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Chemotherapie

«Die erwischen mich nicht»

Jung und fit - und aus heiterem Himmel die Diagnose: Hodenkrebs. Doch der 32-jährige Seeländer Marco* lässt sich nicht unterkriegen. Das BT hat ihn im Spitalzentrum Biel besucht.

«Sterben ist für mich keine Option», sagt der 32-jährige Marco, der gerade mit einer Chemotherapie gegen Hodenkrebs kämpft. Bild: Matthias Käser

von Marcel Friedli

Lance Armstrong hat Ende der 90er-Jahre den Hodenkrebs überlebt - und überflügelte danach alle Gegner: Siebenmal in Serie gewann er die härteste Radtour der Welt. Gebannt verfolgte Marco die Triumphfahrten am TV, fasziniert las er «Tour des Lebens. Wie ich den Krebs besiegte und die Tour de France gewann». In diesem Bestseller beschreibt Lance Armstrong seine Geschichte, die Geschichte eines modernen Helden: Wie er sich, mit einem Bein quasi im Grab, in den Olymp des Radsporthimmels hievte. «Seinen eisernen Willen», sagt Marco, «habe ich immer bewundert, auch wenn ihm die Siege später wegen Dopings aberkannt wurden.»

Einen starken Willen hat auch Marco. Auch er ist Sportler. Er spielte Eishockey, schaffte es bis in die erste Liga. Hohe sportliche Ziele steckt sich der Hobbysportler immer noch: Er will den Bieler 100-Kilometer-Lauf schaffen.

Doch das Schicksal hat ihm vergangenen Februar denselben Strich durch die Rechnung gemacht wie seinem Idol Lance Armstrong: Bei einem der Trainings für den Mega-Lauf merkt er, dass sein linker Hoden angeschwollen ist - Tumor. Dieser wird vier Tage später wegoperiert; seither hat er noch einen Hoden. Die Hoffnung, damit sei alles vorbei, währt nur kurz, Marcos Ahnung bestätigt sich: mindestens zwei Ableger, und zwar in den Lymphknoten der linken Leiste. Er habe die Nachricht relativ nüchtern aufgenommen, sie habe keine Panik oder Krise in ihm ausgelöst, sagt er. «Zu fragen, warum es gerade mich trifft, ist sinn- und zwecklos. Ich habe wirklich nie mit dieser Diagnose gehadert. Es ist, wie es ist, und da muss ich nun durch.»

Möglichst fit einrücken

Darum ist Marco heute hier, in diesem Zweierzimmer der Onkologie im Spitalzentrum Biel. Der dritte Tag der ersten Woche (siehe Zweittext). Es ist knapp nach 8.30 Uhr, ein strahlender Tag, der vor Sommer sprüht. Auch Marco versprüht Lebensfreude, obwohl er lieber seiner Arbeit in einer Glaserei nachgehen würde. Seine positive Ausstrahlung wirkt echt, nicht aufgesetzt. Medikamente, die verhindern sollen, dass ihm wegen der Chemo schlecht wird, rieseln in seine Venen. Auch die Zeit rieselt dahin, indem er liest, sein Handy checkt, auf die Stadt hinunter blickt, Musik hört.

Den heftigen Medikamentencocktail scheint er bislang gut zu vertragen. «Ein-, zweimal war mir etwas schwindlig, sonst aber ist alles in Butter: Das Mittagessen auswärts mit einem Kollegen schmeckte mir, zu Hause habe ich Tennis geschaut. Und ich habe auch letzte Nacht gut geschlafen, ohne Albträume.»

Auch Schauergeschichten über Krebs, auf die er im Internet gestossen ist, können seinem Optimismus nichts anhaben, wie er sagt. «Ich kann Gelesenes von meiner eigenen Geschichte trennen.» Sowieso sei er nicht der Typ, der den Kopf hängen lasse. «Den Optimismus muss man mir zum Glück nicht aufdrängen, ich bin von meinem Charakter her ein sonniger Typ. Darum habe ich auch nach dem Befund weiter trainiert. Das ist das Einzige, das ich tun kann: möglichst fit einrücken, damit mein Körper der happigen Kur so gut wie möglich trotzen kann.»

Das Wort Krebs

Nicht alle in seinem Umfeld haben so nüchtern wie Marco auf die Hiobsbotschaft reagiert: Seine Frau, die auch beruflich mit Krebs zu tun hat, war geschockt; sofort erschienen Bilder von sterbenden Menschen vor ihrem geistigen Auge. «Jetzt hat sie den ersten Schock verdaut», so Marco. «Sie weiss, dass für diese Art von Krebs gute Chancen auf Heilung bestehen.»

Erschüttert war auch seine Mutter: Sie brach in Tränen aus; es war Marco, der sie tröstete. Sein Vater und seine Kollegen hingegen hätten gefasster auf den Befund reagiert. «Verwendet man das Wort Krebs sparsam und informiert man sachlich, reagieren die Leute weniger panisch.»

Seinen beiden Kindern, die drei und fünf Jahre alt sind, hat er erklärt, er erhalte im Spital Medikamente, damit er wieder ganz gesund werde. «Ich finde es wichtig, ihnen nichts vorzutäuschen, offen auf ihre Fragen zu antworten, sie aber auch nicht unnötig zu beunruhigen.»

Gift als Heilmittel

Mittlerweile ist 10 Uhr vorbei. Eine Pflegefachfrau montiert die Tüte mit dem Medikamentencocktail am Ständer. «Gift und Heilmittel zugleich», sagt Marco lakonisch. «Aber so werden die Tumorzellen ausgerottet. Die haben in meinem Körper nichts zu suchen - die erwischen mich nicht.» Er fühle sich wie in einem Cupspiel, als Favorit gegen einen deutlich schwächeren Gegner: «Man darf trotzdem nicht überheblich sein, muss die Leistung bringen. Aber dann fährt man den Sieg ins Trockene.»

Er ist überzeugt, wie Lance Armstrong den Krebs zu besiegen. «Sterben ist für mich keine Option.» Dazu ist er zu nahe am Leben.

Marco hat, wie der Radfahrer, ein grosses Ziel - und zwar den Hunderter: «Davor habe ich mehr Respekt als vor dieser Behandlung. Auch wenn ich natürlich nicht ausschliessen kann, dass es mir mal schlechter geht als jetzt.»

* Name der Redaktion bekannt.

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Heilbar, aber kein leichter Weg

Diagnose Krebs – und voller Lebensfreude? Marco entspricht nicht dem gängigen Bild, das man von jemandem hat, der eine Chemotherapie absolviert (vgl. Haupttext). «Krebs», sagt Markus Borner, Chefarzt Onkologie am Bieler Spitalzentrum, «ist überproportional mit Ängsten besetzt, ist eine Art Lepra der Neuzeit – obwohl er, häufiger als landläufig angenommen wird, gut behandel- oder sogar heilbar ist.»

Hodenkrebs zum Beispiel überlebe man mit fast hundertprozentiger Sicherheit. «Zwar werden starke Medikamente eingesetzt, die den Körper fordern. Aber Nebenwirkungen wie Übelkeit können meistens verhindert werden. Es ist kein leichter Weg – aber der Weg lohnt sich. Und die meisten Menschen kann man positiv darauf einstellen.»

Den ersten Zyklus hat Marco insgesamt recht gut überstanden. Obwohl er sich manchmal etwas müde fühlt, kann er wieder kurze Laufeinheiten und Radtouren absolvieren. Dieser erste Zyklus bedeutet Chemo in diesem Rhythmus: einmal fünf Tage hintereinander am Morgen und zweimal separat an einem Tag, dies innerhalb von drei Wochen. Nun folgen zwei weitere Zyklen zu je drei Wochen.

Pro Jahr erkranken in der Schweiz laut Krebsliga 390 Männer an Hodenkrebs; dies entspricht zwei Prozent der Krebsfälle. Es trifft oft junge Männer: In der Altersgruppe zwischen 20 und 40 ist er bei Männern der häufigste Krebs. Meist können Betroffene danach noch Kinder zeugen, da der gesunde Hoden genügend Spermien produziert. mf

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Krebs in Zahlen

- 2012 sind laut WHO 8,2 Millionen Menschen an Krebs gestorben und 14 Millionen Menschen daran erkrankt.

- In der Schweiz erhalten jedes Jahr rund 38 000 Menschen eine Krebs-Diagnose (Durchschnitt 2007 bis 2011).

- Etwa jede dritte Erkrankung könnte mit einem gesunden Lebenswandel verhindert werden.

- Was man selber tun kann: sich ausgewogen ernähren, genügend bewegen, nicht rauchen.

- Krebs entsteht aus einer einzigen Zelle, die sich schrittweise zu einem Tumor entwickelt. mf

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