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Titelgeschichte

Der Brotfisch wird immer kleiner

Sie landet mit Abstand am meisten im Netz der Fischerinnen und Fischer. Doch die Felche, der Fisch des Jahres, hat ein Problem.

Fisch des Jahres 2022. Wie geht es den Felchen im hiesigen Lebensraum? Berufsfischer Gerold Pilloud mit einer frisch gefischten Felche. Bild: Barbara Héritier

Vanessa Naef

Sie hat grosse Augen und silbern glänzende Schuppen. Sie bewegt sich schnell und gerne im Schwarm. Ihren Namen findet man auf der Speisekarte jedes guten Fischrestaurants. Im Bielersee fühlt sie sich ebenso zuhause wie in Nordamerika. Die Rede ist von der Felche. Der schweizerische Fischerei-Verband hat sie heuer zum Fisch des Jahres erkoren.

Mit 24 Unterarten alleine in der Schweiz weist die Felche eine grosse Vielfalt auf. Die Unterarten haben sich über Jahrhunderte entwickelt. Die Felche ist aber auch der «Brotfisch» der schweizerischen Berufsfischerei. Denn in den vergangenen Jahrzehnten machten die Felchen bis zur Hälfte des Ertrags der Berufs- und Angelfischerei aus – daher auch ihr Übername. In den letzten Jahren hat sie sich jedoch zum Sorgenkind entwickelt. Immer seltener landet die Felche im Netz der Fischerinnen und Fischer. Um darauf aufmerksam zu machen, hat sie den Titel des Fischs des Jahres erhalten.

2019 ist die Fang-Ausbeute in der Schweiz gemäss dem Fischerei-Verband auf 486 Tonnen gesunken In den 90er-Jahren waren es mit 1500 Tonnen Felchen noch mehr als dreimal so viel. Die Entwicklung trifft besonders jene, die vom Fischfang leben. Obwohl die Felche äusserst anpassungsfähig ist, sind in den letzten 150 Jahren bereits rund ein Drittel der ursprünglich 35 Arten ausgestorben. Im Bielersee heimisch sind drei Arten heimisch.

 

Muscheln und mehr Arbeit

Einer, dem der Rückgang der Felchen zunehmend Sorgen bereitet, ist der Berufsfischer Gerold Pilloud aus Ligerz.

Wenn der See still ist, fährt er im Sommer um halb fünf Uhr morgens aus, im Winter eine Stunde später. So kann er um neun Uhr frischen Fisch verkaufen. Mit seiner Frau Martina betreibt er «Pilloud’s Fischlädeli».

Pilloud steht im Bootshaus, das noch letzten Sommer vom Hochwasser geflutet war, eine Markierung an der Wand zeigt den damaligen Wasserstand. Doch jetzt ist alles aufgeräumt und ordentlich; hier bereitet er die Netze an Stangen vor für ihren nächsten Einsatz. Ein Graureiher am Ufer fügt sich in die Idylle ein. Doch die Arbeit von Pilloud ist hart.

Den aktuell nicht so schlechten Felchenbestand im Bielersee gibt es nicht zuletzt auch dank den Berufsfischern. Sie beteiligen sich aktiv an deren Bewirtschaftung und Nachzucht. So bringen sie im Dezember Muttertiere in den kantonalen Fischereistützpunkt, der sich einige hundert Meter entfernt von Pillouds Fischerei ebenfalls in Ligerz befindet. Im Frühjahr werden die Jungfelchen von der Fischereiaufsicht ausgesetzt.

Fischereiaufseher Rolf Schneider zeigt die grossen, mit Fischeiern gefüllten Gläser, die wie auf den Kopf gestellte Flaschen aussehen. Im Dezember 2021 seien es rund 25 Millionen Eier gewesen, statt wie vorgesehen 40 Millionen. Sie streben nicht immer mehr an, die Anzahl muss den Verhältnissen im See angepasst werden. Denn: «Der Ertrag an Laichfelchen ist auch ein Spiegelbild des Bestandes». Gemäss Schneider sei der Felchenbestand noch immer gut, das Durchschnittsgewicht der gefangenen Felchen sei aber in den letzten Jahren massiv zurückgegangen.

Zurück zu Gerold Pilloud. Er zeigt seinen Fang – es sind sechs Kilo Felchen, drei grosse Hechte und ein paar Egli; oft sind auch noch Rotaugen dabei. Ebenso gesellen sich einige ungeliebte Gäste hinzu: Quaggamuscheln. Es wird vermutet, dass die fremde Muschelart via Schifffahrt vom Schwarzen Meer über den Rhein bis in den Bielersee gekommen ist. Nun halten sich die Quaggamuscheln auch hier im Seegrund auf, und filtern Nährstoffe heraus, die für das Wachstum von Plankton benötigt würden. Die Felchen wiederum ernähren sich von diesen Kleinstlebewesen.

1980, als Pilloud sein erstes Fischerpatent erlangte, habe es lediglich drei bis vier Felchen benötigt, um auf ein Kilo Fisch zu kommen. Heute sind es über sechs Stück, die zusammen ein Kilogramm wiegen. Die Felchen wachsen weniger schnell, sie bleiben kleiner und magerer – und sind somit auch älter, wenn sie gefangen werden. Für Pilloud heisst das: Netze mit engeren Maschen benutzen. Es bedeutet auch mehr Arbeit. Denn Fisch wird kiloweise verkauft.

Diese Veränderungen beobachtet auch das kantonale Fischereiinspektorat, das diese Daten bei den gefangenen Felchen im Bieler-, Thuner- und Brienzersee seit 1984 aufnimmt. Die Gewichts- und Grössenabnahme bei den Felchen liegt gemäss den Forschenden daran, dass die Nährstoffe im Bielersee abgenommen haben und sich das Klima stetig erwärmt. Die Felchen gingen nicht mehr zum Oberflächenwasser, da dieses oft zu warm wird, sagt Rolf Schneider vom Fischereiinspektorat des Kantons Bern.

Gerade gefriert Pilloud Felchen ein, die er dem Kanton zur Untersuchung schickt. Es wird verfolgt, wie sich der Bahn-Tunnelbau bei Ligerz auf die Fische auswirkt. Neben den Quaggamuscheln ist es vor allem die Wasserqualität, die den Felchen zu schaffen macht.

 

Bedrohter Lebensraum

Sowohl Berufsfischer Gerold Pilloud als auch Fischereiaufseher Rolf Schneider verweisen auf das grosse Einzugsgebiet von circa 8000 Quadratkilometern (¼ der Schweiz) und damit auch dessen Verunreinigungen. Vielen sei nicht bewusst, dass das Abwasser von etwa 1,1 Millionen Leuten im See landet.

Gerold Pilloud benennt das Problem in aller Deutlichkeit: «Für das Wasser ist es nicht erst fünf vor zwölf, sondern schon fünf nach zwölf.» Mikroplastik und Schadstoffe wie Medikamentenrückstände aus Haushalten oder Spitälern gelangen ins Abwasser. Diese könne man nicht ‹rausfischen›. Wichtige biologische Nährstoffe hingegen werden von den Kläranlagen rausgefiltert, dadurch gibt es ebenfalls weniger Plankton. Denn dieses lebt von Bakterien.

Dieses klare Wasser sei zwar schön anzuschauen, doch für die Natur sei es nicht gut. «Biologisch tot» nennt Gerold Pilloud es. Und es ist keine Neuigkeit: Die Wasserqualität leidet unter den Pestiziden aus der Landwirtschaft und dem Weinbau. Zwar werde mit Bio-Anbau bereits viel getan; dennoch sei keine rasche Besserung in Sicht, denn es dauere Jahrzehnte, bis die Stoffe im See abgebaut seien. Für ihn, der so eng mit dem Wasser arbeitet, ist klar: «Es kann nicht sein, dass wir auf Jahrzehnte hinaus Böden zerstören» – und damit verbunden die Wasserqualität, die so wichtig ist für das ganze Ökosystem.

Auch Fischereiaufseher Schneider betont, dass die Natur sich nicht so schnell anpassen kann. Bei der Klimaerwärmung gebe es einen Punkt, an dem man nicht mehr zurückkönne. «Dass das Leben im Wasser unter dem Klimawandel am meisten leidet, ist den Leuten oft wenig bewusst», sagt Rolf Schneider. Aus seiner Sicht wäre es wichtig, das Bewusstsein dafür zu stärken.

 

Regionales wird geschätzt

Nebenan entschuppt und filetiert Gerold Pilloud die Fische maschinell oder verarbeitet sie von Hand weiter. Im vorderen Bereich befindet sich die Verkaufstheke. Neben der Belieferung von lokalen Restaurants verkauft er hier seine Fänge. In seinem Räucherstübchen feuert Pilloud wöchentlich ein und verleiht den Felchen so einen intensiven, rauchigen Geschmack. Oft ist die Nachfrage grösser als das Angebot. Gerade in den Wintermonaten ist es nicht einfach, den Restaurants die gewünschte Menge an hiesigem Fang zu liefern, doch die Berufsfischer unterstützen einander. Denn auch in der Schweiz kommt man immer mehr auf den Geschmack des Fischs – der Konsum steigt an. Rund 80 000 Tonnen Fische- und Meeresfrüchte werden daher jährlich in die Schweiz importiert. Fast alles, was davon in unseren Tellern landet, stammt nicht von hier – etwa 98 Prozent, wie Gerold Pilloud sagt.

In Bezug auf die Felchen spricht er von einem «starken Rückgang» seit 2017. Insbesondere die letzten drei Jahre seien sehr schlecht gewesen. 2017 haben die Berufsfischer am Bielersee 90 Tonnen Felchen gefangen. 2021 waren es noch 17 Tonnen.

Zwar gibt es noch acht Berufsfischer am Bielersee, doch bereits fünf von ihnen seien über 60 Jahre alt, auch er. Gerold Pilloud führt den Betrieb in dritter Generation – doch von seinen Nachkommen wird wohl niemand übernehmen. Pilloud berichtet, man könne auch kaum mehr von der Fischerei allein leben, man erweitere das Repertoire mit Verkauf oder Catering. Trotz des Aufwands, der grösser wird, führt er die Fischerei mit seiner Frau, die im Laden den Verkauf übernimmt. Das bringt eine hohe Präsenzzeit mit sich, sechs Tage die Woche. Martina Pilloud sagt dazu «das hängt uns beiden an, und kann auch belastend sein». Sie jedenfalls freue sich auf die ruhigeren Zeiten in der Pension. Trotzdem: Es sei ein schöner Job, sagt Gerold Pilloud, der auch selbst gerne ein bis zwei Mal pro Woche Fisch isst.

Denn gefragt sind seine Produkte sehr. Fischer Pilloud erzählt, dass er während des Lockdowns in seinem Lädeli um die Hälfte mehr verkaufen konnte. Viele Leute hätten sich Zeit genommen und sich intensiver mit ihrer Ernährung und der Herkunft der Produkte beschäftigt. Frische Felchen aus dem Bielersee seien noch begehrter geworden. Aus den Ausführungen der Fischerinnen und Fischer wird klar: Der Mensch muss Sorge zu seinen Gewässern und der Umwelt tragen. Ansonsten büsst die Artenvielfalt der Felche ein, und der Brotfisch verschwindet.

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