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Wanderprojekt

Der Weitwanderer

Seit seiner Pensionierung ist Bruno Petrini aus Aspi 11 670 Kilometer kreuz und quer durch Europa gewandert. Das Coronajahr zwang ihn zu einem Unterbruch, heuer soll es weitergehen. Nun hat er seine Erlebnisse in Buchform veröffentlicht.

Bruno Petrini wandert genauso gern am Frienisberg wie durch ganz Europa. Bild: Matthias Käser

Andrea Butorin
«11 670 kilomètres à pied, ça use les souliers.» Nein, Bruno Petrini hat dieses französische Kinderlied unterwegs nicht gesungen. Die französische Sprache liegt ihm nämlich nicht besonders. Schuhe aber hat er einige verbraucht: In jedem Wanderjahr ein Paar. 12 Wanderungen in 11 Jahren, 11 Paar Wanderschuhe, 11670 Kilometer kreuz und quer durch Westeuropa.
2020 hätte es weitergehen sollen, doch Corona vereitelte die geplante Reise durch Norddeutschland. Dafür ist letztes Jahr Bruno Petrinis Buch «11 670 Kilometer. Meine Fussreisen durch Europa» erschienen – die gesammelten Aufzeichnungen des bisher Erlebten.

Bruno Petrinis zwölf bisherige Wanderungen

Grafik: BT/ml

Bis 30 Kilometer pro Tag

Beim Wandern lässt es sich am besten übers Wandern berichten. Für das Gespräch mit dem BT schlug Petrini deshalb eine kleine Runde über seinen Hausberg vor, den Frienisberg. Treffpunkt: Frieswil Dorf. In bloss zehn Minuten gelangt man ab hier zum Waldrand mit wunderbarer Aussicht über das Seeland und die Jurakette.
Der Grossgewachsene schlägt einen flotten Schritt an. Kein Wunder: Auf seinen Touren geht er durchschnittlich 25 bis 30 Kilometer am Tag.  
Auf das Fernwandern hatte ihn sein Freund Max Steiner gebracht: Die beiden Hobby-Ballonfahrer waren zusammen auf einer Nachtfahrt. Neu-Pensionär Steiner war eine Woche zuvor von seiner ersten Weitwanderung nach Paris zurückgekehrt. Begeistert berichtete er Bruno Petrini von seinen Erlebnissen. Dieser fand, das könnte ein gutes Projekt für seinen dritten Lebensabschnitt sein. Wandern und Reisen liebte er schon immer. Bloss an Paris als idealem Fernziel zweifelte er; das Französisch ...
Bis zur Frühpensionierung mit 58 Jahren verblieben dem Militärinstruktor ab da noch fünf Jahre, um diese Idee zu konkretisieren: Er ging auf Übungswanderungen, optimierte die Ausrüstung, übte die Handwäsche seiner Funktionskleidung und studierte eine Unmenge an Karten. Dann fand er: «Wien, das wärs.»
Am 30. August 2008 war es soweit. Um 6.55 klingelte der Wecker Petrini nach einer kurzen Nacht aus dem Schlaf. Am Vortag war sein allerletzter Arbeitstag gewesen, den er mit Familie und Freunden bis weit in der Nacht ausklingen liess. Mit seiner Frau Hanni fuhr er anderntags vom Wohnort Aspi nach Bern. Denn sein Ziel war, von Hauptstadt zu Hauptstadt zu wandern. In Bern erwarteten ihn viele Freunde und Bekannte. Auch die damals 87 Jahre alte und inzwischen verstorbene Mutter war aus dem thurgauischen Sirnach angereist, um Bruno Petrini zu verabschieden. «Sie machte sich grosse Sorgen um mich, deshalb versprach ich ihr, täglich eine Postkarte zu schicken», erzählt er.
 

Kein Bier am Oktoberfest
An Tag 13 flickte ihm eine Gastwirtin ungefragt die gewaschenen Wandersocken. Im oberbayrischen Hohenpeissenberg lud ihn ein Rentner spontan ein, sich einen stillgelegten Bergwerksstollen anzusehen. «Er überreichte mir den Schlüssel, machte das Licht an und sagte: Schauen Sie sich ruhig überall um, es ist nirgends gefährlich. Machen sie dann einfach das Licht wieder aus und bringen Sie den Schlüssel zurück», erzählt Petrini, der tat wie geheissen.
In München war gerade Oktoberfest. Petrini schaltete zwei Ruhetage ein, um sich das und weitere Sehenswürdigkeiten anzusehen.

Beim Verabschieden möchte die Chefin von mir noch genau wissen, wie das gestern am Oktoberfest war. Ich hätte einige Fotos in den Bierzelten geknipst, und auch der beeindruckende Umzug würde sich lohnen, anzuschauen; Bier hätte ich indes keines getrunken. Denn erstens sei ich um 9 Uhr noch nicht in der Lage dazu und zweitens mochte ich hierfür nicht anstehen, erzählte ich der wissensdurstigen Gastgeberin.

Bild: Bruno Petrini

Jeden Tag füllte er sein Notizbuch mit Erlebnissen, Begegnungen oder Wetterbeschreibungen, und auch die tägliche Postkarte an die Mutter ging nie vergessen. Nach 48 Tagen und 1051 Kilometern marschierte er in Wien ein. Hier empfing ihn seine Frau Hanni, und das Paar verbrachte gemeinsam drei Tage in Österreichs Hauptstadt.
 

Mit Hanni nach Vaduz
«Ich gehe gern, aber ich bin dann auch gern wieder daheim», sagt Petrini. Er freute sich auf zuhause, auf den Chutzenturm und auf die Bienenvölker, die seine Frau und er fast 40 Jahre lang hielten und erst vor kurzem an eine jüngere Familie weitergegeben haben. Aber ihm war klar: «Das Weitwandern gefällt mir, und solange es geht, werde ich damit weitermachen.»
Bruno Petrini mag es gern strukturiert. Es folgten deshalb zunächst alle weiteren benachbarten Hauptstädte. 2009 ging es nach Rom. Um sich in Italien verständigen zu können, machte er vorher einen Sprachkurs:«Leider hat mir meine aus dem Piemont eingewanderte Familie das Italienisch nicht weitervererbt», berichtet er, während wir den Frienisberger Wald in Richtung Südseite durchqueren.
Im dritten Jahr fühlte er sich erfahren genug, um Paris in Angriff zu nehmen. Nach dieser Frühlingswanderung begleitete ihn seine Frau Hanni im Herbst desselben Jahres auf den 240 Kilometern bis Vaduz. Ihr Fazit nach der elftägigen Wanderung: «Es war schön, aber nächstes Jahr kannst du wieder alleine nach Berlin.» Im Sommer sei sie lieber daheim als unterwegs, das sei schon früher so gewesen, als die Töchter noch zuhause lebten, wird Hanni Petrini später in Aspi berichten. «Bruno wäre am liebsten in jeden Sommerferien weggefahren, und ich blieb lieber bei meinem Garten.»
«In der Schweiz war ich halt beruflich schon oft unterwegs», sagt Bruno Petrini. Als Militärinstruktor für elektronische Armeegeräte im Dienstgrad eines Stabsadjutanten war er zwar in Lyss stationiert. Er kam aber viel herum und arbeitete auch mal an exklusiven Telekommunikationsstandorten in den Schweizer Bergen. Die vielen Wochen- oder Wochenendeinsätze konnten die Instruktoren damals nicht direkt kompensieren, dafür wurden sie bereits mit 58 Jahren pensioniert.
Und der Familienkonflikt? Den lösten Petrinis gutschweizerisch mit einem Kompromiss: Im einen Jahr blieben sie zuhause, im nächsten gings ins Ausland. Nach Frankreich oder England etwa. Nachdem die Töchter flügge wurden, machten Hanni und Bruno Petrini auch grössere Reisen, zum Beispiel nach Indonesien, China, Taiwan oder Russland.
 

Er will bei den Menschen sein
Um die Städte, seine Endziele, ist es Petrini bei den Weitwanderungen nicht gegangen. In manchen ist er einige Tage geblieben, andere verliess er, kaum angekommen. Nach ihrer Ankunft in Vaduz gönnten sich Bruno und Hanni Petrini einen Kaiserschmarren und stiegen dann in den nächsten Zug. Er sagt: «Viele meiner Ziele kannte ich schon, und in Grossstädten gefällt es mir nicht so gut.»
Viel wichtiger seien ihm die Begegnungen mit den verschiedensten Menschen: die Frau, die ihm spontan einen Apfel schenkt, der Mann, der lange auf dem Velo neben ihm herfährt und von seinem Arbeitsleben erzählt, die anständigen Kinder auf Schulreise. Menschen treffen, draussen sein, das ist ihm Ansporn genug. Petrini wandert, er pilgert nicht:«Meine Reisen haben keinen spirituellen Hintergrund.»
Auf jeder Reise führt er kiloweise Kartenmaterial mit. Sich nur auf das Handy zu verlassen, liegt ihm nicht. Ausserdem schaut er sich gern das «grosse Ganze» an, nicht nur den Abschnitt, in dem er sich gerade befindet. Diese Karten sind nicht immer von gleicher Qualität. «Gerade in Italien sind sie oft veraltet. Und so landet man plötzlich an einem Zaun oder einem unüberwindbaren Gestrüpp.»
Seinen Weg bestimmt er selber; auf den markierten Wanderwegen geht er nur selten. «Ich sehe lieber, wo die Menschen leben und arbeiten, als dass ich die Dörfer auf einem schönen Panoramaweg umgehe.»
 

Wegen Schnee nach Hause
Am liebsten bricht er gegen Ende August zu seinen Touren auf, weil da die Sommerferien zu Ende gehen und es in den Unterkünften wieder mehr Platz gibt. Anfangs gehörte es zu Bruno Petrinis Konzept, keine Unterkünfte im Voraus zu buchen. Dabei muss man natürlich auf negative Überraschungen gefasst sein. «Nun bin ich älter geworden und opfere etwas Spontanität, dafür weiss ich, dass ich am Abend ein Dach über dem Kopf habe», sagt er.
Zweimal hat er seine Touren für einen kurzen Abstecher nach Aspi unterbrochen: Auf seiner Frühlingswanderung nach Paris wurde er im Val de Travers von Schneefall überrascht. Nach einem Ruhetag daheim setzte er die Tour in Môtier wieder fort. Das zweite Mal kehrte er für eine Nacht von Basel nach Hause: «Wegen einer Messe waren die letzten freien Zimmer komplett überteuert. Da fuhr ich lieber heim.»
Erlebte er unterwegs gefährliche Momente? «Nein, absolut nicht, das ist schliesslich Europa», antwortet Bruno Petrini. Einzig in Stuttgart geriet er in die Demonstrationen gegen das Bahnhofprojekt Stuttgart 21, wo ihn einige Teilnehmer etwas schräg angeschaut hätten. Meistens ziehe er das Interesse der Menschen im positiven Sinn auf sich: Sie fragen ihn aus, geben Tipps oder wollen wissen, was er so alles erlebt hat. Sein Geheimtipp: «Ich ziehe mich so normal wie möglich an. Dann sehen mich die Menschen am ehesten als einen von ihnen.»
 

Vom Lobsigensee bis ans Meer
Nach Berlin folgte 2012 die bislang längste Reise von Bern nach Amsterdam. «Die flachen holländischen Landschaften haben mich sehr beeindruckt», sagt der 71-Jährige. Die Holländer dagegen hätten ihn dauernd gefragt, weshalb er aus seiner schönen, bergigen Heimat zu ihnen komme.
Sagts und deutet dabei auf das Alpenpanorama, das an diesem schönen Tag wegen des Saharastaubs milchig am Horizont schimmert. Nun stechen wir in den Tannenwald in Richtung Osten. Auf seinen 11 670 Kilometern hat er die unterschiedlichsten Landschaften gesehen. Langweilig fand er den Abschnitt zwischen Bordeaux und Cap Ferret, seinem Ziel von 2014. Ein steckengerader Weg, umsäumt von monotonem mannshohen Gebüsch.
Im Wald oberhalb von Dampfwil erreichen wir einen Aussichtspunkt, bei dem man weit ins Seeland blicken kann. Er zeigt auf seinen Wohnort Aspi und auf den Lobsigensee, an dem er 2015 die nächste Tour startete. Sein Ziel war, dem Wasser dieses Sees zu folgen, bis es via Lyssbach, Alte Aare, Aare und Rhein im holländischen Hoek in die Nordsee mündet.  


Vom Lobsigensee bis an die Nordsee. Bilder: Bruno Petrini


Über die lange Pier erreiche ich den Leuchtturm und stehe somit an und in der Nordsee. Im Wasser neben mir fliesst hier auch dasjenige vom Lobsigensee ins Meer. Für die 1062 Kilometer lange Strecke benötigt das Wasser etwa zehn Tage. Für meine Wanderung entlang der Bach- und Flussläufe habe ich 1193,1 Kilometer zurückgelegt und war 48 Wandertage unterwegs.
 

Zum Buch überredet
Bald schon nahm Bruno Petrini nicht mehr ein Notizbuch, sondern einen Mini-PC mit auf Tour. Sein Schwiegersohn half ihm, eine Website aufzubauen und die Texte abzufüllen, während er unterwegs war. So ist René P. Moor auf ihn aufmerksam geworden, der mit seiner Edition Wanderwerk Bücher herausgibt, die sich der «autarken Fortbewegung» widmen. Der Schwerpunkt liegt auf Reise- und Expeditionsberichten aus den letzten 400 Jahren. Moor ist selber begeisterter Wanderer und Buchautor und stiess auf Petrinis Website, als er auf der Suche nach Inspiration war.
«René P. Moor musste mich regelrecht überreden, dieses Buch herauszugeben», sagt Petrini. Zugesagt habe er letztlich, weil er hofft, mit dem Buch vielleicht andere Menschen inspirieren zu können. Klassischer Wanderführer ist das Buch aber keins: «Das wäre viel zu viel Aufwand, und man müsste die Touren mehrmals machen, um kompetent darüber berichten zu können», meint er.
Ein neues Netz gespinnt
Nach dem Wasser-Projekt brauch- te er eine neue Struktur und begann, bisher erreich    te Hauptstädte miteinander zu verbinden: Amsterdam-Berlin, Wien-Berlin und Paris-Amsterdam.
2019 spinnte er ein neues Netz und zog von Dresden der Oder und Neisse entlang durch die Weite Ostdeutschlands, die Lausitz, den Spreewald, das Wendland, die Uckermark bis zum Ostseebad Warnemünde. Er begegnete Kriegsrelikten in der Raketen-Ausstellung in Peenemünde, lernte Neues über die Erdölförderung in der DDR oder begegnete mehrmals einer sich im Bau befindenden North-Stream-Leitung.
2020 hätte er diesen Weg via Flensburg und entlang der dänischen Grenze bis nach Sylt an der Nordsee fortsetzen wollen. Corona vereitelte diesen Plan.
Zackigen Schrittes marschiert Bruno Petrini zurück nach Frieswil. Er will nach Aspi, um sein «Reisezimmer» zu zeigen. Da sind duzende Kisten mit nach Ländern und Regionen geordneten Landkarten neben vielen Ordnern und Büchern. Zuunterst im Regal stehen zwölf blaue Bundesordner: Für jede Wanderung einen. Bruno Petrini sagt: «Ich bin optimistisch, dass dieses Jahr ein 13. dazukommt.»

Info:Die kursiven Stellen stammen aus Bruno Petrinis Buch.

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Das Buch und die Website
Bruno Petrini: «11670 Kilometer. Meine Fussreisen durch Europa, Edition Wanderwerk 2020.» Erhältlich via www.wanderwerk.ch
Ergänzende Informationen zum jeweiligen Tagesprogramm, zu den Übernachtungen, detailliertere Routenpläne sowie weitere Bilder gibt es auf
www.petrini.ch

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