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Kafipause

Das Experiment, das so harmlos begann

Im persönlichen Blog berichten Parzival Meister, stellvertretender Chefredaktor und Redaktionsleiter, und BT-Chefredaktor Bernhard Rentsch abwechslungsweise wöchentlich über Erlebnisse im privaten wie im beruflichen und gesellschaftlichen Leben – immer mit einem Augenzwinkern.

BT-Redaktionsleiter Parzival Meister
  • Dossier

Es begann mit einem kleinen Aufreger, der mich dazu verleitete, das Sozialexperiment zu beginnen. Die Versuchstiere: meine Familie. Das Labor: der Kühlschrank. Das Versuchsobjekt: eine Wasserflasche. Dauer des Experiments: frühzeitiger Abbruch wegen emotionaler Überforderung meinerseits.

Doch beginnen wir am Anfang; und am Anfang des Experiments stand eine Wasserflasche. Eine Wasserflasche nämlich, die bis auf einen klitzekleinen Schluck ausgetrunken war. Wie oft habe ich mich schon über diese «Anstands-Reste» – die in Tat und Wahrheit Unanständigkeits-Reste sind – im Kühlschrank aufgeregt: das Tupperware, das nur noch einen Bissen einer Mahlzeit enthält. 
Der Käse, von dem mehr Rauft als Käse übrig ist. Und eben: die Wasserflasche mit dem Unanständigkeits-Rest. Ich checke es einfach nicht: Wieso tut man so etwas? Weil man zu faul ist, die Verpackung wegzuwerfen?

Das brachte mich auf eine Idee: Was, wenn ich ein wirklich leere Wasserflasche in den Kühlschrank stelle? Fühlt sich dann jemand dafür verantwortlich? Der Gedanke, der normalerweise das Verantwortungsgefühl abdämpft, nämlich der, dass es ja noch Reste hat, die vielleicht jemand will, entfällt. Würden die Kinder also plötzlich auf die Idee kommen, die leere Flasche, die sie aus dem Kühlschrank nehmen, zu entsorgen? Nun, um es kurz zu machen, das Experiment scheiterte. Meine Partnerin entdeckte die Flasche und entsorgte sie. Weil ich nachfragte, wusste sie sogar, dass ich es war, der die Flasche dort platzierte. Und nun war ich der Depp. Auch meine Ausrede, «Warum stellst du eine leere Flasche in den Kühlschrank?» – «Für den Fall, dass ein Gast mal nichts will», fand sie nicht lustig.

Ich gab meine Forschung nicht auf und platzierte von nun an liegengelassene Dinge der Kinder so, dass es für sie unmöglich schien, diese zu ignorieren. Ich legte etwa die Kosmetikartikel der Grossen direkt vor die letzte Treppenstufe. Was passierte? Sie stieg einfach drüber. Beim Grossen stand mehrere Tage ein Müllsack vor seinem Zimmer, den er eigentlich hätte entsorgen müssen. Was passierte, als es zu stinken 
begann? Er öffnete einfach das Fenster. Die Macht des Ignorierens, sie scheint grenzenlos.

Das Experiment hatte aber auch Einfluss auf mich. Sobald ich begann, die 
Ignoranz zu ignorieren, entdeckte ich immer mehr Dinge, die ich bisher erfolgreich ignoriert hatte. Das Duschgel, das schon lange leer ist, und ich trotzdem immer wieder zurückstelle. Der Karton, der sich im Reduit stapelt und entsorgt werden müsste. Der Rasen, der sich nicht von alleine schneidet ... Hinter der Schutzmauer des Ignorierens wartet ein derart grosser Berg Arbeit auf mich, dass ich gerade etwas gestresst bin. Ich kaue Nägel. Bin gereizt. Und beschliesse schliesslich, das Experiment zu beenden und mich zum Wohle meiner Gesundheit der Macht des Ignorierens hinzugeben.

 

pmeister@bielertagblatt.ch

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