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Nidau

Der Mann mit den Glasaugen

Adrian Meury ist seit seiner Kindheit blind. Bilder und Farben gibt es für ihn nicht. Was bleibt von der Welt, wenn das Sehen fehlt? Ein Portrait und ein Selbstversuch.

In der Bieler Klavierfabrik Burger und Jacobi hat Adrian Meury Klavierstimmer gelernt. Illustration: Sarah Grandjean
Sarah Grandjean
 
Adrian Meurys Stimme ist tief und kräftig. Manchmal stockt sie, bleibt bei einem Wort hängen, bis sie sich löst und den Raum füllt. Wenn ein Satz zu Ende gesprochen, ein Gedanke zu Ende gedacht ist, versickert sie wie Wasser im Sand.
 
Meury ist seit der frühen Kindheit blind. «Man hat mir gesagt, am Anfang hätte ich noch etwas gesehen», sagt er. «Aber daran erinnere ich mich nicht.»
 
Es ist Mitte September und regnet seit Stunden. Ich stehe in Nidau an der Zihlstrasse vor einem dreistöckigen Haus mit Giebeldach und Klavierwerkstatt im Keller.
Ich schiebe die Dunkelbrille über meine Augen, sehe nur noch Grau und komme mir albern vor. Wie früher, wenn mich meine Mutter zur Nachbarin schickte, um nach Backpulver zu fragen, und ich meine peinlichste Pyjama-Hose trug.
 
Die Tür geht auf. Nun steht er vor mir, Adrian Meury, 61 Jahre alt, Klavierstimmer von Beruf. Wir sehen einander nicht. Für mich ist es ein Experiment, Meury kennt es nicht anders. Er lacht, «das ist lustig», und steigt die Treppe hoch. Ich taste nach dem Geländer, eine geschnitzte Schnecke, glatt und kühl, lackiertes Holz. Unsicher ertaste ich Stufe um Stufe, Geländer und Treppe winden sich spiralförmig in den obersten Stock. Mir ist schwindelig. Schwelle, Eingang, Schwelle, Stube, dann ein Stuhl. Die Sitzfläche aus Plastik, etwas rau, das Gestell aus kaltem Metall. Ein runder Tisch mit einer glatten Oberfläche, die sich nach Kunststoff anfühlt, in einem verblichenen Rot, stelle ich mir vor. Ich bin erleichtert, als ich sitze.
 
Mit einem Tumor geboren
 
Meury kam am 5. Oktober 1960 als jüngstes von fünf Geschwistern zur Welt. Zusammen mit seinem Zwillingsbruder, der die Geburt nicht überlebte. Meury hatte einen Tumor, der seinen Sehnerv zerstört hatte. Ihm wurden die Augen herausoperiert. Sonst wäre auch er gestorben.
 
Heute hat Meury Augen aus Glas. Er sieht nicht Schwarz. Er sieht, wie andere mit dem Rücken sehen: gar nicht. Bilder, Farben, Hell und Dunkel existieren für ihn nicht. Er erzählt das nicht zum ersten Mal, hat schon mehrmals in der Zeitung und im Fernsehen über seine Beeinträchtigung gesprochen, und wenn ich mein Portrait über ihn nicht mit einem Experiment verbunden hätte, hätte er gar nicht erst mitgemacht. Nur zu reden langweilt ihn.
 
Ich bin ein Augenmensch. Viele Gerüche und Geräusche nehme ich erst wahr, wenn ich die Augen schliesse, weil die sichtbare Welt so viel Raum einnimmt. Ich trage nie Gelb, weil mich das blass macht. Ich könnte endlos zuschauen, wenn während eines Sturms die Möwen über dem aufgewühlten Seeufer schweben und herabstürzen auf herangespülte Fische. Im Frühling knipse ich Fotos von gelbem Blütenstaub, der ölähnliche Schlieren ins Wasser eines Hafens oder einer Pfütze zeichnet.
 
Und ich bin kurzsichtig. Minus 1,25 Dioptrien auf dem rechten Auge, minus 2,5 auf dem linken. Nicht viel, aber doch genug, dass ich ohne Brille jede Autobahnausfahrt verpassen würde, im Kino die Untertitel nicht lesen, in der Bäckerei die Namen der Brote nicht entziffern kann. Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn meine Sehkraft weiter abnehmen würde, wenn Konturen und Farben mehr und mehr verschwimmen würden, bis sie irgendwann verschwinden.
 
Meury sagt: «Es war schwierig zu akzeptieren, dass ich etwas nicht habe, was andere haben.» 
 
Am Anfang begriff er es nicht. «Ich sah die Dinge ja auch.» Er hörte am Echo, dass da etwas war, ein Baum, eine Wand, spürte den Widerstand im Gesicht. Er kurvte mit dem Trottinett durch den Innenhof und übers Trottoir, in Laufen bei Basel, wo er aufgewachsen ist. «Die Nachbarn hatten Angst», sagt er belustigt. «Aber ich bin nie auch nur einen Zentimeter auf die Strasse gefahren.» Er tobte furchtlos mit seiner Schwester auf der Wiese herum und wurde erst vorsichtiger, nachdem er auf dem Schulhof kopfvoran in einen Baum gerannt war. Wieder lacht er. Meury ist keiner, der jammert, keiner, der die Dinge grösser macht, als sie sind. Vielmehr spielt er sie mit einem Lachen herunter. 
 
Strassenpläne im Kopf
 
Irgendwo läuft leise ein Radio. Rechts von mir stelle ich mir eine Stube mit Polstergruppe vor. Und ein Fenster, vielleicht mit Blick auf die Zihl, jedenfalls glaube ich, von dort ein Rauschen zu hören. Wonach riecht es? Schwach nach Essen. Und nach diesem leicht feuchten Geruch alter Häuser. 
 
Mit sechs Jahren kam Meury nach Zollikofen. Eine Blindenschule mit Internat, weit weg von zuhause. Er hatte Heimweh. Sein Vater lernte mit 50 Jahren Auto fahren, gleichzeitig wie Meurys ältester Bruder, um ihn am Freitagabend von der Schule abholen zu können.
 
Er lernte den Weg von der Schule zum Bahnhof kennen. Schulfach Mobilität. Anfangs hatte er Mühe, konnte sich nicht vorstellen, wie eine Kreuzung funktioniert. Er fragte sich, weshalb er die gleiche Strasse zweimal überqueren musste, bis er verstand, dass es zwei verschiedene Strassen waren. Noch heute hat er den Plan von Zollikofen in seinem Kopf. «Wenn ich hingehe, nehme ich den Plan aus der Schublade in meinem Hirn. Wenn ich länger nicht dort war, muss ich ihn wieder studieren.»
 
Hier mit geschlossenen Augen zu sitzen und zuzuhören, hat etwas Beruhigendes. Da ist nichts, was mich ablenkt, keine eingehenden Nachrichten und Mails, keine Uhr. Nichts von dieser atemlosen Gleichzeitigkeit, die mich manchmal durch den Alltag jagt. Ich höre genau zu, weil Worte das Einzige sind, woran ich mich festhalten kann. Ich mache mir meine eigenen Bilder. Wie früher, wenn ich vor dem Einschlafen einem Hörspiel lauschte. 
 
Doch ein paar Wochen später, Meury und ich werden im Zürcher Dunkelrestaurant Blinde Kuh sitzen, wird sich das Nicht-Sehen anders anfühlen. Erst dort, wo ich nicht jederzeit die Dunkelbrille ablegen und das Experiment abbrechen kann, werde ich es wirklich begreifen. Es wird stockdunkel sein. Es wird keine Rolle spielen, ob ich die Augen öffne oder schliesse. Das wird beängstigend sein. Es wird sich anfühlen, als hätte man mir alles weggenommen, was ich kenne und was mir Sicherheit gibt. Als schwebte ich im Nichts.
 
Hören als Beruf
 
Nach der Schule kam Meury nach Biel und absolvierte bei der Klavierfabrik Burger und Jacobi die Ausbildung zum Klavierstimmer. Sobald ein Instrument besaitet war, stimmte er es ein erstes Mal. Dann wurden die Hämmerchen und die Tasten eingebaut. Meury stimmte es wieder, weil Holz arbeitet und sich verzieht. Und wieder und wieder und wieder. «In so einer Klavierfabrik hat man immer genug zu tun», sagt er. 1985 wurde die Firma verkauft, 1991 ging sie Konkurs.
 
Meury machte sich selbstständig. Er und ein Arbeitskollege bauten sich ihr eigenes Geschäft auf, unten im Erdgeschoss des Hauses in Nidau, wo die Instrumente nebeneinander stehen wie Tiere in einem Stall. Der Kollege baut die Instrumente zusammen, Meury stimmt sie. Gemeinsam stimmen die beiden Männer auch die Klaviere in den Schulhäusern im Stedtli, zweimal im Jahr jene einer Zürcher Musikschule.
 
Meury steht auf, um mir die Wohnung zu zeigen. Der Boden knarzt. Ein Holzboden also. Er sagt, wo es lang geht, geradeaus in die Stube, er führt meine Hand über die Glasplatte eines niedrigen Couchtisches. Über die Stereoanlage, ein glatter Kolben aus Holz in einem Metallgestell, darin die feine Membran des Lautsprechers, die unter den Fingern vibriert. Im ersten Moment zucke ich zurück vor dieser körperlichen Nähe zu einem Menschen, den ich kaum kenne. Meurys Hand ist glatt, fühlt sich jünger an, als ich mir die Hand eines 61-jährigen Mannes vorstelle. Glatt. Kann es sein, dass sich die Hand gleich anfühlt wie der Kolben, der Tisch, das Treppengeländer? Kann es sein, dass wir 72 Wörter für Blau haben, Ultramarinblau, Kobaltblau, Designerblau, Lapislazuli, Modern Blue, aber nur ein einziges Wort für Glätte?
 
In der Küche ist links vom Eingang eine Ablage, darauf ein Wassersprudler. Spüle, Kochplatten, hölzerne Küchenschränke mit Griffen aus gewundenem Metall. Im Schlafzimmer steht ein Tisch mit Kabeln, einem dünnen Laptop von Apple, einem Drucker. Im Eingang ein Hocker, mit Teppich bezogen. Darauf hat Meury seinen Führhund gebürstet, früher. 
 
Wie sicher er sich durch die Wohnung bewegt. Wie orientierungslos ich bin. Sitzend mochte es beruhigend sein, nichts zu sehen. Doch sobald ich mich bewege, bin ich verloren. Ich könnte den Grundriss der Wohnung nicht aufzeichnen, fände ohne Meurys Hilfe nicht einmal den Stuhl oder die Eingangstür wieder.
 
Acht Jahre mit Quest
 
Drei Wochen später ist es Herbst geworden. Wieder steige ich bis unters Dach. Ich erinnere mich an das hölzerne Geländer, an die Art, wie sich die Treppe nach oben windet. Mir wird nicht mehr schwindelig. Schwelle, Eingang, es riecht anders diesmal, nach kaltem Zigarettenrauch, Schwelle, Stube, Tisch und Stuhl. Ich erinnere mich. Es fühlt sich vertraut an. Wie wenn man nachts durch die Wohnung geht, ohne das Licht anzumachen. Wenn man weiss, wo die Dinge sind, braucht man sie nur zu ertasten, um zu wissen, wo man selbst ist.
 
Ich sitze wieder am selben Ort, und Meury erzählt von seinem Führhund. Quest hiess er, ein Labrador, «ein blonder, glaube ich». Vor 20 Jahren kam er zu ihm, zu einer Zeit, in der er sich manchmal allein fühlte. «Ich hätte damals gerne eine Familie gehabt.» Aber es sei schwierig, mit seinem Handicap eine Partnerin zu finden. Da könne man noch so gut mit jemandem auskommen, aber eine Beziehung einzugehen mit einem blinden Menschen, das überlege man sich zweimal. Und gleich relativiert er seine Aussage, indem er sagt, natürlich habe es auch an ihm gelegen. Es habe schon hin und wieder jemand Interesse gehabt, aber so richtig gefunkt, gegenseitig, das habe es nicht.
 
Quest begleitete ihn acht Jahre lang überall hin. Meury sagte: «Gehen wir Zug», und Quest führte ihn zum Bahnhof. «Gehen wir Bus», und er führte ihn zum Buswartehäuschen. Er brachte dem Tier Wege bei, zum Schlossbeck, zum «Le Nidaux», zum See. Quest lernte schnell und gern. Nach, ein- oder zweimal Üben kannte er den Weg. Wenn er etwas Neues gelernt hatte, machte ihn das stolz, und Meury machte es unabhängig.
 
Im Januar 2008 wurde Quest pensioniert. Er kam er zu einer Familie nach Zürich, mitten in der Stadt, aber mit Garten und nahe am Wald, «er hatte es gut dort». Meury besuchte ihn zweimal im Jahr. Der Hund erkannte ihn jedes Mal, «er wäre jederzeit wieder mit mir gekommen». Bis er Gelenkprobleme bekam und Demenz. Meury war am Handorgelspielen, als er erfuhr, dass Quest eingeschläfert worden war. «Da hatte ich keine Lust mehr zu spielen.»
Einen Führhund will er nicht wieder, heute wäre ihm das zu viel. Schliesslich ist es mit Aufwand verbunden, ein Tier zu pflegen. Ausserdem fühlt sich Meury nicht mehr einsam. Er konnte neue Kontakte knüpfen in einem Männerchor und in einer Jazz-Band, in der er Saxofon und Klarinette spielt.
 
Wintertage auf der Piste
 
Ob es ihn stört, dass er nicht alles allein machen kann? Ich stelle mir vor, dass Meury unbekümmert mit den Schultern zuckt, wenn er sagt: «Es ist einfach so. Ich muss mich halt entsprechend organisieren.» Wenn er im Zihlkanal oder im See schwimmen gehen will, fragt er jemanden aus der Nachbarschaft, ob er ihn begleiten würde. In den See geht er auch mal allein, das Ufer findet er dank des Plätscherns der Wellen wieder.
Meury ist kein ängstlicher Mensch. Mit 40 Jahren lernte er Skifahren, als Kind war das für ihn tabu. Er fährt jeweils vor einem Guide her, der ihm Anweisungen gibt, wenn die Piste schmal ist oder viele Leute unterwegs sind. Rechts, links, anhalten. Manchmal muss er kaum was sagen. Auf der Elsigenalp und der Riederalp kennt Meury jede Kurve auswendig, «da könnte ich fast allein fahren».
 
Auf dem Rückweg von unserem Ausflug in die «Blinde Kuh», ich ohne Dunkelbrille, damit ich ihn führen kann, wird mir Meury ein Video davon zeigen. Er wird sein Smartphone ans Ohr halten, nach einer App suchen. «Fotos», wird eine elektronische Stimme sagen. Zur Bestätigung wird er zweimal auf den Bildschirm drücken. «Alben», zweimal drücken, «Favoriten», zweimal drücken, «20. März 2018», zweimal drücken. Er wird mir das Smartphone mit dem Video hinschieben, das ihn auf den Skiern zeigt: Er fährt eine menschenleere Piste hinunter, sein Guide hinterher. Kurve rechts, Kurve links, der Schnee knirscht, Kurve links, Kurve rechts, eine Abfahrt von fast drei Minuten. Unten sagt der Guide «Arm links», Meury streckt den Skistock aus, der Guide greift danach und führt ihn zum Lift. Die Kamera nähert sich Meurys Gesicht. «Wie war die Abfahrt?» Er lacht, seine Wangen sind gerötet: «Top. So dürfte es immer sein, den ganzen Winter lang.»
 
Hinter den Fenstern des Hauses in Nidau kommt die Sonne hervor, scheint mir warm ins Gesicht.
 
Für Meury ist es wichtig, wie sich etwas anfühlt. Geschwindigkeit fasziniert ihn, glatte Dinge mag er, die Oberfläche des Tischs, den dünnen Laptop von Apple. Raue Dinge mag er nicht. Wenn er als Kind etwas ertastete, das ihm nicht gefiel, nannte er es «rostig». Einmal, er war neugierig, wie sich Gold anfühlt, hat ihm seine Cousine ein Goldvreneli gezeigt. Er war überrascht, wie unschön sich etwas anfühlen kann, das einen solchen Wert hat.
 
Was er sich nicht vorstellen kann, ist, dass jemand den kilometerweit entfernten Horizont sehen kann. So weit können seine Ohren nicht hören, seine Hände nicht tasten, kann seine Nase nicht riechen.
 
Der inexistente Blick
 
Am Ende dieses zweiten Treffens lege ich die Dunkelbrille ab. Für mich ist es ein Experiment, noch immer, für Meury Realität, immer.
 
Alles dreht sich um mich herum. Dann rückt die Wirklichkeit an ihren Platz. Es fühlt sich an, wie wenn ich morgens aufwache, die Augen noch geschlossen, und überzeugt bin, andersrum im Bett zu liegen. Wie wenn ich versuche umzudenken, und es mir nicht gelingt, bis ich die Augen öffne.
 
Erst einmal ist alles hell. Dann der Tisch: Er ist nicht rund, sondern oval, und er ist nicht verblichen rot, sondern hellgrau. Meury hat ein offenes Gesicht und freundliche Falten um den Mund, der immer ein bisschen zu lächeln scheint. Er wippt leicht vor und zurück, den Kopf gesenkt, seine Glasaugen sind schieferblau. Sie sind auf die Tischplatte gerichtet, sind auf mich gerichtet, ich versuche einen Blick festzuhalten, der nicht existiert.
 
Gäbe es eine Operation, die Meury das Sehen ermöglichen würde, er würde sie machen lassen. Wahrscheinlich. Auch wenn es nicht einfach wäre. «Ich müsste das Sehen erst lernen.» Er stellt sich vor, dass er am Anfang eine Dunkelbrille tragen würde und hin und wieder kurz heraus blinzeln würde. Er kennt jemanden, der als Kind dank einer Operation den Sehsinn zurück erhielt. Zu Beginn sei dieser überfordert gewesen von all den Eindrücken. Wenn er eine Kaffeetasse sah, musste er sie berühren, um zu glauben, dass sie wirklich da war.
 
Wir gehen noch einmal durch die Wohnung. Alles ist ordentlich aufgeräumt, nirgends liegen Postkarten oder Notizen herum. Das Sofa ist durchgesessen, davor steht ein niedriger Tisch mit einer Platte aus Bruchglas, die Lautsprecher hatte ich mir genau so vorgestellt, aus hellem Holz, in einer metallenen Fassung. Die Küchenschränke sind gelb gestrichen. Die Stellen, die Meury oft berührt, sind dunkel verfärbt, Spuren des Alltags an Türrahmen und Griffen.
 
Wie sicher mir Meury vorkam, als er mich mit meinen verbundenen Augen führte. Wie unsicher er mir jetzt vorkommt, da ich sehe, wie sich seine Hände durch die Wohnung tasten. Er deutet auf Quests Hocker, doch er deutet in die falsche Ecke. Und da tut er mir plötzlich leid. Warum das? Weil ich jetzt nicht mehr in seiner Welt bin? Weil ich wieder in meiner bin und all das sehe, was er nicht sieht? Wie anmassend, zu denken, wie sehr ihm all das fehlen muss, nur weil es mir selbst so wichtig ist. Meury ist nicht jemand, der sich als Opfer sieht, und auch ich will das nicht tun.
 
Essen im Dunkeln
 
Ich werde es erst nach unserem Besuch in der «Blinden Kuh» ganz ablegen können, dieses Mitleid, das ich nicht empfinden will. Während wir dort in der Dunkelheit sitzen und auf die Vorspeise warten, lässt meine Anspannung nach. Ich gewöhne mich daran, dass mir der Sehsinn im Moment nichts nützt, und merke, dass da nicht einfach Nichts ist. Ich kann noch immer hören, riechen, fühlen. Ich taste die Brailleschrift auf dem Tischset ab und erkenne die einzelnen Zeilen, dann auch die Zeichen. Mit Meurys Hilfe entziffere ich «Blinde Kuh», in der Ecke oben links.
 
Wir haben das Überraschungsmenü gewählt, Meury erkennt fast alles, ich fast nichts. Zwar kenne ich den Geschmack, kann aber nicht sagen, was es ist. Nicht einmal den Salat kann ich als Nüsslisalat definieren. Es ist, wie wenn man einen Geruch wahrnimmt, der einen an die Kindheit erinnert. Zum Beispiel fallen einem plötzlich Erlebnisse aus dem Kindergarten ein, man kann aber nicht sagen, wonach es eigentlich riecht. Nur Ebly und Schokolade erkenne ich als solche.
 
Ich verliere jedes Gefühl für Zeit. Ich denke, dass wir vielleicht zwei Stunden im Restaurant sassen und redeten. In Wirklichkeit waren es dreieinhalb. Auf dem Weg nach draussen bleiben wir in einem schummrigen Gang stehen, wo sich meine Augen langsam an das Licht gewöhnen. Noch immer kann ich nicht ganz fassen, dass sich für Meury in diesem Moment nichts ändert, seine Welt bildlos bleibt, und er sich doch so gut zurechtfindet in ihr.
 
Wir erwischen in Zürich den letzten Zug, und der hat Verspätung. In Biel bleibt uns knapp eine Minute Zeit zum Umsteigen, ich muss nach Bern, Meury nach Nidau. Er sagt, ich bräuchte ihm nur die Richtung zu sagen, in die er laufen muss. Und ich denke, kann ich ihn wirklich allein lassen? Als wäre er nicht ein erwachsener Mann, als könnte er das nicht selbst entscheiden. Da öffnet sich die Zugtür, und ich kann das Gefühl loslassen, dass ich mich kümmern sollte. Jetzt begegne ich ihm auf Augenhöhe. Wir rennen los, dem Perron entlang, Meury hält sich oberhalb meines Ellenbogens fest, «Achtung Treppe, und jetzt links», Meury sagt, hier müsse ich abbiegen, er kennt den Bahnhof in- und auswendig. Er rennt weiter, ich rufe: «Achtung Wand», da ertastet er sie schon mit dem Stock, «ou ja», lacht und biegt um die Ecke zu Gleis 11.
 
Info: Dieser Text wurde als Diplomarbeit an der Schweizer Journalistenschule MAZ verfasst.
 
Adrian Meury spielt im Dezember im Parktheater Grenchen "Lead Me, Savior":
 

Konzert Jazzeral Grenchen from Sarah Grandjean on Vimeo.

Stichwörter: Adrian Meury, Nidau, Blind

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