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Titelgeschichte

Das grosse Buhlen um mehr Steinkäuze

Das Seeland ist einer der wenigen Standorte in der Schweiz, an dem der Vogel des Jahres noch vorkommt. Drei Paare hat Birdlife schon angelockt. Nun sollen weitere hinzukommen.

Ein junger Steinkauz hat sich auf deinen Pfosten gesetzt, um nach Beutetieren wie Mäusen oder grossen Insekten zu spähen. Bild: Keystone

Beat Kuhn


Der Schweizer Vogelschutz (SVS)/Birdlife Schweiz – kurz Birdlife Schweiz genannt – hat den Steinkauz zum Vogel des Jahres 2021 erkoren. In der Begründung dazu heisst es, der kleine Kerl stehe «wie kaum ein anderer Vogel für den Erfolg von Schutzmassnahmen, aber auch für den mangelnden Einbezug der Biodiversität bei der Raumplanung». Nicht allein für seinen, sondern auch für den Fortbestand vieler anderer Arten im Kulturland brauche es «zwingend eine ökologischere Landwirtschaftspolitik», mahnt der Verband.


Mit Migrationshintergrund  
Ursprünglich im Mittelmeerraum sowie in den Steppen und Halbwüsten Asiens zuhause, hat der Steinkauz Mitteleuropa als typischer Kulturfolger erst mit den Menschen besiedelt. Während Jahrhunderten lebte er in enger Nachbarschaft mit diesen. Denn bevorzugt richtete er sein Nest in Hohlräumen alter Hochstammbäume in Obstgärten oder auf Wiesen an. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es in der Schweiz noch über 800 Brutpaare.


Ab den 1950er-Jahren brach ihr Bestand aber ein. Dies vor allem, weil Millionen von Hochstammbäumen gefällt und alte Obstgärten überbaut wurden, aber auch, weil Hecken und andere landschaftliche Strukturelemente verschwanden. Ebenso fatal war die Intensivierung der Landwirtschaft. Denn sie entzog dem Steinkauz durch Überdüngung und den Einsatz von Pestiziden vielerorts die Nahrungsgrundlage. Um die Jahrtausendwende wäre er hierzulande fast ausgestorben. Nur um die 50 Paare waren damals noch zu beobachten.


Diese Entwicklung gab es auch im Seeland. Für die Menschen war die erste Juragewässerkorrektion zwar ein Segen, denn durch den Bau des Hagneck- und des Nidau-Büren-Kanals wurde den Überschwemmungen in der Region ein Ende gesetzt. Die Urbarmachung des Sumpfgebietes zwischen Aarberg und Büren war dann sogar eine landwirtschaftliche Erfolgsgeschichte: Das Seeland wurde zum «Gemüsegarten der Schweiz». Für den Steinkauz begann mit dem Jahrhundertbauwerk hingegen der Niedergang.


Aussterben abgewendet
Seit Beginn des 21. Jahrhunderts geht es mit ihm nun wieder aufwärts: Im letzten Jahr haben Vogelschützer schweizweit 149 Reviere gezählt. Heute kommt der Steinkauz in den Eichenhainen des Kantons Genf, den Hochstamm-Obstgärten der Ajoie im Kanton Jura, den Tieflagen des Tessins und eben auch im Seeland vor. Allerdings nisten hier nur drei der 149 Paare.
Ohne Eingreifen des Menschen wäre diese Kehrtwende allerdings nicht eingetreten – auch in der Region nicht: Von 2015 bis 2019 hat Birdlife ein erstes Teilprojekt im Rahmen des Artenförderungsprogramms «National prioritäre Kulturlandvögel im Grossen Moos» durchgeführt. Unterstützt wurde der Verband dabei von Partnerorganisationen sowie von Landwirten.
Das Teilprojekt hatte die Zielarten Steinkauz, Kiebitz, Dorngrasmücke, Grauammer und Feldlerche. Durch diverse Massnahmen wurden Teile des Gebietes – als Ausgleich zur intensiven Bewirtschaftung mit Gemüse- und Ackerkulturen – ökologisch aufgewertet. So führte etwa die Ansaat von Buntbrachen zu einem breiteren Blütenangebot, das Insekten und andere Kleinstlebewesen anzog. Deren Vorhandensein wiederum zog dann diese seltenen oder sogar gefährdeten Vogelarten an. Es wurden auch Massnahmen getroffen, die spezifisch auf den Steinkauz ausgerichtet sind. Zum Beispiel brachte man auf Bäumen Niströhren an. Sie sollen Astlöcher simulieren, denn diese gehören neben Baumhöhlen und Mauernischen zu seinen bevorzugten Wohnlagen.


Laut Lucas Lombardo von Birdlife ist die Bilanz des ersten Teilprojekts positiv – auch punkto Steinkauz: Zwar seien im Grossen Moos schon in den Jahren 2007 bis 2014 abwechselnd ein oder zwei Paare gesichtet worden. «Nicht zuletzt dank diesem Teilprojekt hat die Anzahl Reviere nun aber konstant bei drei gehalten werden können.» Im Übrigen habe der Bestand der Dorngrasmücke im Vergleich zu 2007 verdreifacht werden können, und erstmals seit Jahrzehnten hätten sich wieder Kiebitze angesiedelt. Der Bestand der stark vom Aussterben bedrohten Grauammer habe zumindest gehalten werden können.


Standort bleibt geheim
Letztes Jahr hat nun ein zweites Teilprojekt – bis 2024 – begonnen. Ergänzt um die vom Aussterben bedrohte Turteltaube als weitere Zielart, führt das Projekt das erste weiter. Eine Etappierung des Artenförderungsprogramms sei nötig, damit dieses nicht nur vom Bund und dem Kanton Bern Geld erhalte, sondern auch von Stiftungen, so Lombardo – er ist der Leiter dieses zweiten Teilprojektes. Denn diese würden in der Regel eine feste Laufzeit verlangen. «Der Start des zweiten Teilprojekts war schon sehr vielversprechend», sagt der Ornithologe. So sei die Kiebitz-Kolonie im Grossen Moos letztes Jahr «eine der wichtigsten im Land geworden»: Bei den flüggen Jungvögeln sei sie an die gesamtschweizerisch grössten Kolonie im Wauwilermoos herangekommen, mit bloss einem einzigen Jungen weniger – 13 gegenüber 14. Bei den Brutpaaren stünden den 42 dortigen dagegen bloss 15 hiesige gegenüber.


Dieses Jahr wird das Projekt nun im Raum Kallnach ergänzt, konkret am Brästegraben, einem Be- und Entwässerungskanal der Juragewässerkorrektion, der ein paar hundert Meter westlich von Kallnach und Fräschels verläuft. Bei dieser Aktion ergreift man nun gezielt Massnahmen zugunsten der Steinkäuze. Denn alle drei Seeländer Paare haben ihre Reviere in diesem Teil des Grossen Moos. Eines von ihnen siedelt laut Lombardo westlich vom Brästegraben. «Den genauen Standort geben wir jedoch nicht bekannt, damit es nicht gestört wird.»


Auslichten mit grossem Gerät
Letzte Woche ist die erste Hälfte des Brästegraben-Projektes, ein etwa 800 Meter langer Abschnitt zwischen dem Weg mit dem Namen Niederried-Moos und der Ziegelei Fräschels, umgesetzt worden. Im Spätherbst geht es dann nördlich des Niederried-Moos-Weges weiter, etwa 700 Meter weit. In beiden Fällen kann Birdlife einen ohnehin fälligen Unterhaltseinsatz des Kantons an dem Kanal mitnutzen. Konkret werden der Baumbestand und der Sträucherbewuchs auf beiden Seiten des Kanals ausgelichtet und mit ökologischen Strukturen versehen, die die Biodiversität fördern sollen.
Als das BT letzte Woche vor Ort ist, erinnert das Szenario an Forstarbeiten: Am Ufer des Brästegrabens liegen gefällte und entastete Baumstämme. Daneben bewegt sich eine schwere Maschine hin und her, die wie eine Mischung aus Bagger und Lastwagen aussieht. Mit einem Greifarm packt der Fahrer jeweils einen weiteren bereitliegenden Stamm und hebt ihn auf die Lastfläche. Wenn diese voll ist, fährt er zum Zwischenlager-Platz und legt die geladenen Stämme mit dem Greifarm auf einen bereits begonnenen Holzstoss. Der sieht aus wie ein Brennholz-Vorrat für Riesen.


Verwandter als Fressfeind
Die noch nicht ausgelichteten Bäume und Sträucher am Brästegraben wirken wie eine Allee, nur dass statt einer Strasse ein Bachbett dazwischen liegt. Laut Lombardo ist die ganze Bepflanzung von Menschenhand erfolgt. Diese war damals bewusst dicht ausgefallen, weil sie verhindern sollte, dass die Bise die landwirtschaftlichen Felder schädigt. Inzwischen seien sich die Experten indes nicht mehr sicher, ob so ein Windschutzstreifen Sinn mache.
«Sicher ist hingegen, dass die hohen Bäume und der dichte Sträucherbewuchs vom Steinkauz als Wald und somit als Gefahrenzone wahrgenommen werden.» Die grösste Gefahr droht ausgerechnet von einem zoologischen Verwandten, nämlich dem Waldkauz, der ebenfalls zu den Eulen-Arten gehört. Er ist etwa dreimal so gross wie der Steinkauz, der nur gut 20 Zentimeter hoch ist und gerade mal etwa 200 Gramm wiegt.


Öko-Recycling für Schlagholz
Ein zweiter Grund für das Auslichten war der, dass die Bepflanzung für ein gesundes Gedeihen zu dicht war und zu einem grossen Teil aus standortfremden Bäumen bestand, sprich Pyramidenpappeln, Kanadischen Hybridpappeln und Nadelhölzern. Während diese letzte Woche abgeholzt wurden, hat man die einheimischen Sträucher und Harthölzer bloss zurückgeschnitten. Dabei handelt es sich etwa um Kirschbäume, Heckenrosen oder Weissdorn.


Mit dem Schlagholz werden entlang dem Brästegraben Strukturen wie Asthaufen und Scheiterbeigen geschaffen. Sie dienen den Steinkäuzen als «Hochsitze», von denen sie nach Beute Ausschau halten können. Auf ihrem Speiseplan stehen primär Mäuse und grosse Insekten, aber auch Reptilien und Regenwürmer. Im Winter weichen sie auf Vögel aus, die noch kleiner sind als sie. Sie sind nachtaktiv, können aber auch tagsüber beobachtet werden.


Ab Februar grenzen erwachsen gewordene Steinkäuze ihr Territorium mit Balzrufen ab. Als Teil der Balz legt das Männchen in der neu angelegten Bruthöhle ein Nahrungsdepot an. Das Weibchen legt drei bis fünf weisse Eier, aus denen nach 22 bis 30 Tagen die Jungen schlüpfen. Schon rund 20 Tage nach dem Schlüpfen verlassen die jungen Steinkäuze die Nest-Höhle – ehe sie flugfähig sind. «So sind sie ausgeliefert, und ein grosser Teil wird in der Folge von Füchsen, Mardern, Katzen oder anderen Tieren gefressen», so Lombardo. «Wenn die Hälfte der Jungen überlebt, ist es schon viel.»
Im Mai und Juni sind Steinkauzpaare – die das ganze Leben zusammenbleiben – weiter mit der Aufzucht beschäftigt. Ab August werden die Jungen von den Eltern recht unsanft aus dem «Hotel Mama» hinausbefördert. Dann sucht sich jeder Jungsteinkauz ein neues Revier, und zwar im Umkreis von nur wenigen Kilometern – sofern geeigneter Lebensraum vorhanden ist.


Die Chancen, dass die Nachkommen der drei Steinkauzpaare durch die ökologische Aufwertung hier im Grossen Moos gehalten werden können, sind also intakt. Aktuell ruhen die Hoffnungen auf den insgesamt neun Jungen der drei Paare aus dem letzten Jahr.

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Der Gewinnerfisch

Der Fisch des Jahres heisst Alet und gilt als Allerweltfisch. Wegen seiner Anpassungsfähigkeit ist er auf dem Vormarsch. Für die Fischerei spielt er eine grosse Rolle.

Andrea Butorin

Ein Allerweltsfisch ist der Alet für den Schweizerischen Fischereiverband (SFV) nur auf den ersten Blick. Denn der Alet hat einige überraschende Fähigkeiten aufzuweisen, und ist zudem sehr robust. Deshalb überlebt er auch in ökologisch beeinträchtigten Gewässern. Und so hat der SFV ihn zum Fisch des Jahres 2021 gekürt.


Für Berufsfischer hat der Alet, je nach Region auch Döbel oder Eitel genannt, indes keine Bedeutung: Er zählt nicht zu den beliebten Speisefischen wie Zander, Egli, Hecht oder Felchen. Der Alet gehört zur Familie der Karpfenfische. Umgangssprachlich nennt man diese Weissfische. Silvano Solcà, Berufsfischer aus Gerolfingen, sagt: «Im Bielersee sind das Rotauge, das man im Seeland Winger nennt, und die Brachsme, häufiger anzutreffen als der Alet. Dieser verfängt sich nur selten im Netz.»


Seen sind nicht der Hauptlebensraum des Alet, er bevorzugt Strömung und ist vor allem in der Aare, dem Rhein und in kleinen Alpenbächen zu finden. Er liebt schattige Stellen bis maximal zehn Metern Tiefe.

«Der Weissfisch schmeckt einwandfrei»
Als Speisefische sind Weissfische nicht sonderlich beliebt, weil sie viele Gräten haben. Trotzdem hat Silvano Solcà sie im Angebot: Er und seine Kollegen beliefern nach alter Tradition die BEA mit Weissfischen, die dort frittiert werden (siehe Infobox). «Der Weissfisch schmeckt einwandfrei, besonders jetzt, im Winter», sagt der Fischer. Im Sommer schmecke er leicht nach Erde, weshalb man ihn nur in der kalten Jahreszeit verwertet. Geschmacklich könnte Silvano Solcà einen Alet nicht von einem Rotauge unterscheiden: «Weissfische schmecken alle ziemlich ähnlich.» Deren Vorteil sieht Solcà in der Regionalität: «Im Gegensatz zum Egli oder Zander stammt ein hier angebotener Weissfisch zu 100 Prozent aus der Region.»
Dank eines Grätenschneiders ist die Zubereitung der Weissfische für die Berufsfischer kein Problem mehr. Allerdings darf ein Alet dann maximal 500 Gramm schwer sein, sonst passt er nicht mehr in die Maschine. Tatsächlich kann ein Alet aber bis zu fünf Kilogramm auf die Waage bringen und bis 80 Zentimeter lang werden. Auch ihre Lebensdauer beeindruckt: Manche Exemplare sind über 20 Jahre alt geworden.


Der Alet ist weit verbreitet: Sein Lebensraum erstreckt sich von Portugal bis an die Wolga und von der Türkei bis nach Mittelschweden. Weil er muskulös und kräftig ist, kann er über weite Strecken wandern. Während viele einheimische Fischarten auf dem Rückzug sind, zählt der «Star des Jahres» zu den Gewinnern: Besser als andere Fische kann er sich den Veränderungen anpassen, die der Mensch verursacht hat, und so ist er auch in ökologisch beeinträchtigten Gewässern zu finden. Weshalb, kann bislang bloss vermutet werden. Der Schweizerische Fischereiverband bedauert, dass man über den Alet vergleichsweise wenig weiss, was mit seiner Nebenrolle auf dem Teller zusammenhängt. Ein wichtiger Grund dürfte sein, dass er Temperaturen von 5 bis 25 Grad als angenehm empfindet und sogar 30-grädiges Wasser ertragen kann. Er ist aber auch resistent gegen Krankheiten, kommt in strukturarmen Gewässern zurecht und ist produktiv in der Fortpflanzung. Ein auffallendes Merkmal ist sein runder Rücken, dessen Farbe je nach Gewässer braun, oliv oder blaugrau schimmert. Der Alet hat zudem ein relativ breites Maul und helle Augen. Während die anderen Weissfische reine Pflanzenfresser sind, ist der Alet – besonders im ausgewachsenen Stadium – ein unzimperlicher Allesfresser (siehe Infobox). «Er erinnert mit seiner Anpassungsfähigkeit an einen Fuchs oder eine Krähe», schreibt der SFV in einer Medienmitteilung. Nebst seinen Augen verlässt er sich auch auf den Geruchs- und Geschmackssinn. So findet er fast jede Beute und erkennt den «Gestank» von Raubfischen.  


Der Alet bereitet dem Sohn Erfolgserlebnisse
Ein gespaltenes Verhältnis zum Alet hat Michel Aeschlimann, Präsident des Seeländischen Sportfischervereins Biel. Einerseits fürchtet er, dass der robuste Alet die empfindlicheren Arten weiter verdrängt. Er sagt aber auch: «Ich fische und esse ihn gern.» In der Aare und der Saane, wo Aeschlimann gern die Angel auswirft, begegnet er dem Alet oft. Als Jungfisch bewegt sich dieser im Schwarm, ältere sind in kleinen Gruppen oder allein unterwegs.
Seinem zwölfjährigen Sohn Jonas hat Aeschlimann das Fliegenfischen beigebracht. Und weil der Alet gern anbeisst, wenn etwas Leckeres an der Wasseroberfläche schwimmt, beschert er dem Sohn Erfolgserlebnisse. Aus dem Fang entstehen bei Aeschlimanns Fisch-Burger. «Weil er relativ viele Gräten hat, drehen wir ihn durch den Fleischwolf. Das klappt am besten, wenn er kalt oder leicht gefroren ist», sagt der Sportfischer und ergänzt: «Das ist ein prima Familienessen.»

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Ihn findet man nur, wo die Qualität stimmt

Der Bachflohkrebs sieht weder spektakulär aus, noch ist er vom Aussterben bedroht. Dennoch ist er das Tier des Jahres 2021 und für Forschende von grosser Bedeutung: Wo er lebt, sind die Bäche sauber.

Jana Tálos

Stellt man sich das Tier des Jahres vor, denkt man vielleicht an einen bunt gefiederten Paradiesvogel, eine seltene Kröte oder an eine erst wieder heimisch gewordene Tierart, wie beispielsweise den Wolf, den Seeadler oder den Fischotter. Für das Jahr 2021 jedoch hat sich die Naturschutzorganisation Pro Natura für ein Wesen entschieden, das weder selten noch besonders schön anzusehen ist: den Bachflohkrebs. Ein knapp zwei Zentimeter grosser Krabbler, der – bis auf das Tessin und einige Südtäler – praktisch überall in der Schweiz vorkommt.


Mit dem Bachflohkrebs soll denn auch nicht auf eine vom Aussterben bedrohte oder besonders schützenswerte Art aufmerksam gemacht werden, wie Pro Natura betont. Der Wirbellose stehe vielmehr stellvertretend für all die Lebewesen, die auf saubere und vielfältige Bäche angewiesen, für uns Menschen aber kaum sichtbar sind. «Der kleine Krabbler reagiert sehr empfindlich auf Gewässerverschmutzungen», heisst es im Comminqué. Wenn er in einem Bach fehle, sei das meist ein Hinweis darauf, dass mit der Wasserqualität etwas nicht in Ordnung sei.


Ein gefrässiges Tierchen
Dass der Bachflohkrebs ein guter Indikator für die Sauberkeit von Bächen ist, bestätigt auch Roman Alther, Gewässerökologe am Wasserforschungsinstitut Eawag in Dübendorf und Experte für Flohkrebse. «Der Bachflohkrebs frisst ziemlich viel, vor allem Blätter, aber teilweise auch andere kleine Tierchen. Er kommt mit sehr vielen verschiedenen Organismen in Kontakt.»   

Seien diese Organismen mit Pestiziden oder anderen giftigen Substanzen kontaminiert, kumulierten sich diese Rückstände im Verdauungstrakt des Krebses, woran dieser schnell einmal zugrunde gehe. «Grössere Tiere spüren solche Einflüsse weniger als ein kleines Wesen wie der Bachflohkrebs», sagt Alther. Kommt hinzu, dass sich die Krebse über Jahrtausende an die sauberen Gewässer angepasst haben. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sie mit neuen Einflüssen wie Pestiziden aus der Landwirtschaft, Giften aus der Industrie oder Rückständen von Medikamenten zu kämpfen haben.

Alle können ihn finden
Nebst dem Bachflohkrebs gibt es noch viele andere wirbellose Tiere, die unter der Verschmutzung der Bäche leiden. So etwa die Steinfliege, die noch wesentlich empfindlicher als der Bachflohkrebs reagiert und auch viel seltener anzutreffen sei, wie Roman Alther erklärt. Allerdings liege genau darin auch der Vorteil des Bachflohkrebses, insbesondere für ihn als Gewässerökologen: «Wenn ich ein Gewässer untersuche, ist die Chance relativ gross, dass ich einen Flohkrebs finde, da er ja fast überall in der Schweiz vorkommt.» Während andere Wissenschaftler weit reisen müssten, um ihr Gebiet zu erforschen, könne er deshalb an fast jedem Bach die Qualität der Gewässer und deren Auswirkungen auf die Artengemeinschaften analysieren.


Um den Bachflohkrebs in der Schweiz finden zu können, müsse man aber nicht unbedingt Wissenschaftler sein, sagt Alther weiter. «Wenn Sie im Wald spazieren gehen und in einem Bach ein Blatt oder einen Stein umdrehen, sehen wahrscheinlich auch Sie ein paar Flohkrebse davonkriechen, die sich sofort wieder irgendwo verstecken wollen.» Im Seeland seien die kleinen Krabbler vorwiegend in der Region der Aare und kleinen Zuflüssen zum Bielersee unterwegs. Kaum nachgewiesen wurde der Bachflohkrebs hingegen im Berner Jura oder in der Region des Grossen Mooses. Dies wohl auch deshalb, weil in diesen Regionen intensive Landwirtschaft oder Industrie vorherrscht, und die Gewässer entsprechend kontaminiert sind.


Rund 40 verschiedene Arten
Hat man den kleinen bogenförmigen Krabbler einmal unter einem Stein weghuschen sehen, heisst das aber noch lange nicht, dass es tatsächlich auch ein Bachflohkrebs war. In der Schweiz wurden bisher rund 40 verschiedene Flohkrebsarten nachgewiesen. Vier davon gibt es nur in der Schweiz. Etwa ein Drittel ist nicht einheimisch und erst in den letzten Jahrzehnten aus anderen Regionen eingewandert.


Um genau bestimmen zu können, um welche Flohkrebsart es sich handelt, müsste man den Krebs einfangen und mit einer Lupe oder unter dem Mikroskop untersuchen. Für die genaue Bestimmung haben Roman Alther und weitere Forschende einen Online-Bestimmungsschlüssel entwickelt, der über das Portal von Infofauna sowohl Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern als auch der breiten Öffentlichkeit zugänglich ist.
Aus der Ferne betrachtet, erinnert der stark gegliederte Körper des Bachflohkrebses ein wenig an eine Ritterrüstung. Weibchen werden zirka 14 Millimeter, männliche Bachflohkrebse bis zu 21 Millimeter lang. Die Farbe ihres aus Chitin und Kalk bestehenden Panzers variiert je nach Nahrung und Wasserqualität zwischen braun, grau und grün. Der Bachflohkrebs hat sieben Beinpaare, zwei Antennenpaare und weitere kleinere Fortsätze sowie Borsten am ganzen Körper. «Er ist keine Augenweide», bemerkt Roman Alther lachend. Dennoch fasziniert ihn der kleine Krebs bis heute.


Lange nur wenig bekannt
Roman Alther und Florian Altermatt von der Eawag und der Universität Zürich ist es übrigens auch zu verdanken, dass man heutzutage überhaupt einigermassen über die Flohkrebse in der Schweiz Bescheid weiss. 2012 gründeten sie das Projekt Amphipod und machten sich in der ganzen Schweiz auf die Suche nach dem bis zu dem Zeitpunkt wenig erforschten Krabbler.


Anhand der Feldarbeit und mithilfe der vorhandenen Literatur haben sie 2019 erstmals eine Monografie über Flohkrebse der Schweiz veröffentlicht und anderen Forschenden das gesammelte Wissen so zur Verfügung gestellt. Bis heute untersuchen die beiden Proben von Flohkrebsen, die die ihnen meist von Fachleuten zugesandt werden oder die sie selbst eingesammelt haben. «Mittlerweile haben wir einen ziemlich grossen Datensatz und wissen recht gut über die Verbreitung der Flohkrebse Bescheid», sagt Alther.

Dennoch sind die kleinen Tierchen immer wieder für eine Überraschung gut. Denn auch wenn sie äusserlich identisch aussehen, können sie genetisch unterschiedlichen Arten angehören. Deshalb freue man sich auch weiterhin auf Proben aus der ganzen Schweiz, sei es nun von Fachleuten oder von Hobbyökologen. An dem kleinen Krabbler gibt es noch einiges zu entdecken. Und dank dem Status als «Tier des Jahres 2021» werden in Zukunft auch in der breiten Bevölkerung etwas mehr Steine in den Bächen umgedreht.

 

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