Sie sind hier

Abo

Sterbebegleitung

"Der Tod ist das grosse Vielleicht"

Der Gerolfinger Daniel Kallen hat über seine Erfahrungen als Sterbebegleiter ein Buch geschrieben. Was ist wichtig am Ende des Lebens? Was stört ihn an traditionellen Abdankungen? Und wie würde er gerne sterben?

Daniel Kallen: «Es geht in der Sterbebegleitung auch um eine Grundhaltung: Ich bleibe an deiner Seite, mag kommen, was will.» Bild: Carole Lauener/Copyright "Bieler Tagblatt"
Interview: Raphael Amstutz
 
Daniel Kallen, es gibt unzählige Bücher über das Sterben. Warum haben Sie jetzt auch noch eines geschrieben?
Seit ein paar Jahren wird der Büchermarkt tatsächlich geradezu geflutet mit Neuerscheinungen über die Themen Sterben, Tod und Trauer. Aus dem einstigen Tabu ist ein Markt geworden. Noch vor 30 Jahren wurden das Sterben und der Tod an den Rand gedrängt oder gleich ganz ausgeklammert. Heute kann davon keine Rede mehr sein. 
 
Begrüssen Sie das?
Grundsätzlich finde ich es positiv, wenn diese Themen nicht verdrängt werden. In dieser Flut von Äusserungen in Büchern und Podcasts, Filmen und Songs vermisse ich aber zuweilen ein wenig das Tiefsinnige und Nachdenkliche.
 
Und das bieten Sie mit Ihrem Buch?
Vielleicht ist mein Ansatz tatsächlich neu. Ich ging nämlich der Frage nach: Wie sterben Menschen heute – in einer Zeit, in der man nicht mehr selbstverständlich an einen klassischen Himmel glaubt? Was beschäftigt, bewegt, bedrückt und erfreut Menschen auf der letzten Meile ihres Lebens? Woraus schöpfen sie Hoffnung? Dieser Frage haben sich die vielen Sterbebücher bis heute meiner Meinung noch nicht gewidmet.
 
Haben Sie denn Angst vor dem Sterben?
Ich glaube, wenn wir diese Frage ganz ehrlich beantworten, haben wir alle Angst vor dem Sterben. Immerhin stellt der Tod unser Dasein infrage. Denn wir kennen nur das Leben; Sterben und Tod, das sind die Unbekannten, das ist das Bedrohliche, Dunkle und Fremde. Vielleicht auch das Geheimnisvolle und das macht uns – machen wir uns nichts vor – erst einmal Angst.
 
Trotz dieser Angst: Wie möchten Sie sterben?
Ich kann Ihnen vor allem sagen, wie ich nicht sterben möchte: nicht an piepsenden Maschinen, nicht an Monitoren und Schläuchen, nicht von Schmerzen gepeinigt, nicht ersticken. Vor allem aber dies: Ich möchte nicht allein sein. Wenn ich wählen könnte, dann wünschte ich mir, dereinst in Frieden loslassen zu können und, ganz wichtig, versöhnt sterben zu können. Versöhnt mit mir und dem Leben. 
 
Die Furcht vor dem Sterben ist das eine. Haben Sie Angst vor dem Tod?
Der Tod an sich macht mir keine Angst. Ist er ein Zustand? Ein Verwehen? Schlafes Bruder? Das Nichts? Die Einkehr in die Ruhe? Oder gar eine Art von Erwachen? Vielleicht sogar eine neue Geburt? Nein, Angst vor dem Tod habe ich nicht. Ich bin sogar neugierig. 
 
Gehen wir zurück zu den Anfängen: Wann kamen Sie mit dem Sterben und dem Tod erstmals in Berührung?
Beim langsamen und leidvollen Sterben meines Vaters an Darmkrebs. Ich war damals zwölf Jahre alt. Dieser Abschied und dieser Tod haben mein ganzes Leben geprägt.
 
War damit der Weg zur Sterbebegleitung vorgezeichnet?
Nein. Es ist ja nicht so, dass mir das Thema in die Wiege gelegt worden wäre. Es wurde mir vielmehr zugetragen. Ob durch das Schicksal oder durch Zufall, sei dahingestellt; in jedem Fall aber durch meine Lebensgeschichte. Und die Fragen rund um den Tod haben mich – bis heute – geprägt und begleitet. Der Tod wurde mir gewissermassen zu einem ständigen Begleiter. Oder anders gesagt: Wir kennen uns gut, der Tod und ich. Ich bin nicht gerade mit ihm befreundet – auch nach all den Jahren nicht – nein, das möchte ich hier nicht behaupten, aber immerhin bin ich mit ihm per Du und das ist schon eine ganze Menge. 
 
Sie haben viele Menschen beim Sterben begleitet. Wann gelingt eine solche Begleitung?
Sterbebegleitung kann nur gelingen, wenn von einem sterbenden Menschen oder einem Menschen, der weiss oder ahnt, dass er bald sterben wird, eine Begleitung gewünscht wird. Ich kann also nicht einfach von mir aus an das Bett eines todkranken Menschen treten oder sitzen und dann Sterbebegleitung «machen».
 
Und wann scheitert sie?
Wenn keine Begleitung gewünscht wird, kann eine Begleitung nicht gelingen. 
 
Wie meinen Sie das?
Wenn man missionieren will, bekehren und helfen. Wenn man es ja nur «gut meint», wenn man die sterbende Person nicht ernst nimmt, wenn man ihr nicht achtsam und mit viel Empathie begegnet, dann scheitert Sterbebegleitung. 
 
Was unterscheidet denn einen Sterbebegleiter von einem Psychiater oder einer Therapeutin?
Als Sterbebegleiter arbeite ich eben gerade nicht therapeutisch. Das heisst, es geht nicht mehr um Veränderung festgefahrener Muster, nicht um Heilung von Leiden oder Behandlung von Störungen, sondern es geht darum, da zu sein. Aufmerksam und achtsam, einfühlsam und menschlich.
 
Hat sich Ihr Umgang mit dem Sterben – dem eigenen und dem der anderen – über die Zeit und durch Ihre Arbeit verändert?
Ja, unbedingt. Das klingt jetzt vielleicht seltsam, aber ich bin mit jeder einzelnen Begleitung auch ein wenig weiser geworden, vielleicht auch demütiger. Der Moment zählt viel mehr. Ich wurde achtsamer, ruhiger und auch bescheidener. Ich lebe heute intensiver, aber vielleicht hängt das auch mit dem Älterwerden generell zusammen (lacht).
 
Warum haben so viele Menschen so grosse Angst vor dem Sterben?
Niemand stirbt gerne. Der Tod ist die äusserste Grenze, an die das Leben uns führt. Wenn wir wählen könnten, möchten wir lieber nicht sterben. Wir hängen an diesem Leben, weil wir nur dieses eine Leben kennen. Der Tod bleibt immer der grosse Unbekannte, der Stachel in unserem Dasein.
 
In Ihrem Buch schreiben Sie von einer grossen Bandbreite, wie Menschen reagieren, wenn sie erfahren, dass sie sterben müssen. Gibt es trotzdem so etwas wie einen übergeordneten Nenner? 
Ja, jeder Mensch stirbt seinen eigenen Tod. Das berühmte Lied von Frank Sinatra, «I did it my way», kann man auch auf unser Sterben beziehen. Jeder Mensch stirbt auf seine ganz eigene Weise. Und vielleicht ginge es letztlich darum, dieses Sterben auch persönlich und auf meine mir eigene Art zu gestalten. Wie will ich sterben? Das ist eine grosse und wichtige Frage und die Antwort darauf sollten wir irgendeinmal in unserem Leben für uns finden. Möglichst bevor der Tod anklopft.
 
Dass das Sterben immer individuell ist, ist also der gemeinsame Nenner?
Ja. Und vielleicht die Trauer. Trauer und Herzweh um und über all das, was nicht mehr möglich sein wird: Lachen, Glück empfinden, essen, trinken, feiern, reisen, singen, tanzen. Trauer, dass man alles und vor allem die Lieben hinter sich lassen muss. Nie mehr in den Wald gehen, nie mehr im See schwimmen, nie mehr zusammen eine Pizza essen, nie mehr einander umarmen oder intime Nähe erleben.
 
Erzählen die Menschen in ihren letzten Tagen lieber von diesem Guten?
Menschen erzählen vor allem, was ihnen wichtig ist. Was sie beschäftigt. Alles kann hier zum Thema werden. Es gibt keine Tabus. Meist erzählen sie mir aber tatsächlich von schönen, prägenden Momenten in ihrem Leben. Aber auch das Schwere und Schwierige, das Traurige und Offene kommt zur Sprache und all das, was vielleicht nicht gelungen ist und was schmerzt. Ich versuche, den Fokus aber auch ganz bewusst auf das Schöne und das Gelungene zu lenken. 
Noch etwas grundsätzlicher: Was sind die Themen, die die Menschen kurz vor ihrem Tod am meisten beschäftigen?
Ich begegne Themen wie Angst. Aber nicht Angst vor dem, was nach dem Tode kommt, sondern Angst vor einem unwürdigen, endlosen Sterben, Angst vor Schmerzen, vor Hilflosigkeit, vor dem langsamen Ersticken und Angst davor, am Ende völlig abhängig zu sein, nicht mehr selber entscheiden zu können. Ferner geht es manchmal um die eigene Abschiedsfeier, welche Musik zum Beispiel gespielt werden soll. 
 
Es geht also um Alltägliches?
Ja. Aber manchmal geht es auch um grosse Fragen wie derjenigen nach dem Sinn oder was am Ende trägt. Und, das mag jetzt vielleicht erstaunen: Oft geht es darum, dass mir Menschen anvertrauen, dass sie jetzt endlich sterben möchten.
 
Wie steht es um die grossen theologischen Themen?
Auferstehung, das Jüngste Gericht, Rechtfertigung, Sünde und Vergebung oder gar ewiges Leben haben die Menschen am Ende überhaupt nicht mehr auf ihrem Schirm. Das finde ich doch bemerkenswert. 
 
Ein anderes grosses Thema ist das Bereuen. 
Das ist vielleicht jene Erfahrung in all meinen Sterbebegleitungen, von der ich am meisten überrascht war. Die meisten Menschen sterben nach dem Motto von Edith Piaf: «Non, rien de rien, non, je ne regrette rien». Für viele gilt auch das, was Frank Sinatra im bereits erwähnten Hit «My Way» besungen hat: «Ja, es mag ein paar Dinge geben, die ich bereue. Aber es sind zu wenige, um sie überhaupt zu erwähnen». Es ist genau diese Haltung, die ich am Ende bei vielen Menschen erfahren durfte.
 
Je ne regrette rien. Tatsächlich?
Es gibt natürlich immer Dinge, die bereut werden. Zum Beispiel einen nahen Menschen verletzt zu haben oder unfair gewesen zu sein zu einer Person. Eltern bereuen, dass sie zu wenig Geduld hatten mit den Kindern oder man bedauert, dass man sich zu wenig Zeit nahm für die schönen Dinge im Leben. Aber dann kommt bei vielen sterbenden Menschen auch die Einsicht – und das ist der springende Punkt –, dass das dazugehört. Es ist die Einsicht, dass das Leben nie perfekt ist, dass Glück immer bruchstückhaft und dass das vollkommene Leben ein Trugschluss bleibt. 
 
Kommen wir zu Ihrem Buch. Wie kann man sich den Entstehungsprozess vorstellen?
Jahrelang trug ich die Begegnungen mit Sterbenden in mir und mit mir herum. Ich hatte auch Notizen gemacht. Wichtig ist mir dabei: Ich mache nie Notizen während eines Gesprächs, sondern immer erst danach. Und irgendwann – es war während des Lockdowns und den täglichen Zahlen von neu an Corona verstorbenen Menschen – entschloss ich mich, ein Buch über meine Art von Sterbebegleitung und über meine Erfahrungen zu schreiben. Ich hatte Zeit.
 
Wie lange hat es gedauert?
Sagen wir es mal so: 85 Prozent des Buches schrieb ich innerhalb von drei Monaten. Das Recherchieren, Umschreiben, Streichen und Ergänzen nahm dann den grössten Teil in Anspruch – insgesamt fast ein Jahr für die restlichen 15 Prozent.
 
Mit Ihren Büchern und Beiträgen haben Sie in Kirchenkreisen immer wieder für Aufsehen und rege Diskussionen gesorgt. Vieles liegt nun mehrere Jahre zurück. Trotzdem: Was bleibt beim Blick zurück?
Als ich noch ein junger Pfarrer war, frisch von der Universität, habe ich fest daran geglaubt, etwas verändern zu können innerhalb der Kirche. Ich träumte davon, lebendige Feiern zu gestalten, Menschen zu berühren, zu trösten und zu ermutigen, Neues zu wagen. Aber dann merkte ich nach und nach, dass die Kirche und viele ihrer Entscheidungsträger in ihrer eigenen, frommen Blase leben und darin gefangen sind. Mehrmals wurde ich wegen meiner Ideen vor den Synodalrat zitiert und ermahnt. Man wollte diesem Pfarrer aus dem Berner Seeland die Flügel stutzen. Obwohl mir der damalige Synodalratspräsident unter vier Augen einmal sagte: «Daniel, unsere Kirche braucht Pfarrer, genau wie du einer bist!» Schliesslich hängte ich meinen Talar an den berühmten Nagel und stieg von der Kanzel herunter. Dort oben war mir die Luft eh immer ein wenig zu dünn. 
 
Wie reagiert die Kirche heute auf Sie?
Von offizieller Seite wurde mir schon mehrmals der Austritt aus der Kirche nahegelegt und mir wurde mitgeteilt, dass meine Arbeit als freier Theologe in «Konkurrenz» zur Kirche stehen würde. Für die Berner Landeskirche mit einem jährlichen Budget von rund 150 Millionen Franken, die zu 100 Prozent durch den Kanton und die Kirchensteuern subventioniert wird, bin ich also ein Konkurrent. Das nenne ich mal eine Auszeichnung. Stellen Sie sich vor: Novartis würde dem Dorfapotheker aus einem Kaff aus Konkurrenzgründen verbieten, seinen hauseigenen Hustensaft zu verkaufen. Dies nur, damit wir mal die Relationen sehen.
 
Wird es aufgrund Ihrer Antworten in diesem Interview erneut Reaktionen aus der Kirche geben?
Kann sein, vielleicht. Ich orientiere mich schon lange nicht mehr an kirchlichen Äusserungen. Sie sind für mich einfach nicht mehr relevant. Es gibt absolut keine Schnittstelle mehr zwischen der Kirche und meinem heutigen Leben, meiner beruflichen Tätigkeit, meinen persönlichen Lebensthemen. Ich denke, dass es immer mehr Menschen genau gleich ergeht. Seien wir doch ehrlich: Die Kirchen – reformiert, katholisch, orthodox und freikirchlich – berühren die meisten Menschen einfach nicht mehr. 
 
Welche Verbindung haben Sie heute zu der traditionellen Kirche?
Die Kirche hat für mich längst nicht mehr das Monopol für den christlichen Glauben.
 
Was heisst das?
Ich erlebe die Institution Kirche heute vor allem restriktiv und einengend. Es gibt Kirchgemeinden und Pfarrer, die sich zum Beispiel weigern, ihre Kirchen und Räumlichkeiten zur Verfügung stellen, wenn ich als freier Theologe eine Abschiedsfeier gestalten möchte – wohlgemerkt für verstorbene Mitglieder der Kirche, die ein Leben lang Kirchensteuern bezahlt haben. Das verstehen viele nicht. 
 
Wie hat sich Ihr Glaube über die Jahre verändert? 
Ich bin immer noch ein zutiefst religiöser Mensch und glaube an Gott. Aber mein Glaube und meine Religion haben sich in den letzten Jahren tief gewandelt.
 
In welcher Weise?
Meine Religion braucht weder Kirchen noch Kathedralen noch Synagogen, weder Moscheen noch Tempel noch heilige Stätten. Sie ist nicht das «Opium des Volkes» und schon gar nicht das «Gott ist gross» der Fanatiker. Sie ist auch nicht das leere Geschwätz der Theologen und niemals die Diktatur der Frommen. In Wahrheit kennt sie weder Sünde noch Hölle. Religion ist für mich die farbige Poesie der Seele. Sie ist die Quintessenz und der Grund menschlicher Existenz. Sie ist Kunst. Sie ist Musik. Sie ist Kreativität. Sie mutet allen Menschen zu, Dichterinnen und Poeten zu sein.
 
Werden wir konkreter: Was kritisieren Sie an traditionellen kirchlichen Abdankungen?
In einer klassischen kirchlichen Abdankung geht es immer um eine kirchliche Botschaft. Es geht darum, Leben und Tod eines Menschen im Lichte des Evangeliums zu betrachten und sein Leben Gott anzuvertrauen.
 
Was stört Sie daran?
Für eine immer grösser werdende Mehrheit geht es in einer Abschiedszeremonie heute eben gerade nicht um Gott und das ewige Leben, sondern um das Ende eines Lebens. Der Tod eines Menschen wird betrauert. Es geht um die Tatsache, dass mit dem Tod eines nahen Menschen unser eigenes Leben ärmer geworden ist. Mit der Abschiedsfeier würdigen wir die verstorbene Person und fragen nach ihren Spuren in unserem Leben. Diese veränderte Sicht wird heute vielerorts an einem Detail sichtbar: Früher gab es bei einer Abdankung kaum ein Bild des Verstorbenen in der Kirche oder in der Abdankungshalle – dafür ein Kreuz oder einfach die Osterkerze. Heute steht bei vielen Trauerfeiern neben der Urne oder dem Sarg ein Bild der verstorbenen Person.
 
Wie bereiten Sie eine Abdankung vor?
Ich lasse mich ganz auf den verstorbenen Menschen, sein Leben und was ihm wichtig war, ein. Das ist immer sehr spannend. Ich lerne Menschen sehr oft erst nach ihrem Tod kennen, wie sie in der Erinnerung ihrer nächsten Angehörigen und Freunden gegenwärtig sind. Wer hier nur von reiner Lobhudelei spricht, irrt gewaltig. Es geht darum, dem Leben eines Menschen gerecht zu werden. Insofern geht es hier um Rechtfertigung, aber nicht mehr vor Gott, sondern vor uns allen.
 
Sie erfüllen persönliche Bestattungswünsche, auch ausgefallene. Sie gehen an unterschiedliche Orte, sie sorgen für Musik und Worte. Immer wieder ist die Kritik zu hören, dass solche Abschiedsfeiern «egoistische Selbstinszenierung» seien. Was entgegnen Sie?
Ich habe bis heute mehrere Hundert solche Begleitungen mit anschliessenden Beisetzungen in der Natur geleitet und eines kann ich hier mit Bestimmtheit sagen: Es waren nie Bestattungswünsche à la Hollywood darunter, keine egoistischen Selbstinszenierungen – also kein Sarg im roten Ferrari, keine Urnenbeisetzung auf dem Fussballplatz und auch kein Verstreuen der Asche aus dem Heissluftballon. Das sind alles völlig übertriebene Schauermärchen einer angeblich und vermeintlich neuen Bestattungskultur, die immer mehr aus dem Ruder laufe. Nichts von alledem kann ich aus meiner Erfahrung bestätigen. 
 
Was haben Sie denn miterlebt?
Unzählige berührende, würdige und würdevolle Feiern in Gärten, im Wald, auf einem See, in den Alpen oder am Meer. In diesen Abschiedszeremonien wurde geweint, nachgedacht und geschmunzelt. Verstorbene wurden mit viel Liebe, Wärme und Achtsamkeit verabschiedet. 
 
Sie äussern sich nicht nur kritisch gegenüber der Kirche, sondern auch gegenüber sogenannten Jenseitskontakten, die Mentalisten und Hellseherinnen ermöglichen. Was genau kritisieren Sie?
Einen nahen und lieben Menschen durch den Tod zu verlieren, zieht den Angehörigen sehr oft den Boden unter den Füssen weg. Alles ist plötzlich infrage gestellt, nichts ist mehr, wie es war. Und dann kommt ein sogenanntes «Medium» und behauptet: «Die verstorbene Person lebt in der geistigen Welt und ich kann mit ihr Kontakt aufnehmen». Für viele Hinterbliebene klingt das erst einmal tröstlich und macht neugierig.
 
Dagegen ist doch nichts einzuwenden.
Was mir dann auffällt, ist die Tatsache, dass das vermeintliche Leben in dieser «geistigen Welt» immer auffallend dem Leben der verstorbenen Person im Diesseits gleicht. Es gibt keine neue Dimension. Hinzu kommen die trivialen Botschaften dieser «Geistwesen»: «Es geht mir jetzt gut» oder «Alles ist okay». Sie suggerieren uns Trost, aber es ist meist nur warme Luft. Billiger Trost eben, selbst wenn es ziemlich viel kostet. Es ist offensichtlich ein lukratives Geschäft mit dem Tod und der Sehnsucht der Menschen, mit ihren lieben Verstorbenen wenigstens ein wenig in Kontakt zu bleiben. Das kritisiere ich. 
 
In Kontakt bleiben mit denen, die gegangen sind, ist doch etwas Schönes.
Ich bin davon überzeugt, dass unsere Verstorbenen uns auch ohne diese Medien nahe sind und uns weiter begleiten auf unserem Weg, wenn auch auf eine neue Art. Sie mögen zwar aus unserem Alltag verschwunden sein, aber in unseren Herzen bleiben sie präsent und sind weiterhin «da». Für diese Erfahrung und Erkenntnis braucht es eben gerade kein Medium.  
 
Es geht bei diesen Fragen ja oft auch um Rituale. Was halten Sie davon während der Sterbebegleitung?
Grundsätzlich gilt: Rituale können helfen, die Sprachlosigkeit oder eine Art von Schockstarre zu überwinden. Das ist bei Sterbe- und auch Trauerbegleitungen von grosser Bedeutung. Rituale können uns zum Beispiel im Prozess des Loslassens unterstützen; ja sie helfen, den schwierigen Moment des Abschieds zu bewältigen.
 
Wo gilt es, wachsam zu sein?
Es darf nie irgendein Druck – auch kein subtiler – ausgeübt werden. Der Wunsch muss immer von der sterbenden Person kommen. Was zum Beispiel die Sterbebegleiterin toll findet, muss nicht unbedingt auch für den sterbenden Menschen gelten. Darum: Vorsicht vor Klangschalen und Räucherwerk, Heil- und Bergkristallen, Federn und Duftölen. Dasselbe gilt auch für Berührungen und Segnungen, Gebete und Lieder. Hier sollte man zuerst genau die Bedürfnisse klären. 
 
Zurück zum Buch: Die grosse Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross hat das Modell der fünf Phasen des Sterbens – Leugnung, Zorn, Verhandeln, Depression, Akzeptanz – beschrieben. Sehen Sie das ähnlich?
Diese fünf Sterbephasen kann ich aus meinen Erfahrungen mit Sterbenden gerade nicht bestätigen. Natürlich gibt es manchmal auch das «Verhandeln» am Ende des Lebens oder Zorn. Aber die fünf Phasen als eine fixe Abfolge scheinen mir aus meiner Sicht keine adäquate Beschreibung des Sterbeprozesses zu sein.
 
Liegt hier Kübler-Ross Ihrer Meinung nach also falsch?
Ja, hier irrte sie – trotz ihren über 30 Ehren-Doktortiteln. Ich habe eine andere Erfahrung gemacht: Vom Sterben betroffene Menschen werden von Wellen ambivalenter Gefühle überschwemmt, manchmal ist es eine abgrundtiefe Traurigkeit oder Verzweiflung, dann wieder Mut und Hoffnung. Manchmal sind sie zornig oder auch heiter. Aber diese Gefühle und Empfindungen kommen und gehen, wie Wellen eben. Es gibt keine bestimmte Reihenfolge, keine Stufen.
 
Wo machen Sie sonst noch Fragezeichen?
Wo steht eigentlich geschrieben, dass man am Ende den Tod immer akzeptieren und annehmen muss, wie Kübler-Ross suggeriert? Ist ein guter Tod immer nur ein Tod, den wir am Ende zulassen und uns einverstanden erklären mit ihm? Jeder Mensch hat das unabdingbare Recht und die Freiheit, seinen Tod nicht einfach annehmen zu müssen, sich nicht zu versöhnen mit ihm, sich aufzulehnen – bis zum Schluss.
 
Geht es bei der Sterbebegleitung also vor allem um dies: Aushalten? 
Ja, Sterbebegleitung muss aushalten können. Sie predigt nicht, sie gibt keine billigen und schnellen Antworten, sie vertröstet nicht mit schönen (Bibel-)Sprüchen und Worten. Sterbebegleitung, wie ich sie verstehe, heisst nicht einfach, dass man sich ans Bett eines sterbenden Menschen setzt und ihm irgendwie Trost spendet. Es ist viel mehr: In einer gelungenen Sterbebegleitung geht es letztlich um «Deutung und Auslegung der Existenz», wie es der Philosoph Peter Sloterdijk nennt. So verstandene Sterbebegleitung fragt nach dem, was Menschen im Leben und im Sterben trägt, was sie ermutigt, ihnen und ihrem Dasein Sinn und Inhalt verleiht, kurz: alles, was ihrer Seele jetzt guttut. Es geht in der Sterbebegleitung auch um eine Grundhaltung: Ich bleibe an deiner Seite, mag kommen, was will. Ich bleibe bis zum Schluss. Insofern geht es um den Mut, diese Leere, die der Tod darstellt, auszuhalten, dem nahenden Tod in die Augen zu schauen und nicht einzuknicken. 
 
Am Schluss geht es um nichts anderes als loszulassen. Und zwar alles. Wir müssen uns von all dem lösen, was uns wichtig war, was wir liebten, zuletzt auch von uns selbst. Wie kann das gelingen?
Ich mache immer wieder neu diese Erfahrung, wie Menschen am Schluss loslassen können. Das sind mitunter meine schönsten Erfahrungen. Wenn ich spüre, wie Sterbende kurz vor dem Tod zu einer inneren Ruhe finden, zu einem: Es ist in Ordnung. Als ob eine unsichtbare Hand oder Kraft plötzlich das Ruder übernimmt. Das hat mich immer tief berührt, bewegt, sogar getröstet. Und genau diese Erfahrung wünsche ich jedem Menschen, wenn es einst bei ihm ans Sterben geht.
 
Wie stehen Sie zu Sterbeorganisationen wie Dignitas oder Exit?
Leider braucht es diese Organisationen. Das ist meine Erfahrung. Ich habe jetzt schon mehrere Menschen auf diese Weise in den Tod begleitet. Aber ich wünschte mir, dass es in Zukunft auch staatliche Anlaufstellen gäbe, wenn jemand den tiefen und innigen Wunsch hat, sein Leben auf eine würdige Weise zu beenden. Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass Suizide leider geschehen. Wir können sie – bei aller Prävention – nie vollkommen verhindern. Und dann ist es besser, wenn man dank einer Sterbeorganisation ein Medikament trinken kann, als irgendwo unter einen Zug zu springen oder sich von einer Brücke fallen zu lassen. Wenn jemand todkrank ist oder ihm das Leben durch und durch verleidet ist, sollte er auf eine würdige Weise gehen dürfen und die Gesellschaft sollte es diesem Menschen ermöglichen, sein Leben zu beenden. Aber das ist meine Meinung. 
 
Können Sie sich denn eine Situation vorstellen, in der Sie Ihr Leben durch Selbsttötung beenden würden?
(denkt nach) Ich will hier – einmal mehr – ganz ehrlich sein. Ja, das kann ich mir durchaus vorstellen. Aber die Situation müsste aussichtslos sein. Und fragen Sie mich jetzt bitte nicht, wie ich es machen möchte. Das weiss ich nämlich nicht. 
 
Immer wieder wird von der sogenannten Bucket-List gesprochen, der Liste der Dinge, die man vor dem Tod noch gemacht haben möchte. Führen Sie auch so eine Liste?
Sie werden jetzt wohl lachen, aber ja, ich führe so eine Liste. Allerdings sind bei mir schon viele Wünsche und Träume durchgestrichen, aber manchmal ist es auch schön, sich oder anderen Menschen Herzenswünsche mehrmals zu erfüllen oder immer wieder neu. Das versuche ich. Und doch wird es auch bei mir Wünsche geben, die für immer Träume bleiben werden. Das ist auch gut so. Ich muss nicht alles gesehen im Leben, nicht jeden Wein gekostet, nicht jeden Ort besucht und nicht jede Erfahrung gemacht haben. 
 
Verraten Sie uns einen dieser Wünsche?
(lacht) Ja, den Wunsch, den ich vor Kurzem auf meiner langen Liste durchstreichen durfte. Jahrelang stand da nämlich: Tango tanzen lernen. Seit November besuche ich mit meiner Frau einen Kurs. Aber es gibt auch andere, nicht materielle, sondern vielmehr ideelle, soziale, emotionale Wünsche in Bezug auf Beziehungen und Begegnungen. 
 
Welche denn?
Herzenswünsche sollten man niemals aussprechen, sondern sich in stillen Stunden, wenn zum Beispiel ein Stern vom Himmel fällt, leise etwas ganz fest wünschen. Und solche Wünsche habe ich noch einige, ja.
 
Wenn Sie nur noch eine Stunde zu leben hätten. Was würden Sie tun?
Vielleicht ein kühles Bier trinken? Oder ein Glas Rotwein geniessen? Aber schwer, gut und fruchtig müsste er sein, mit einem langen, intensiven Abgang. Oder einen Teller Spaghetti mit Pesto rosso zubereiten oder meine wunderbare Frau küssen? Oder vielleicht sogar alles zusammen? Ginge das auch?
 
Möchten Sie vor oder nach Ihrer Partnerin sterben?
(schmunzelt) Ich habe Glück. Ich habe eine viel jüngere Ehefrau. Ich werde sie also mit grosser Wahrscheinlichkeit und statistisch gesehen nicht überleben. Viele Ehemänner wünschen sich übrigens, vor ihrer Frau zu sterben. Das finde ich interessant und sagt etwas über die Männer aus.
 
Sie nennen die Zeit nach dem Tod in Ihrem Buch das «grosse Vielleicht». Warum?
Der Tod bleibt ein Mysterium. Wir können ihn – im wahrsten Sinne des Wortes – letzten Endes nicht begreifen, höchstens einigermassen würdevoll bestehen. Darum: Niemand kann wissen, was nach dem Tod kommt oder eben nicht. Das ist alles immer nur spekulativ. Wer behauptet, hier mehr zu wissen, der nimmt für sich ein Wissen in Anspruch, das ausserhalb unseres Horizontes liegt. Aber wir können vertrauen. Der Berner Pfarrer Kurt Marti sagte dies einmal wunderschön in einem seiner Gedichte: «Wenn Gott will, dass nach dem Tode nichts ist, ist ‹nichts› gut. Wenn er will, dass etwas ist, ist ‹etwas› gut.» Das genügt mir. Darum rede ich lieber vom «grossen Vielleicht».
 
Wie steht es um die «unsterbliche Seele»?
Bereits die alten Ägypter und die Griechen glaubten an eine «unsterbliche Seele» und stellten sich vor, dass diese Seele unseren individuellen Tod irgendwie überlebt. Aber die Frage ist halt, was sie damals meinten. Und was meinen wir heute mit diesem Begriff? Meinen wir zum Beispiel, dass unser Bewusstsein nach unserem Tod körperlos weiterexistiert? Aber nach allem, was wir heute über den Sterbevorgang wissen, ist der Tod am Ende unseres Lebens ein umfassendes Ereignis und betrifft unseren Körper, unseren Geist, also auch unser Bewusstsein, und unsere Seele, die Gefühle und den Willen. Wir sterben also sozusagen mit «Leib und Seele».
 
Was heisst das für Sie?
Mit meinem Tod höre ich als Individuum auf zu existieren. Wir können das bedauern oder darüber froh sein, wir können es gut, schlecht oder auch schade finden. Ist es nicht letztlich eine Form von Selbstüberschätzung, wenn ich für mich in Anspruch nehme, ewig zu leben? Ob unser Tod allerdings auch unsere Vernichtung bedeutet, das ist dann eine andere Frage.
 
Was denken Sie?
Vielleicht werden Sie jetzt überrascht sein, aber auch das Christentum kennt keine «unsterbliche Seele». Dieser Begriff kam erst später durch die griechische Philosophie in den christlichen Glauben hinein. Nach urchristlicher Auffassung hingegen stirbt im Tod der ganze Mensch. Interessanterweise ist das auch in den östlichen Religionen so: Am Ende der Seelenwanderung, so der Hinduismus, geht die Seele in das Nirvana ein. Nirvana meint wörtlich das Verwehen, das Nichts. Es ist die Einkehr in die absolute Stille der Schöpfung. 
 
Also doch keine «Vernichtung»?
Nein. Der Philosoph Arthur Schopenhauer schrieb einmal: «Denn im Tode geht allerdings das Bewusstsein unter; hingegen keineswegs das, was bis dahin dasselbe hervorgebracht hatte.» Darauf vertraue ich und darum nenne ich, wie gesagt, den Tod das «grosse Vielleicht».
 
Sie brauchen im Buch ein eingängiges Bild. Dasjenige von den Wellen.
Im Meer steigen Wellen auf und verschwinden wieder darin. Von der Welle her betrachtet entsteht sie, «ist» einen Moment und dann vergeht sie wieder. Jedes individuelle Lebewesen gleicht so einer Welle. Jedem von uns kommt eine gewisse Zeit «Sein» zu, bevor wir wieder «sterben». Aber: Wenn die Welle im Meer aufsteigt, dann ist sie immer noch das Meer, genauso wie sie es war, bevor sie anstieg. Und das Meer wird dasselbe sein und bleiben, wenn die einzelne Welle schon längst nicht mehr «ist».
 
Worauf wollen Sie hinaus?
Formen kommen und verschwinden wieder, die Wirklichkeit bleibt, wie sie ist. Alle Veränderungen sind nur scheinbar. Tief im Kern verändert sich niemals etwas. Das Meer bleibt das Meer. Darum: Es ist im Grunde ganz einfach: Das Geheimnis von Leben und Tod besteht vielleicht letztlich darin, dass wir zugleich Welle und Meer sind.
 
Zur Person, zum Buch
Daniel Kallen wurde 1963 im Berner Oberland geboren, heute wohnt er in Gerolfingen. Lehrerseminar in Spiez, Theologiestudium in Bern, Ordination zum Pfarrer. Lange Zeit Pfarrer in Sutz-Lattrigen. Seit 16 Jahren ist Kallen nun als freier Theologe unterwegs in der ganzen Schweiz. Er hat mehr als 700 Paare getraut, unzählige Kinder getauft und Hunderte Menschen in der Trauer, im Sterben und im Tod begleitet. Daneben ist er als einer der ersten kirchen-unabhängigen Spitalseelsorger der Schweiz an der Hirslanden Klinik Linde in Biel tätig. Bekannt geworden ist er unter anderem durch sein religionskritisches Buch «und töte Frauen, Kinder und Säug-linge ...» (2002), das die Gewalt in biblischen Texten thematisiert und für einigen Wirbel sorgte. Sein neues Buch «Man stirbt nur einmal – Begegnungen am Sterbebett» ist diese Woche im Berner Zytglogge Verlag erschienen und kostet 26 Franken. Erhältlich online unter www.zytglogge.ch oder in jeder Buchhandlung. 

 

Stichwörter: Sterbehilfe, Tod, Sterben, Theologie

Nachrichten zu Seeland »