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Tiergeschichten

Als Lückenbüsser zum Bartgeier-Glück

Tiergeschichten stellen zuweilen eigene Weichen: Nach einer eindrücklichen Erstbegegnung widmet Hansruedi Weyrich seine Freizeit dem Bartgeier – und ist heute bei Auswilderungen unentbehrlich.

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Bernhard Rentsch

Schils, Veronika, Alois – ungewohnte, zum Teil exotische Tiernamen. Der Täuffeler Naturfotograf Hansruedi Weyrich kennt sie trotzdem (fast) alle. Die Augen leuchten, wenn er die Tiere in seinem Buch (siehe Seite 25) sieht. Wie muss das sein, wenn er seinen Tierfavoriten in freier Natur über sich schwebend erkennt?

Als Naturfotograf frönte Hansruedi Weyrich schon seit vielen Jahren seinem Hobby. Er war einheimischen Tieren wie Adler, Steinböcken oder Schneehasen auf der Spur, reiste aber auch nach Alaska zu den Bären. Die Bartgeier-Leidenschaft weckte ein Erlebnis vor etwa zehn Jahren. «Ein Kollege hatte mich damals überredet, mit ihm im Wallis auf fotografische Bartgeier-Pirsch zu gehen. Ohne grosse Erwartungen ging ich mit und freute mich auf einen Tag an der frischen Luft in den Bergen.»

Die Geduldsprobe war dann hart – wie so oft beim Warten auf den richtigen Moment beim Beobachten von Wildtieren. «Lange waren keine Bartgeier in Sicht und wir rechneten schon damit, den Tag ohne Erfolg in Form von schönen Fotos abzuschliessen.» Dann der Wow-Moment: Ein Bartgeier, einen stattlichen Schatten werfend, glitt über die beiden Fotografen. Hansruedi Weyrich blickte in zwei aufmerksam die Gegend absuchende Augen. Und es war um ihn geschehen, das Fieber war da.

Alle Geier sind gute Segler, doch der Bartgeier ist diesbezüglich Spitze. Sein Flugapparat mit einer Flügelspannweite von 260 bis 290 Zentimetern ist bestens für die energiesparende Fortbewegung in der Luft geeignet. Langsam und ohne einen einzigen Flügelschlag gleitet der fünf bis sieben Kilogramm schwere Vogel dahin. Für den Aufstieg nutzt er geschickt die Thermik aus.

Begleiter von Auswilderungen

Weyrich interessierte sich für Tier, Geschichte und Umstände – erste Recherchen weckten Interesse für die Umstände der Ausrottung im Alpenraum zu Beginn des 20. Jahrhunderts und den Wiederansiedlungs-Bemühungen. Er nahm Kontakt auf mit den Fachexperten der Stiftung Pro Bartgeier und stiess auf eine riesige Fachkompetenz und schier grenzenloses Engagement. Glück oder Schicksal kamen dazu: «Ich schlitterte als Lückenbüsser in ein Hobby, das heute einen Grossteil meiner Freizeit bestimmt», so Hansruedi Weyrich, beruflich als Co-Geschäftsinhaber der Bieler Druckerei Ediprim tätig. «Die Stiftung suchte Ersatz für einen verhinderten Fotografen beim Begleiten der Auswilderung.»

Das war 2012 und der Seeländer packte zu. Unvorbereitet und gespannt war er bei der Auswilderung von Jungtieren dabei. Das Erlebnis hatte viele tolle Fotos und einen gewaltigen Muskelkater zur Folge. Und vor allem das Bedürfnis nach einer Wiederholung.

Nach 90 Tagen in die Berge

Die fotografische Arbeit überzeugte und Hansruedi Weyrich gehört seither zum fixen Staff jeder Bartgeier-Auswilderung in der Schweiz – Anfragen aus dem benachbarten Ausland bestätigen das Talent. Er schildert das Ereignis am Beispiel einer Auswilderung in diesem Frühjahr im Detail. Vor dem Tag X werden zwei bis drei rund 90 Tage alte Jungtiere meist aus der Zuchtstation in Spanien in den Natur- und Tierpark Goldau, dem Schweizerischen Kompetenzzentrum, gefahren. Der Begriff Jungtiere täusche etwas, erklärt Weyrich lachend dazu. Denn jung sind sie zwar noch – aber nach rund drei Monaten haben die Vögel die Grösse der Erwachsenen erreicht.

Sie werden genauestens untersucht, ihre Flügel werden individuell ausgebleicht – ein wichtiges Wiedererkennungsmerkmal –, sie werden beringt und letztlich wird ein Sender montiert, der die Tiere nicht stört, der aber ein genaues Nachverfolgen der Flugbewegungen ermöglicht (via Webseite www.bartgeier.ch im Detail zu beobachten). Von jedem ausgewilderten Tier wird in einem Zuchtbuch exakt vermerkt, wie und wo das Leben in Freiheit bestritten wird. Die Statistiken der letzten 30 Jahre zeigen ein eindrückliches Bild vom Lebensraum der Bartgeier: Erwachsene Tiere leben grundsätzlich sesshaft in ihrem Brutgebiet, schweifen allerdings auf der Nahrungssuche weit herum. Mit Sendern markierte Bartgeier beflogen regelmässig eine rund 300 Quadratkilometer grosse Fläche.

Imageanlass vor Publikum

Sehr früh morgens geht dann die Reise der Bartgeier weiter. Eine erste Station ist nach einer Gondelfahrt bei der Bergstation Melchsee-Frutt. Dort wartet bereits eine grosse Fangemeinde auf die in grossen Kisten transportierten Bartgeier. Es ist für die meisten Interessierten die einzige und letzte Gelegenheit, den Vögeln nahezukommen. Im Rahmen eines öffentlichen Anlasses werden die Bartgeier präsentiert und alle Details rund um die Auswilderung werden erklärt. Der Stress, dem die wilden Tiere dabei ausgesetzt sind, sei im Übrigen gar nicht so schlecht, so Weyrich mit Blick auf den Publikumsevent, der so gar nicht zur naturnahen Wiederansiedlung des Königs der Lüfte passen will: «Die Bartgeier müssen lernen und erkennen, dass der Mensch grundsätzlich kein Freund ist.

Die natürliche Scheu ist ein wichtiges Element beim künftigen Überleben in der Wildnis.» Der Anlass auf der Tannalp diene dabei nicht nur der Wissensvermittlung und Neugier. «Er ist auch ein wichtiges finanzielles Instrument.» Denn das Projekt basiere finanziell unter anderem auf Spenden und Sponsoring. So kommt es zuweilen auch zu speziellen Namensgebungen, wenn einzelne Tiere auf den Namen ihrer Paten getauft werden. «Sempach» oder «Gallus» sind entsprechend unschwer von ihren finanziellen Unterstützern zu trennen.

Alleine bis zur Flugtauglichkeit

Diskreter und einsamer ist der nachfolgende Schlussteil der Auswilderung. Nach der begleiteten Völkerwanderung bis zum Beobachtungs- und Infostand auf dem Hengliboden, sind es nur noch eine Handvoll Spezialistinnen und Spezialisten, die die Vögel in die vorbereiteten Nischen oben in den Felsen bringen. Hansruedi Weyrich gehört als Fotograf dazu – und hat sich inzwischen auch die zu Beginn fehlende körperliche Fitness angeeignet: «Untrainiert den jungen und fitten Wildhütern und Bartgeierexperten in den Aufstiegen zu folgen war keine Option.» Die regelmässigen Einsätze in den Alpen mit Besuchen der Bartgeier ergaben quasi als positive Nebenwirkung eine überdurchschnittliche körperliche Verfassung und die nötige Kondition.

Eingebettet in die mit Wolle präparierten Nester werden die Bartgeier ab diesem Moment sich selber überlassen. Menschenkontakt wird weitgehend vermieden. Selbst die Fütterung während einigen Wochen wird zeitlich so organisiert, dass die Tiere im frühen Morgenlicht noch schlaftrunken sind und die Futterüberbringer nicht erkennen. Das Futter wird zunehmend in einer Distanz deponiert, sodass die Jungtiere gezwungen sind, das Nest zu verlassen. Genau so, wie es die Elterntiere in der Natur mit ihrem Nachwuchs auch tun. Man beobachte schon im ersten Moment in Freiheit sehr unterschiedliche Charakterzüge, stellt Hansruedi Weyrich mit der Erfahrung von mehreren Auswilderungen fest: «Einige verharren noch einen Moment in Schockstarre, andere erkunden das Nest und die Umgebung, ohne zu zögern.»

Aufräumer der Alpen

Apropos Futter: Bartgeier gehören – wie es der Name sagt – zur Familie der Geier. Es sind Aasfresser, also quasi die Aufräumer der Alpen. Auf dem Speisezettel der Bartgeier stehen primär Knochen. Sie stürzen sich also auf Kadaver, wenn sich Andere bereits mit Fleisch bedient haben. Eindrücklich ist in diesem Zusammenhang die Aussage, dass Bartgeier aus der Luft einen toten Hasen aus einer Distanz bis 600 Meter erkennen können. Und eindrücklich ist gemäss Hansruedi Weyrich auch die Nahrungsaufnahme an sich: «Bartgeier verschlingen auch grosse Knochenstücke quasi en bloc.» Die Schnabelöffnung ist extrem weit, die Speiseröhre elastisch. Bis zu 25 Zentimeter lange Röhrenknochen verstaut ein Bartgeier wie ein Schwertschlucker in seinem Rachen, bis zu acht Zentimeter dicke Rinderwirbel verschlingt er ganz. Und weil die Luftröhre bis an die Schnabelspitze reicht, gerät er auch nicht in Atemnot, wenn ein Knochen eine Weile im Hals stecken bleibt.

Und falls die Knochenstücke zu gross sein sollten, dann packen die Vögel diese, transportieren sie in die Höhe und lassen sie auf Felsen fallen und zerschellen. Dazu dienen die mächtigen Krallen und «nicht etwa zum Angreifen oder zum Kampf», wie Weyrich betont. «Die Krallen sind stumpf und ungefährlich.» Es sind in erster Linie die Überreste von abgestürzten oder anderweitig verstorbenen Steinböcken, die Bartgeier ernähren. Diese leben deshalb vorwiegend da, wo Steinböcke beheimatet sind. Im Umkehrschluss gilt: Da, wo Bartgeier sind, ist die Natur intakt. Die Friedfertigkeit bringt der Art nur Vorteile. Wer keine Energie mit Jagen und unnötigen Streitereien vergeudet, kommt mit wenig Futter aus. Dem Bartgeier genügen 200 bis 350 Gramm täglich.

Über 30 Jahre alt

Auf dem Weg in die Freiheit respektive in die Lüfte verbleiben die jungen Bartgeier rund 30 Tage im und rund um das Nest. Immer häufiger verlassen sie die Nische, um mit Flügelschlägen die benötigte Muskulatur aufzubauen. Und wenn sie dann bei rund 200 Flügelschlägen pro Tag angelangt sind, scheint die Natur zu rufen. «Mit einem Alter von rund 120 Tagen sind die Bartgeier für den Erstflug bereit.»

Diese ersten Versuche seien noch plump und unbeholfen, aber schon bald folgten die ersten grösseren Runden in der Höhe. So einen Erstflug live mitzuerleben, sei ihm zwar noch nie vergönnt gewesen. «Das wäre natürlich die Krönung meiner stundenlangen Beobachtungen – aber letztlich halt auch purer Zufall», so Hansruedi Weyrich. So haben auch die Erstflüge der vor einem Monat ausgesetzten Bartgeier in diesen Tagen ohne ihn stattgefunden. Am 20. Juli und am 23. Juli sei es soweit gewesen, ist den Notizen der Betreuerin und Beobachterin vom Hengliboden aus zu entnehmen.

Bartgeier werden mit fünf bis sieben Jahren geschlechtsreif. Manche sind dann auch schon verpaart und besitzen ein eigenes Revier – ins gleiche Nest werden die Eier aber nie gelegt. Die erste Brut gelingt ihnen meist erst ab einem Alter von acht bis neun Jahren. Abgelegt werden meist zwei Eier, wobei nur eines ausgebrütet wird. Das zweite gilt als Reserve. Tierarten, die spät zur Fortpflanzung kommen, zeichnen sich häufig durch lange Lebenserwartungen aus. Dies gilt entsprechend auch für den Bartgeier. Die Art ist ausgesprochen langlebig. 30-jährige Vögel sind noch längst keine Greise.

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