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Büren

Die Internierten sollten die Finger von den Schweizerinnen lassen

Heute jährt sich die Ausgabe des «Orange-Befehls» zum 75. Mal. Er verbot den internierten Soldaten anderer Staaten und den einheimischen Frauen, miteinander anzubändeln und zu heiraten. Gemeint waren insbesondere die Polen, die in grosser Zahl da waren und mit ihrer Art bei den Schweizerinnen gut ankamen. Viele waren einige Zeit im «Concentrationslager Büren» untergebracht.

Polnische Soldaten im Internierungslager bei Büren, dessen offizieller Name «Concentrationslager» lautete. Auf bis zu 6000 Personen ausgelegt, war es das grösste Flüchtlingslager, dass es in der Schweiz je gegeben hat. mémreg

Beat Kuhn

Der grosse Anteil an jungen Männern unter den aktuellen Flüchtlingen weckt Ängste. Zum Beispiel in Erlach, wo der Kanton eine entsprechende Umnutzung der Zivilschutzanlage plant. Die örtliche SVP bekundet Mühe mit der Vorstellung, dass «100 junge männliche Asylsuchende aus verschiedenen Ländern und fremden Kulturen auf unsere im Sommer zahlreichen einheimischen und auswärtigen weiblichen Badegäste treffen» (das BT berichtete).

Befehl gegen die Liebe

Im Zweiten Weltkrieg hatte die Schweizer Armeeführung ihrerseits ein Problem mit den vielen polnischen Soldaten, die im Land interniert waren. Sie setzte alles daran, Liebesbeziehungen zwischen ihnen und Schweizerinnen zu verhindern. Diese Bemühungen kulminierten im sogenannten «Orange-Befehl», der am 1. November 1941, also heute vor 75 Jahren, ausgegeben wurde (siehe Infobox).

Dieser auf orangem Papier gedruckte Befehl verbot internierten Männern und einheimischen Frauen die nähere Kontaktnahme und enthielt auch ein explizites Heiratsverbot. Er galt für sämtliche Nationalitäten, zielte aber klar auf die Polen, die damals das Gros der Internierten bildeten und mit ihrer Art gut ankamen beim weiblichen Teil der Bevölkerung.

42'000 Soldasten in einer Nacht

Die Vorgeschichte dieses Befehls beginnt in der Nacht vom 19. auf den 20. Juni 1940. Damals überschritten im Jura rund 42 000 Soldaten des 45. französischen Armeekorps mit Erlaubnis des Bundesrates die Schweizer Grenze. Dazu gehörten auch etwa 12 000 Soldaten der 2. polnischen Schützendivision unter General Bronislaw Prugar-Ketling. Diese war Teil der polnischen Exilarmee unter französischer Führung, die nach dem Sieg Nazi-Deutschlands über Polen an anderen Fronten weiterkämpfte.

Die Lage des 45. Armeekorps war verzweifelt gewesen: Es war von der deutschen Wehrmacht, die am 10. Mai 1940 Frankreich und die Benelux-Staaten überfallen hatte, eingekesselt worden und hatte nur noch wenig Munition gehabt. Nach dem Angriff vom 10. Mai hatte man auch in der Schweiz den deutschen Angriff erwartet. Aus dieser Befürchtung heraus vermied die Schweiz damals in besonderem Masse, was Hitler hätte provozieren können.

Frauen erregten Unmut der Armee

Mit ihrer Bereitschaft zur Aufnahme der Soldaten entsprach die Schweiz dem Haager Abkommen im Rahmen des Völkerrechts. Zu diesem Abkommen gehörte auch die anschliessende Internierung. Ende Juni waren die Soldaten provisorisch auf die Räume Seeland, Napf und Berner Oberland verteilt, wo sie etwa in Scheunen oder Schulhäusern untergebracht wurden. Die Einheimischen nahmen die Polen im Allgemeinen bereitwillig auf und versorgten sie nach Möglichkeit auch mit Schokolade, Früchten und Tabak.

Diese offenen Sympathiebekundungen der Bevölkerung waren der Armeespitze ein Dorn im Auge. So monierte Brigadier Roger Masson, Chef des militärischen Nachrichtendienstes, in einer Meldung an General Guisan, dass dieses Verhalten der Neutralität der Schweiz widerspreche. Zitat: «In Biel und Neuenburg spielten sich geradezu widerliche Szenen ab, die eine korrekte Zurückhaltung namentlich der weiblichen Bevölkerung empfindlich vermissen liessen!»

Ein Lager für bis zu 6000 Mann

Die Franzosen konnten nach acht Monaten, im Februar 1941, in ihre Heimat zurückkehren. Jene 87 000 Mann der französischen Bourbaki-Armee, denen während des deutsch-französischen Krieges 1870/71 der Grenzübertritt in die Schweiz gewährt worden war, hatten sogar schon nach sechs Wochen heimkehren können. Die Polen dagegen konnten nicht nach Hause, für sie musste eine längerfristige Lösung gesucht werden. Das zunächst gewählte Konzept sah vor, die Internierten in einigen wenigen Lagern unterzubringen und zu isolieren. Das grösste sollte in Büren realisiert werden.

Anfang Juli teilte die Armeeführung dem Gemeinderat von Büren mit, dass sie in der Nähe des Städtchens ein Lager für bis zu 6000 Mann errichten wolle. Das entsprach etwa dem Dreifachen der Einwohnerzahl Bürens. Im Gebiet «Häftli» zwischen dem Nidau-Büren-Kanal und der Schlaufe der alten Aare wurde ein Barackendorf erstellt. Diesem war in Oberbüren ein Spital für rund 240 Patienten angegliedert. Bis heute ist es das grösste Flüchtlingslager, dass es in der Schweiz je gegeben hat.

Kontakt mit Internierten überwacht

Für den Standort «Häftli» sprachen zwei Gründe: Erstens sollten die Internierten ursprünglich bei der Korrektion des grossen Aarebogens bei Leuzigen eingesetzt werden. Diese Absicht wurde allerdings fallengelassen, weil der Kanton Solothurn das Projekt nicht weiterverfolgte. Zweitens sahen es die Behörden als Vorzug des «Häftli» an, dass der Weg zwischen Städtchen und Lager und damit auch der Kontakt zwischen Internierten und Bevölkerung gut kontrollierbar war.

Am 26. Dezember 1940 wurde das Internierungslager in Betrieb genommen. Dessen offizielle Bezeichnung war «Concentrationslager Büren». Mit diesem Namen sollte zum Ausdruck gebracht werden, dass dort Internierte in «konzentrierter» Form, also in grosser Zahl, untergebracht seien. Weil die Nazis diesen Begriff auch für ihre Vernichtungslager wählten, verwenden die Bürener aber lieber den Begriff «Polenlager».

Spannungen bis hin zu Schüssen

Die «konzentrierte» Art der Unterbringung auf so engem Raum erwies sich jedoch als psychologisch schlecht. Zwar war es eine Vorgabe des Völkerrechts, Internierte an der Flucht zu hindern, damit sie nicht wieder an Kampfhandlungen teilnehmen konnten – was zahlreichen Polen dann trotzdem gelingen sollte. Doch wurde diese Bestimmung in Büren besonders rigide umgesetzt: Mit einer Stacheldrahtumzäunung, einem Wachturm und nachts einem Suchscheinwerfer wirkte das Lager wie ein Gefängnis. Zudem behandelten die Offiziere die durchaus an militärische Disziplin gewohnten Polen zum Teil extrem hart. Es kam es immer wieder zu Zwischenfällen, und einmal eröffneten die Wachen sogar das Feuer – zwei Internierte wurden verwundet.

So wurde bereits 1941 zu einer dezentralen Variante gewechselt, sprich die Internierten wurden auf Gemeinden im ganzen Land verteilt. Das Lager Büren blieb jedoch bestehen und nahm ab da Flüchtlinge aus verschiedenen Ländern auf, unter anderem auch Juden. Heute ist das «Häftli» ein Naturschutzgebiet, und nur eine halbzerfallene Baracke erinnert noch an jene Zeit.

Auch punkto Arbeitseinsätzen kam es zu einer Änderung. Nach einem anfangs völligen Arbeitsverbot waren den Polen zunächst kurze Einsätze auf freiwilliger Basis zugestanden worden. Nun wurden alle verpflichtet, obligatorische Einsätze zu leisten, zum Beipiel auf Bauernhöfen (siehe «Nachgefragt»). Aber nicht nur: Bis Kriegsende wurden von polnischen Internierten schweizweit rund 100 Brücken erbaut oder repariert, 500 Kilometer Strassen neu oder umgebaut – unter anderem die Sustenpassstrasse –, über 1300 Hektaren Wald gerodet sowie 1000 Hektaren Brachland urbar gemacht. Zudem wurden im Bergbau rund 90 000 Tonnen Material abgebaut.

Die Polen kommen unters Volk

Durch den Wechsel zur dezentralen Strategie kamen die Polen natürlich verstärkt mit der Bevölkerung in Berührung - auch mit dessen weiblichem Teil. Allerdings waren auch schon Hunderte von Frauen mit dem Velo nach Büren gefahren, um mit den gut aussehenden jungen Männern in Kontakt zu kommen. Das Aussehen war indessen bei Weitem nicht der einzige Grund dafür, dass die Polen beim weiblichen Geschlecht gut ankamen.

So ist von Frauen überliefert: «Sie sind halt so viel galanter als unsere Schweizer Männer.» Oder: «Meistens wurden wir mit Handkuss begrüsst.» Die Polen verbanden beste Umgangsformen wie das Aufhalten der Tür mit Charme und waren «sehr einfühlend». Doch, so eine andere Frau: «Nie habe ich erlebt, dass sie auf etwas drängten, was wir nicht wollten».

316 Ehen, 369 uneheliche Kinder

Trotz dem «Orange-Befehl» heirateten bis Oktober 1945 dann aber 316 Schweizerinnen einen polnischen Internierten. Und 369 von diesen wurden bis Mai 1946 Väter von unehelichen Kindern. Dies sind die gemeldeten und erfassten Fälle. Es wird jedoch von einer grösseren Dunkelziffer ausgegangen.

Mit der Abreise von General Prugar-Ketling und seinem Stab am 15. Dezember 1945 endete formell die Internierung der 2. polnischen Schützendivision. Rund 1000 Soldaten sollten aber über das Ende des Krieges hinaus in der Schweiz bleiben.

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«Mein Vater hat nicht viel erzählt»

Er hat keinen typischen Seeländer Namen: Hans-Rudolf Witkowski, ehemaliger Gemeindepräsident von Dotzigen, ist der Sohn eines im Lager Büren internierten polnischen Soldaten und einer Seeländerin.

Hans-Rudolf Witkowski, welches ist Ihr Geburtsdatum?

Hans-Rudolf Witkowski: Der 20. April 1950.

Da war Ihr Vater längst nicht mehr im Polenlager interniert.

Das ist so. Mein ältester Bruder ist allerdings 1942 geboren.

Wie haben sich Ihre Eltern denn kennengelernt?

Quasi auf dem Heustock (lacht)! Mein Vater war dazu abkommandiert, auf dem Hof meines Grossvaters mütterlicherseits im nahegelegenen Ottiswil mitzuhelfen. Das war damals eine eigene Gemeinde, heute ist es ein Weiler von Suberg-Grossaffoltern.

Was wissen Sie über Ihren Vater?

Wenig, er hat nicht viel erzählt. Ich weiss nur, dass er aus der Nähe von Krakau stammte. Als er nach Büren kam, war er erst knapp 20 Jahre alt.

Haben Sie nicht nachgefragt?

Nein, es hat mich ehrlich gesagt gar nicht interessiert. Das erste Mal in Polen war ich mit meiner Frau vor zwei Monaten mit einer Carreise. Ich wüsste nicht einmal, von wo genau mein Vater stammte.

Aber Männer, die im Krieg waren, erzählen doch in der Regel viel darüber. Hat er allenfalls Schlimmes erlebt?

Das könnte sein, aber wie gesagt, er hat kaum etwas aus dem Krieg erzählt, auch nicht aus der Zeit im Interniertenlager.

Was hat er nach dem Krieg gemacht?

Er hat auf dem Bau gearbeitet und führte nebenbei einen kleinen Bauernbetrieb. Meine Mutter hatte einen Spezereiladen, wie man Lebensmittelläden seinerzeit nannte.

Ihr Vater ist also sehr jung in die Schweiz gekommen. Wie sehr hat er sich assimiliert?

Er sprach gebrochen schweizerdeutsch und konnte relativ gut französisch – möglicherweise aus der Militärzeit in Frankreich. Polnisch hat er nie gesprochen mit uns, darum kann ich kein einziges Wort. Seinen Vornamen Franciszek hat er eingedeutscht zu Franz.

Hat er die polnische Staatsbürgerschaft behalten?

In der Schweiz war er staatenlos – und ist 1973 auch als Staatenloser gestorben. Meine Mutter blieb nach der Heirat Schweizerin. Meine beiden Brüder, meine Schwester und ich wären wie der Vater staatenlos gewesen, wurden aber gleich nach der Geburt «eingekauft» und sind Schweizer Bürger.

Hatten Ihre Eltern Probleme, als sie ihre Liebesbeziehung eingingen?

Ja, mein Vater war nicht willkommen im Dorf. Die jungen Bauern sahen das aus Eifersucht nicht gerne.

Werden Sie selbst manchmal auf Ihren erkennbar slawischen Nachnamen angesprochen?

Ja, das kommt vor.

In Dotzigen waren Sie sechs Jahre Gemeinderat und zehn Jahre Gemeindepräsident, 2011 sind Sie zurückgetreten. Wurden Sie davor nie gefragt, ob Sie auch im Herzen Schweizer sind?

Nein. Ich bin seit 1983 in Dotzigen, man kannte mich also längst und wusste, wie ich denke. Ich habe mich immer durch und durch als Seeländer gefühlt.

Sie sind der Sohn eines Ausländers, der sein Land wegen eines Krieges verlassen musste. Hat das Einfluss auf Ihre Einstellung zu Flüchtlingen?

Nein, da bin ich ganz auf der Linie meiner Partei, der SVP. Interview: bk

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