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Erster Weltkrieg

Die letzte Linie vor Bern

Hätten die Franzosen die Schweiz angegriffen, wäre das Land am Jolimont verteidigt worden. Darum baute die Armee während des Krieges dort eine der grössten Festungsanlagen der Schweiz. Vor 100 Jahren begannen die Arbeiten.

Ein Infanteriebunker beim Werk Fanel an der Zihl: Er sollte den Soldaten Schutz bieten. Schweizerisches Bundesarchiv/wikimedia

Fabian Maienfisch
Der Plan war so simpel wie genial. Und er hätte einen möglichen Ausweg aus der festgefahrenen Situation an der Front im Elsass bedeutet. Dort bekämpften sich seit Sommer 1914 die Armeen der Französischen Republik und des Deutschen Kaiserreichs in einem Stellungskrieg. Der französische Plan «Helvétie» sah darum vor, über den Jura durch Neuenburg und das Seeland in Richtung deutsche Grenze vorzustossen, um so dem Feind in den Rücken zu fallen. Zum Jahreswechsel 1915/16 wurden die Planungen der Franzosen konkret, Truppen wurden bereitgestellt und die Schweiz wurde ausspioniert. «Die militärische Bedrohung der Schweiz während dieser Zeit war real», sagt der Bieler Historiker Juri Jaquemet.
Die Schweizer Militärs wussten bereits sehr früh um die Bedeutung der Engstelle zwischen Neuenburger- und Bielersee – die ersten Schutzbauten an der Zihl datieren auf das Jahr 1903. Der Befehl der Armeeführung 1914 war denn auch eindeutig: die Bundesstadt um jeden Preis verteidigen und der eigenen Armee Handlungsspielraum für eine mögliche Gegenoffensive verschaffen.
Vor 100 Jahren, Anfang August 1914, begannen die Ausbauarbeiten an der Fortifikation Murten. Auch im Abschnitt 1, rund um den Jolimont und der Zihl entlang, wurden in Folge Bunker, Schützengräben und Artilleriestellungen aus dem Boden gestampft. Hier wäre die Schweiz bei einem Angriff der Franzosen verteidigt worden.

«Den Tschingg machen»
An die 16 000 Soldaten waren zu Beginn mit den Arbeiten am Schützengrabensystem im Gebiet Seeland-Murten-Jura beschäftigt. Obschon sich die Menschen jener Zeit harte Arbeit gewohnt waren, kam es bei der Truppe zu Unmut. «Den Tschingg machen», nannten die Männer ihre Bautätigkeit abschätzend, so Jaquemet, der diverse Texte zur Fortifikation Murten verfasst hat. Der Begriff kam daher, dass die Schweizer Wirtschaft kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs mehrheitlich Italiener im Baugewerbe beschäftigte. Für die Schweizer Soldaten eine unwürdige Aufgabe. Bei den Offizieren stiess diese Kritik jedoch auf wenig Verständnis. Zehn bis zwölf Stunden Arbeit pro Tag sei nicht zu viel verlangt, zumal die Truppe ja gut ernährt werde, war etwa der Kommandant der Fortifikation, Oberst Heinrich Bolli, überzeugt.
Also wurde bis zum Kriegsende betoniert, gegraben, geschaufelt und gehämmert. Die Kosten für die gesamten Festungsanlagen schätzt Jaquemet nach heutigem Wert auf 100 bis 200 Millionen Franken. Für dieses Geld wurde einiges gebaut: In der ersten Phase, ab August 1914, entstanden die Stellungen direkt an der Zihl. Die zweite Bauphase begann mit dem Jahr 1915 und dauerte bis in den Herbst desselben Jahres. Dabei wurde hauptsächlich Bestehendes ausgebaut. Die dritte Ausbauphase dauerte schliesslich vom Herbst 1915 bis Ende 1916.

Platz für über 3400 Soldaten
Im Abschnitt Jolimont-Zihl wurde in dieser Zeit intensiv gearbeitet. Am Waldrand des Jolimont wurden unterirdische Stellungen mit Schiessscharten in das Gestein gebaut. Diese verfügten über Ausgänge, die einige Meter hinter dem Wald lagen. Davor verliefen Stacheldrahthindernisse. An der Waldkante, über den Stellungen im Fels, befanden sich Schützennester. Etwas hinter dem Waldrand befanden sich weitere ein bis zwei Linien mit Schützengräben.
Die vierte Ausbauphase umfasste den Zeitraum von 1917 bis zum Kriegsende. Am Ende war die Verteidigungslinie tief gestaffelt: Es gab Werke direkt an der Zihl, dann vor Gals, auf dem Jolimont und schliesslich bei Tschugg.
Über 360 Unterstände wurden in der Region Gals, Tschugg und Erlach erstellt. Sie boten Platz für eine Besatzung von etwa 3400 Soldaten. Hinzu kamen 21 Geschützstände für 8,4 Zentimeter Kanonen, vier Artilleriebatterien für 12 Zentimeter Geschütze und 74 befestigte Maschinengewehrstände. Einiges davon ist noch heute sichtbar.

Eine abschreckende Wirkung
Warum diese Festungsanlage nicht Fortifikation Seeland genannt wurde, sondern Murten, lasse sich relativ einfach erklären, sagt Jaquemet: In der Nähe der Sperrstellungen befinde sich das historische Städtchen Murten. Dort haben die Eidgenossen im Jahr 1476 das burgundische Heer von Karl dem Kühnen geschlagen. Eine Anspielung also.
Doch dieses Mal kamen die Franzosen nicht. Der Plan «Helvétie» wurde obsolet, weil der deutsche Vorstoss auf Verdun im Jahr 1916 und der Entscheid der Franzosen, sich an der Offensive an der Somme zu beteiligen, die Prioritäten veränderte. So konnte der Truppenbestand der Fortifikation Murten bis zum Ende des Krieges kontinuierlich auf 400 Mann verringert werden.
Nie beantwortet werden musste die Frage, ob das Bollwerk die Franzosen auch hätte aufhalten können. «Das ist schwierig einzuschätzen», sagt Jaquemet. Man wisse heute aus französischen Quellen, dass die Festungsbauten durchaus eine abschreckende Wirkung gehabt haben. «Der Durchmarsch wäre den Franzosen sicher erschwert worden», glaubt der Historiker. Doch die Schweizer wären dem Feind technisch unterlegen gewesen: Geldmangel und andere militärische Prioritäten hatte eine schlechte Ausrüstung zur Folge, wie eine veraltete Artillerie. Zudem gab es zu wenige Kanonen um alle Stellungen zu bestücken. Stahlhelme und Gasmasken wurden erst gegen Kriegsende an die Soldaten ausgegeben.
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurden grosse Teile der Fortifikation zurückgebaut. Fast gerieten die Anlagen danach in Vergessenheit. Bis sie viele Jahre später für einen noch grösseren Krieg wieder reaktiviert wurden.

Die Ruinen vom Jolimont
Oberhalb der Klinik Bethesda bei Tschugg führt ein Feldweg auf den Jolimont. Zu Fuss geht es rund 30 Minuten in den Wald hinein, bis sich dem Betrachter am nördlichen Waldrand des Hügels die ersten Schützengräben öffnen. Überbleibsel der Fortifikation Murten. Zwar wurden sie nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zugeschüttet und der Natur überlassen. Doch mit etwas Vorstellungskraft kann man sich den Graben noch immer vorstellen. Er war s-förmig gebaut worden, damit bei einem Granattreffer nicht alle Soldaten getötet worden wären – eine Trennwand zwischen den einzelnen Abteilen sollte das verhindern.
Am westlichen Ausläufer des Jolimonts, beim Galsberg, befindet sich ein gut erhaltener Infanterie-Bunker. Die Schiessscharten des Baus sind gegen die Zihl gerichtet, ebenso die betonierten Schützengräben mit Brustwehr. Heute gehört dieser Bunker einem privaten Verein, der sich für dessen Erhalt einsetzt und Führungen anbietet.
Am Fusse des Jolimonts liegt Gals. Nördlich des Dorfes das Niederhölzli. Hier stand die zweite Verteidigungslinie nach der Zihl. Bestückt war sie mit Maschinengewehrbunkern und Schützengräben. Letztere sind nur noch ansatzweise sichtbar. Einige Bunker aus armiertem Beton hingegen sind gut erhalten – und teilweise begehbar. Wer in die 100-jährigen Zeitzeugen hinabsteigen will, braucht gutes Schuhwerk und eine Taschenlampe. Im Inneren sind einige Anlagen sehr gut erhalten; man erkennt die Stellungen für die Infanteristen, Nischen für Munition sowie einen Beobachtungsposten mit Blick bis zum Jura. Alle Anlagen waren zwischen 1914 und 1918 erbaut worden. Im Zweiten Weltkrieg wurden einige von ihnen wieder in Betrieb genommen. Allerdings mussten sie verbessert werden, da die Waffentechnik enorme Fortschritte gemacht hatte.

Quelle: Jaquemet, Juri, «Die Fortifikation Murten im Ersten Weltkrieg – ein befestigter Röstigraben?», in: Berner Zeitschrift für Geschichte, 2/14.

Kommentare

mstuedel

Anzufügen gibt es dazu noch die Festung auf dem Mont Vully: Das in den Sandstein gehauene Stollensystem mit den Maschinengewehrscharten ist eindrücklich und ein lohnenswertes Tagesausflugsziel. Siehe z.B. hier: https://www.youtube.com/watch?v=cjUhs80ZNhM


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