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China

Die harte Hand des Regimes: Uiguren fürchten um die Familie in der Heimat

In Peking messen sich bald die Sportlerinnen und Sportler, und in Xinjiang verschwinden Angehörige des uigurischen Volkes. Zwei, die aus China in die Schweiz kamen und sich in Studen niederliessen, wollen nicht mehr schweigen.

Dass sie mehr als 20 Jahre in der Schweiz leben werden, war nicht der Plan von Gulnar Mamtimin und Abduxukur Abdurixit. Bild: Beat Mathys

Lea Stuber

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Ungewollt sass Gulnar Mamtimin 2006 in einem Hotelzimmer in Kuqa, in der Stadt in der autonomen chinesischen Provinz Xinjiang, in der sie aufgewachsen war.

Wie viele Uiguren leben in der Schweiz? Mit wem haben Sie in der Schweiz Kontakt? Wie viel verdient Ihr Mann?

Über zwei Stunden stellte ein Polizist Frage um Frage, ein anderer notierte die Antworten. 2002, bei ihrem ersten Besuch in Xinjiang, gab es keine Kontrollen, hatte sie keine Probleme.

«Ich beantwortete jede Frage, doch ich hatte Angst», sagt Gulnar Mamtimin heute. Sie, 52 Jahre alt, sitzt im Wohnzimmer ihres Hauses in Studen, auf der Autobahn A6 zwischen Biel und Lyss rauschen die Autos vorbei.

Die Polizisten fragten nach der Telefonnummer ihres Mannes, riefen ihn direkt aus dem Hotelzimmer und danach mehrmals an.

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«Danach sagten wir: Das ist nicht mehr normal, so können wir nicht zurückkehren», sagt Abduxukur Abdurixit, 51 Jahre alt. Er kam 1997 in die Schweiz, doktorierte an der Uni Basel in Materialwissenschaft. Seine Frau folgte ihm 2000 mit ihrem ersten Kind.

In Xinjiang, 40-mal grösser als die Schweiz und geprägt von Wüsten und Bergen, leben mehr als 25 Millionen Menschen, das sind nicht einmal zwei Prozent der chinesischen Bevölkerung. Davon gehören zehn Millionen zu der muslimischen Minderheit der Uigurinnen und Uiguren.

Die westlichste Provinz des Landes, früher Ostturkestan, gehört seit 1949 zur Volksrepublik China, sie grenzt an die Mongolei, Kasachstan oder auch an Afghanistan. Dass Mamtimin und Abdurixit, zwei von geschätzt 140 Uigurinnen und Uiguren in der Schweiz, eines Tages nach Xinjiang zurückkehren würden, war für sie klar. Sein Plan: im Ausland Erfahrung sammeln, um in Urumqi, der Hauptstadt von Xinjiang, Professor zu werden.

Jahre später, Anfang 2022, sitzen sie immer noch in ihrem Wohnzimmer in Studen und zeigen Fotos von seinem Bruder und ihrer Mutter, von Tanten, Cousins und Freunden, die verschwunden sind, in einem Lager oder im Gefängnis sitzen und von denen sie seit Jahren nichts gehört haben.

 

Aufwachsen in Xinjiang

Früher sei Kuqa eine grüne Oase gewesen, sagt Gulnar Mamtimin. Sie trugen Wasser von den Bächen nach Hause, pflückten im Garten der Grossmutter Trauben, Aprikosen und Feigen. In der Schule hatte sie gute Noten, sie wäre gern Ärztin geworden. Doch als sie sich 1988 für die Uni einschrieb, wurde sie nicht fürs Medizinstudium zugelassen.

Die meisten Studienplätze waren für Han-Chinesinnen reserviert. So studierte Mamtimin in Urumqi Ingenieurwissenschaften, lernte mit anderen Uigurinnen ein Jahr lang Mandarin. Denn ausser Geschichte und Politik wurden alle Fächer in dieser Sprache unterrichtet. Nach ihrem Abschluss sagten viele Arbeitgeber: Wir nehmen nur Han-Chinesen. Schliesslich fand Mamtimin einen Job als Technikerin bei Xinjiang TV.

1996 ging Abdurixit für das Masterstudium in theoretischer Physik nach Italien. Dort, in Triest, trat er einer chinesischen Studierendenorganisation bei. Wie er als Uigure es bis nach Italien geschafft habe, fragten ihn die Doktoranden und Professoren, alles Han-Chinesen, immer wieder. In Xinjiang sei die Ausbildung doch nicht so gut. Alle Uiguren, hörte Abdurixit, seien Barbaren. «Es war das Resultat von 30, 40 Jahren Verteufelungskampagne der chinesischen Staatsmedien gegen Uigurinnen», sagt er. «Bereits da begann mein innerer Protest gegen die chinesische Regierung und die Kommunistische Partei.»

Nach dem Abschluss in Italien reiste Abdurixit über Peking in die Heimat. Vor seinem Weiterflug am nächsten Morgen wollte er am Flughafen übernachten. Doch kein Hotel gab ihm ein Zimmer. Würde wegen eines Uiguren etwas Schlimmes passieren, so die Anweisung der Polizei, wäre das Hotel verantwortlich. «Die Zweiklassengesellschaft», sagt er, «spüren alle, die nicht Han-Chinesen sind. Überall.»

 

Die Besuche in der Heimat

2009, inzwischen lebten Mamtimin und Abdurixit mit ihren Kindern seit mehreren Jahren in der Schweiz, besuchten ihre Eltern sie. Bleibt doch hier, wegen der Probleme, bat Mamtimin. Ihre Eltern wollten nicht. In Xinjiang hätten sie ihre Pensionskasse und ihre Wohnung, da seien die meisten Verwandten und kennten sie die Sprache.

Mit den «Problemen» meinte Mamtimin: 2009 gingen in Urumqi Uigurinnen und Uiguren auf die Strassen – in einer Fabrik in der Provinz Guangdong hatten Han-Chinesen zwei uigurische Arbeiter getötet. Die Polizei reagierte streng, Hunderte Menschen wurden getötet, verletzt oder verhaftet. Daraufhin verschärfte die Kommunistische Partei ihre Kontrolle in der Region.

Die folgenden zwei Jahre hatten Mamtimin und Abdurixit fast keinen Kontakt mehr mit ihren Verwandten in Xinjiang – die Telefonleitungen waren unterbrochen. «Und dann wurde es wieder besser, die Regierung versuchte, die Wogen zu glätten», sagt er. Fast jeden Tag telefonierte Mamtimin wieder mit ihrer Mutter. «So fühlte ich mich fast, als wäre ich in der Heimat», sagt sie.

2011 erhielten Gulnar Mamtimin und Abduxukur Abdurixit den Schweizer Pass. So besuchten sie Xinjiang – zum ersten Mal seit 2006 und dem Verhör im Hotelzimmer – 2012 wieder. Vor der Abreise kontaktierten sie das EDA, das Departement für auswärtige Angelegenheiten. Sie wurden angewiesen, sich bei der Schweizer Botschaft zu melden, falls sie mehr als vier Stunden in Gewahrsam genommen würden. «Der Schweizer Pass», sagt sie, «gab uns Sicherheit.»

Schon am ersten Tag nach der Ankunft besuchte die Polizei sie. «Sehr höflich» wurden sie von Sicherheitskräften gefragt, warum sie nach Xinjiang gekommen seien, was sie in der Schweiz machten, ob sie in Kontakt mit Separatistenorganisationen seien. In den eineinhalb Monaten in Xinjiang seien ihnen immer Sicherheitskräfte gefolgt, ohne allerdings zu intervenieren.

2014, beim vierten und für Abdurixit letzten Besuch in Xinjiang, wollte ihm sein Onkel etwas zeigen. Mit dem Auto fuhren sie aus Kuqa heraus in die Wüste. Auf einmal tauchte eine riesige Baustelle auf, umzäunt und mit Wachleuten an den Eingängen. Ein neues Gefängnis werde das, habe der Onkel gehört. Warum braucht eine kleine Stadt ein so grosses Gefängnis? «Mir wurde klar: Die chinesische Regierung hat irgendetwas vor», sagt Abdurixit. Als Mamtimin 2015 allein in Xinjiang war, sah sie an fast jeder Strassenecke eine Polizeistation, Polizisten marschierten mit Waffen durch die Strassen. Sogar in den Taxis waren Überwachungskameras und Mikrofone installiert. Überall, wo sie hinging, musste sie ihre ID zeigen und sich registrieren lassen.

In der Nacht machten bewaffnete Soldaten Hausbesuche, einmal auch bei Abdurixits Bruder. Die Gebetsteppiche und den Koran hatten sie vorsorglich bereits entsorgt, uigurische Romane und Liederbücher auch. Die Kinder von Verwandten besuchten chinesische und nicht mehr uigurische Schulen. «Das war nicht mehr die Stadt, die ich von meiner Kindheit kannte», sagt Mamtimin.

Mehr und mehr hörten sie von willkürlichen Verhaftungen. Wegen des Tragens eines T-Shirts mit «falschem» Muster, etwa Mondsichel und Stern auf blauem Grund – wie die Flagge Ostturkestans. Oder wegen des Verschickens religiöser Aussagen per Smartphone. Auch Abdurixits Bruder wurde 2015 verhaftet und kam für zehn Jahre ins Gefängnis. Der Grund: Er habe mit Freunden ein Fest gefeiert, ab und zu mit ihnen gebetet.

 

Immer weniger Kontakt

Auch 2017 hätte Mamtimin ihre Mutter in den Sommerferien in Xinjiang besuchen wollen. Doch eine befreundete Familie, die bei ihrem Besuch in Urumqi Probleme bekam, riet ihr davon ab. Auch der Bruder und der Neffe eines Freundes, der in Europa lebt, wurden in ein Lager gebracht, nachdem er sie in Xinjiang besucht hatte, das erzählte er ihnen. Besuche im Ausland oder Kontakte zu Uigurinnen, die im Ausland leben, konnten zu einem Grund für eine Verhaftung werden.

In dieser Zeit blockierten sie Tanten, Onkel, Brüder, Cousinen auf Wechat, dem bekanntesten chinesischen Chat-Dienst, und brachen den Kontakt ab.

Mit ihrer Mutter hat Mamtimin 2018, am 27. April, zum letzten Mal telefoniert; ihr Vater ist inzwischen gestorben. Bei einem der letzten Gespräche sagte die Mutter, dass seit einigen Tagen drei Leute von der Gemeinde bei ihnen essen und schlafen würden. Dass Kader von lokalen Parteifunktionären, Han-Chinesen, als «neue Verwandte» in uigurischen Haushalten vorbeikamen und mit ihnen lebten, war Teil eines Programms der Regierung.

Seit Oktober 2021 haben sie gar keine Infos mehr aus Xinjiang, auch nicht von anderen Verwandten. Ihre Mutter könnte in ein Lager gebracht werden, wenn sie einen Anruf aus dem Ausland erhält, fürchtet Mamtimin. «So gern möchte ich wissen, wie es ihr geht und wie sie lebt.»

In Xinjiang seien die Bewegungs- und die Reisefreiheit der Uigurinnen sowie die Kommunikation mit Verwandten, die im Ausland lebten, «rechtmässig gewährleistet». Dies schreibt die chinesische Botschaft in der Schweiz. «In der Vergangenheit haben Uiguren, die im Ausland leben, ab und zu behauptet, dass Verwandte und Freunde in Xinjiang verschwunden oder nicht zu erreichen seien. Nach einer Überprüfung stellte sich aber heraus, dass manche dieser ‹verschwundenen› oder ‹unerreichbaren› Leute in China ein ganz normales Leben führen.» «Dank Augenzeugen, die aus Lagern freigekommen sind, haben wir erfahren, wie schwer die Gräueltaten sind», sagt Abdurixit.

 

Die «China Cables»

Im November 2019 veröffentlichten westliche Medien die «China Cables». Diese belegen, dass die muslimische Minderheit in Xinjiang systematisch verfolgt, unterdrückt, in Lagern umerzogen und für Arbeit ausgebeutet wird. Mehr als eine Million Uiguren sollen von den Menschenrechtsverletzungen betroffen sein.

Endlich, dachten Mamtimin und Abdurixit, war in der Öffentlichkeit, was sie mit ihrer Familie in Xinjiang seit Jahren direkt miterlebten.

Doch da ist auch eine Enttäuschung. Darüber, dass seither nicht mehr passiert ist. 43 Länder, darunter Deutschland, die USA oder Kanada, aber nicht die Schweiz, verurteilten die Menschenrechtsverletzungen Chinas in der Region Xinjiang. Die EU verhängte Sanktionen gegen China. Jüngst hat Frankreichs Parlament die Situation der Uigurinnen als Genozid verurteilt, zuvor taten dies bereits die USA, Grossbritannien, die Niederlande oder Tschechien.

Von einem Whistleblower erhielten Menschenrechtsforscher, Journalistinnen und uigurische Organisationen eine Liste mit den Namen von fast 30 000 Inhaftierten. Mamtimin und Abdurixit suchten den Namen seines Bruders. Sie fanden ihn nicht, dafür den Namen einer früheren Arbeitskollegin von ihr. «Wo sie genau ist – in einem Lager oder in einem Gefängnis –, wissen wir nicht», sagt Mamtimin.

Im Dezember berichteten 30 Augenzeuginnen vor einem unabhängigen Tribunal in London von den Zuständen in den Internierungslagern in Xinjiang. Abdurixit übersetzte dafür Videos. Die Menschen erzählten von sexuellem Missbrauch, von Zwangssterilisation, von unmenschlichen Situationen in den Gefängniszellen und von Folter. «Wie soll ich das nur übersetzen?», habe er sich gefragt. Das Tribunal ist zum Schluss gekommen: China begeht gegen die Uiguren in Xinjiang einen Genozid.

Die chinesische Botschaft in der Schweiz schreibt: «In Xinjiang existieren keine sogenannten ‹Lager›, geschweige denn ‹Internierungslager› oder gar ‹KZ›. Eine Zeit lang wurden Ausbildungszentren errichtet, mit dem Ziel, Menschen aller ethnischen Gruppen dabei zu helfen, in die Arbeitswelt einzusteigen und ihr Einkommen zu erhöhen.» Momentan gebe es in Xinjiang keine Ausbildungszentren.

Während der Wintersession sprach Abdurixit als Präsident des Vereins Justice for Uyghurs mit Mitgliedern der Aussenpolitischen Kommission von National- und Ständerat. Er forderte, dass das Schweizer Parlament die Situation in Xinjiang als Genozid anerkennt, dass der Bundesrat das Freihandelsabkommen mit China neu verhandelt und dass er die Olympischen Winterspiele in Peking boykottiert. «Mit grossen Hoffnungen ging ich ins Bundeshaus und kam deprimiert zurück.»

Nun verzichtet der Bundesrat tatsächlich auf die Teilnahme an den Olympischen Spielen. Als Grund dafür wird allerdings die Coronapandemie angegeben. Länder wie die USA, Japan oder Dänemark geben als Grund für ihr Fernbleiben die Menschenrechtslage an.

Einmal habe ihm sein Bruder einen Brief geschrieben, sagt Abduxukur Abdurixit. «Wahrscheinlich von oben angeordnet – er schilderte seine Situation im Gefängnis so, als sei er in einem Fünfsternhotel.» Er baue, schrieb der Bruder, in einer Fabrik Ladegeräte für Smartphones. «Wenn ich seither mein Telefon lade, denke ich an ihn.»

Mamtimin, die in einem Altersheim arbeitet, sagt: «Wenn ich jemanden pflege, hoffe ich, dass auch jemand schaut, dass es meiner Mutter gut geht.»

Haben die beiden keine Angst, ihre Familie in Xinjiang in Gefahr zu bringen, wenn sie öffentlich darüber reden? Ob sie Angst habe, spiele keine Rolle, sagt Gulnar Mamtimin. Schlimmer könne es nicht werden.

Stichwörter: Studen, China, Peking, Regime, Politik

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