der Justitia war nicht der einzige Terrorakt während dieser Zeit: Um das Jahr 1985 gab es wegen des Jurakonflikts eine regelrechte Anschlagswelle.

Täter nie verhaftet
Der Animator der Jugendbewegung Béliers, Jean-Luc Juillerat, distanziert sich vom zweiten Brandanschlag am 5. April mit folgenden Worten: «Wir unterstützen die Tat in keiner Weise.» Weil für viele Bürener klar scheint, dass die pro Jurassier für den Anschlag verantwortlich sind, mahnt die Polizei zur Vorsicht im Umgang mit diesem Gerücht. Zwar ist ein Brief verschickt worden, allerdings ohne Absender. Im Brief steckt ein Artikel über den «Justitia-Prozess», drauf steht in Handschrift: «Vengeance à Büren» – Rache in Büren.
Bis heute weiss die Öffentlichkeit nicht, wer die Täter sind. Dies wissen nur die Täter selbst und möglicherweise ihr Umfeld.

Der Bürener Ulrich Gribi hat einen dicken Ordner vor sich auf den Tisch gelegt; darin sind zahlreiche Dokumente und Zeitungsartikel zum Brückenbrand. Gribi wohnt 600 Meter Luftlinie von der Brücke entfernt. In der Nacht vor 30 Jahren wecken ihn Notgeläut aus dem Kirchenturm und Sirenengeheul.

Gribi geht auf den Balkon, er sieht ein Feuermeer, der Nachthimmel schimmert rot. Er bekommt Angst, er befürchtet, dass Büren brennt: «Ich lebe für das Stedtli. Für mich ist es ein wertvolles Kulturgut, viele Jahrhunderte alt.» Ulrich Gribi zieht seine Uniform an, er ist bei der freiwilligen Feuerwehr, eingeteilt in den Verkehrsdienst. Er läuft in Richtung Stedtli, bald bemerkt er, dass nicht Häuser, sondern die Brücke brennt. Der wenige Verkehr ist bereits gelenkt, es braucht keine weiteren Leute für den Verkehrsdienst. Der passionierte Fotograf holt seinen Fotoapparat.

Er drückt ab, dutzende, eher hunderte Male. Während der ganzen Nacht, im Morgengrauen, am nächsten Tag – Ulrich Gribi schafft ein Zeitdokument: «Ich realisierte, dass ich Zeuge wurde eines grossen, traurigen Ereignisses, das in der ganzen Schweiz für Empörung sorgen würde.»

Auf Rache verzichtet
Der Bürener erzählt, wie sehr ihn der Brandanschlag auf die historische Brücke schockiert hat. Er sagt, dass eine solche Tat in der friedlichen Schweiz eigentlich unvorstellbar sei: «Zum Glück sind die Schweizer besonnene Leute und verzichteten auf einen Racheakt.» In einem anderen, weniger friedlichen Land, spekuliert Gribi, würde eine solche Tat zu Rache führen.

Die Brücke besteht nur noch als Gerippe, repariert werden kann sie nicht. Büren braucht eine neue Brücke. Bereits am 19. April beschliesst der Regierungsrat, eine Holzbrücke zu errichten. Was zu Kontroversen führt: Soll tatsächlich mit moderner Technologie eine Kopie der alten Brücke gebaut werden? Wäre dies nicht Kitsch? Wäre es nicht interessanter, mit einer modernen Brücke einen Brückenschlag in die heutige Zeit zu machen? Und soll die neue Brücke drei, vier oder fünf Pfeiler haben?

Fünf Millionen Franken hat die neugebaute Holzbrücke schliesslich gekostet. Eingeweiht wurde sie am 8. August 1991 mit einem viertägigen Fest. Trotz des sorgfältigen Baus wirkte sie anfangs wie ein Fremdkörper vor der Altstadt von Büren. Die neuen Holzbalken waren gelb, die Ziegel rosarot.

Und heute, 30 Jahre später?
Die Brücke hat Patina angenommen. Das Holz ist silbergrau verwittert, die Ziegel sind teils mit grünlichem Moos überzogen. Drei Jahrzehnte nach dem Brand passt die Brücke wieder perfekt ins Ortsbild. Die Aare fliesst ruhig zwischen den vier Brückenpfeilern hindurch.
Es wirkt, als hätte es den Brandanschlag nie gegeben.

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Die Brücke 
mit den neun Leben
Im Jahr 1275 wurde die erste Brücke bei Büren über die Aare gebaut. Seither ist sie neun Mal zerstört und wieder aufgebaut worden.

Bis zur Ersten Juragewässerkorrektion war die Brücke in Büren der einzige Aare-Übergang zwischen Aarberg und Solothurn. Das Städtchen profitierte von den Zolleinnahmen und entwickelte sich wirtschaftlich, weil es am Weg einer Transitstrasse lag. Die erste Brücke wurde im Jahr 1275 erbaut. Im Jahr 1491 riss ein Hochwasser die Brücke weg; insgesamt wurden bis zu diesem Jahr vier Brücken durch Hochwasserkatastrophen oder Brände zerstört.

Erst im Jahr 1555 wurde die Brücke neu gebaut. Sie hielt indes nur 27 Jahre lang: 1582 brannte die Brücke ab. Die Neue hielt bis ins Jahr 1725; mangels Reparaturen war die Brücke dann baufällig und brach zusammen. Zur Überbrückung verkehrte bis ins Jahr 1731 ein Fährschiff aus dem Meienried.

Zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert setzte die Kleine Eiszeit der Brücke zu: Im Winter fror die Aare zu. Wenn das Eis taute, rammten Eisschollen die Brückenpfeiler und liessen sie irgendwann einstürzen. Im Jahr 1797 wurde eine weitere Brücke feierlich eingeweiht. Nur ein Jahr später wurde sie angezündet, und zwar mit Absicht – von den Besitzern, den Bernern.

Was war geschehen?

Im März 1798 griffen die Franzosen an. Um den Feind am Überqueren der Brücke zu hindern und das Stedtli zu schützen, schoben die Berner Heufuder auf die Brücke, und zündeten sie an. Nicht nur die Brücke brannte ab, auch fünf Häuser in Büren fielen dem Brand zum Opfer. Die Franzosen wichen auf die Steinbrücke in Solothurn aus, und kehrten auf der anderen Flussseite nach Büren zurück.

Die Berner Obrigkeit verlor während des Franzoseneinfalls einen grossen Teil ihres Vermögens, sie wurde ausgeplündert. Erst im Jahr 1822 reichte das Geld, um in Büren eine neue Holzbrücke zu bauen. Diese hielt bis ins Jahr 1989; vor 30 Jahren fiel sie einem Brandanschlag zum Opfer. Heute führt somit die neunte Brücke bei Büren über die Aare. LT

 

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