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Titelgeschichte

"Das ist der Tesla des Hausbaus"

Im Portmoos entsteht gerade ein bahnbrechendes Mehrfamilienhaus: Es gibt mehr Energie ab, als es benötigt. Bewährt sich die Technik, könnte es den Hausbau in der Schweiz revolutionieren.

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Matthias Knecht

«Du siehst dem Haus nicht an, dass es Science Fiction ist». Marc Giraudi führt über die Baustelle im Portmoos, Traumlage am linken Ufer des Nidau-Büren-Kanals, und seine Begeisterung steckt an. Der Ingenieur und Solarenergie-Spezialist referiert über Wasserkreisläufe und Wärmepumpen, Energiespeicherwerte und Steuerungen. Bald wird das Haus mit sechs Wohnungen fertiggestellt sein. Auf den ersten Blick wirkt es wie eine von vielen Neubauten in der Schweiz – und zwar von den geschmackvolleren. Doch es ist noch viel mehr. «Das hier ist der Tesla des Hausbaus», sagt der Bauherr selbstbewusst und fährt grinsend fort: «Es nützt die drei Schwächen des Menschen aus – das Portemonnaie, den Komfort und den Sex-Appeal.»


Das neue Gebäude in Port ist nicht nur weitgehend unabhängig von externer Energiezufuhr – nein, es gibt sogar Energie ab. Heizung, Warmwasser und Strom für die sechs Parteien werden komplett aus Solarenergie gewonnen. Und dann ist immer noch genug übrig, um die Elektroautos der Bewohner zu laden. Giraudi nennt es darum ein «Plus-Energiehaus». Und damit es so richtig zeitgemäss rüberkommt, ist es selbstverständlich auch Smartphone-tauglich: Die zukünftigen Bewohnerinnen können jederzeit die aktuelle Energiebilanz ihrer Wohnung auf dem Mobiltelefon ablesen.


Klingt unmöglich? Giraudi lächelt: «Ich verwende etablierte Technologien – und kombiniere sie intelligent.» Beispiel Energiespeicherung. Diese funktioniert bei dem neuen Gebäude in der Römerstrasse nach dem klassischen Prinzip des Kachelofens. Während ein solcher üblicherweise um die zwei Tonnen wärmespeicherndes Steinmaterial enthält, sind in dem neuen Gebäude rund 600 Tonnen Beton verbaut, als Speichermasse. Die Heizleitungen sind im Beton selbst verlegt.


Damit das Ganze richtig funktioniert, bedarf es der entsprechenden Steuerung, und da ist Giraudi in seinem Element: 1988 schloss er das Technikum in Biel ab. Seine Diplomarbeit widmete er der Leistungselektronik der «Spirit of Biel» – jenem Fahrzeug, das 1990 in Australien das legendäre Solarauto-Rennen gewinnen sollte.


China als Lehrmeister
Da studierte Giraudi schon längst Betriebswirtschaft an der Universität Neuenburg, und schon bald machte er Karriere bei ABB. Insgesamt zehn Jahre war er für den Konzern in China tätig. Er lernte nicht nur die Sprache, sondern auch anders zu denken. Giraudi begriff, dass Klimaschutz nicht das Luxusvergnügen reicher Länder ist, sondern dass er darum gut ist, weil er am Ende weniger kostet. Denn wenn es einem Land gelingt, seine Energie nur aus Wind und Sonne zu decken, ist es nicht mehr auf teure Öl- oder Uranimporte angewiesen. «Wie man das am effektivsten macht, haben mich die Chinesen gelehrt.»


Seit 2008 arbeitet Giraudi selbstständig, im Bereich der erneuerbaren Energien. Er baute alternative Heizanlagen in der ganzen Schweiz und setzte sich mit den tückischen Details von Technik und Steuerung auseinander. «Ich lernte das Geschäft von der Pike auf», betont Giraudi. Wieder kam ihm seine Erfahrung aus China zugute. Dort sei man bei erneuerbaren Energien dem Westen weit voraus. Dies zeigt sich laut dem Ingenieur etwa bei den Wärmepumpen: 100 Millionen davon produziert China Jahr für Jahr, und Giraudi besuchte 25 solcher Hersteller. Dank seiner Sprachkenntnisse konnte er mit den chinesischen Tüftlern und Experten selbst reden. Er staunte über den technologischen Vorsprung. «Die Chinesen haben mich ausgebildet», fasst Giraudi zusammen.
In dem Haus in Port soll dann zwar eine spanische Wärmepumpe arbeiten – von Marc Giraudi nach langer Recherche für «genial» befunden –, doch die Steuerung möchte er mit der Firma Energyoptimizer in Pieterlen sowie einem chinesischen Partner entwickeln. Dies alles sorgt dafür, dass das Gebäude im Winter auch mehrere extrem kalte Tage ohne jegliche Sonne durchsteht – jedenfalls in der Theorie.


Dass die ganze Technik am Ende wirklich funktioniert, davon ist der Pionier überzeugt: «Das hier ist das Referenzprojekt», sagt Giraudi selbstbewusst. Es soll dazu beitragen, dass die von ihm entwickelte Technik marktreif wird – und damit auch billiger und letztlich massentauglich. Damit kehrt der Bauherr wieder zu seinem Vorbild China zurück: «Erneuerbare Energien müssen günstiger sein als konventionelle, damit sie genutzt werden.» Das müsse auch in der Schweiz so sein, betont Giraudi.


Warum nicht schon früher?
Klingt einfach. Warum ist da nicht schon früher jemand draufgekommen? Vielleicht liegt es daran, dass so ein Pilotprojekt nicht gerade billig ist – und sich die Banken bei völlig neuartigen Bauprojekten zurückhaltend zeigen. Für das gut acht Millionen Franken teure Bauvorhaben fand Giraudi lange keinen Kreditgeber – bis sich schliesslich die lokale Raiffeisenbank überzeugen liess und die neue Technologie für unterstützenswert befand. Zudem steckte Giraudi einiges aus eigenen Mitteln in das Projekt. «Ich trage schliesslich das volle Risiko», versichert er.


Getragen wird das Bauvorhaben von der Firma Unicum AG. Deren Teilhaber sind Marc Giraudi und seine Schwester Carole Giraudi. Sie steuerte zusammen mit Joliatsuter Architekten die Architektur des Baus bei.


Rund 1,5 Millionen Franken kostet jede der Wohnungen, wobei die Nebenkosten und der Strom fürs Elektroauto der nächsten Jahrzehnte mit inbegriffen sind. Anfangs hatte Marc Giraudi Sorge, dass sich nur «Bonzen» für die Wohnungen interessieren würden – oder nur Menschen im Pensionsalter, mit genügend Erspartem auf der hohen Kante. Doch es kam überraschend anders. «Ich habe geniale Leute für das Haus gefunden», sagt er. Es seien vor allem junge Familien gekommen, mit Begeisterung und auch genügend Kapital für visionäre Projekte.
Fünf Wohnungen verkaufte die Firma Unicum AG im letzten Frühjahr innerhalb von acht Tagen. Erst dann wusste Marc Giraudi, dass er auch ökonomisch auf dem richtigen Weg war. Für die letzte freie Wohnung sucht er noch eine «Musterfamilie».


Bewährt sich das Gebäude, werde es wohl den Hausbau in der Schweiz revolutionieren. Dafür peilt der Ingenieur bereits den nächsten Technologiesprung an. Eine Besonderheit beim Pilotprojekt in Port sind nämlich die Holzwände: Sie sind nicht nur tragend, sie wurden zudem in Fertigbauweise erstellt, und zwar zusammen mit der Blumer-Lehmann-Gruppe, die auch die Holzkonstruktion des Swatch-Neubaus in Biel umsetzte. Die Kombination aus Holzbau und Betonböden nennt Giraudi Holz-Hybridbauweise.


Das Fertigelemente-Prinzip will Giraudi zusammen mit Blumer-Lehmann auf den gesamten Hausbau ausweiten – also sozusagen Plusenergie-Häuser am Fliessband produzieren. Einen potenziellen Partner für eine erste industrielle Fertigungsstrasse hat der Ingenieur bereits gefunden – in China. Wo denn sonst?

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